PARIS „I PURITANI“ konzertant, Théâtre des Champs-Elysées, 16.11.2012
Olga Peretyatko und Dmitry Korchak geben vielversprechende Kostproben ihres Talents
Das TCE bietet den Melomanen eine herzerfrischende Aufführung der schönsten aller Bellini-Opern. Auf jeden Fall eine jener Darbietungen, wo der Opernbesucher nach manchem Bangen glücklicher und zufriedener den Konzertsaal verlässt, als wenn er weiß, die Sache ist geritzt.
Dmitry Korchak. Foto: Homepage Korchak
Mit der teuflischen Tenor-Partie des Lord Arturo ist es so, als ob ein Seiltänzer ohne Netz bei starkem Sturm die Niagara Fälle überquert. Man wagt kaum hinzusehen oder besser hinzuhören bei manchen wahnwitzig exponierten Stellen des feurigen Amante der Elvira. Man möchte die Hände in den Samt der Sitzlehnen bohren voller Spannung, ob das gut gehen kann. Dieses Bangen hat sich allerdings gelohnt: Die Opernwelt darf sich mit Dmitry Korchak über einen neuen lyrischen Tenor à la Alfredo Kraus freuen. Ein Kunststück, wie der junge Russe auch stilistisch die heiklen Belkanto-Kantilenen meistert. Stratosphärische Spitzentöne hat er alle wie geschmiert, was wiederum den Zuhörer in eine Art von Höhenrausch versetzt. Bravo dem neuen Wunderknaben, der in Paris jüngst schon das Publikum in Les Pêcheurs de perles an der Opéra Comique im Sturm genommen hat und auf den sich die Wiener Operngemeinde in Eugène Onegin und La Cenerentola freuen darf. Ein bisschen wird er an der Technik allerdings noch feilen müssen, manche Vokale kommen zu offen daher und weniger Druck täte manchmal wohl. Aber da Korchak über ein fabelhaftes Stimmmaterial verfügt und gegen Ende sich mit nahezu halsbrecherischem Mut in Schlussduett und -Ensemble stürzt, fällt das bei dieser Aufführung nicht so sehr ins Gewicht. Langfristig ist Vorsicht geboten.
Olga Peretyatko. Foto: Uwe Arens
Ein etwas anderer Fall ist die schon mit der Solo-CD „La bellezza del canto“ im musikalischen Rampenlicht stehende Olga Peretyatko. Kein Bühnentier wie Korchak, vergräbt diese St. Petersburger Schönheit aus Tausend und einer Nacht anfänglich den Blick ein wenig unbeholfen und ängstlich in die Partitur. Warum auswendig lernen so ein Problem sein muss? Auch wenn Peretyatko vokal manches Mal vorsichtig, aber immer differenziert agiert, hatte das Pariser Publikum das Privileg, einem der vielversprechendsten Operntalente der jungen Generation lauschen zu dürfen. Und was es da alles zu entdecken gibt: glasklare Läufe und Fiorituren wie am Schnürchen, eine obere goldene Mittellage, lupenreine Intonation, einen in der Anlage vielmehr lyrischen als Koloratursopran mit dramatischem Potential (vom Timbre her an der Gabelung zwischen Edita Gruberova und Lucia Popp) und als dessen bester Zeuge eine jetzt schon ansehnliche Tiefe! Man höre nur ihre Aufnahme der vier letzten Lieder auf Youtube an, die mir wesentlich besser gefällt als diejenige der notorisch zu tief singenden Harteros. Elegische Kantabilität, poetisch-pathetisches Schmachten, die vokale Rhetorik in ciaro-obscuro Schattierungen, die ewige Melodie des in seiner Sensibilität an Chopin gemahnenden Komponisten sind bei Peretyatko in besten Händen. Noch auf der Versprechensseite: Der kostbare Sopran ist an einigen Stellen nicht ganz homogen geführt, die Piani und mezza voce tragen manchmal noch nicht optimal, Wort(deutlichkeit) und Musik könnten einander besser durchdringen (bitte eine Stunde bei Renata Scotto nehmen!). Im Auftritt äußerst sympathisch, gelangt dennoch so viel stimmlicher unverwechselbarer Juwelenglanz an das Opernohr, dass bald alle großen Vorbilder in dieser Rolle der zwischen Wahnsinn und Liebeseuphorie schwankenden Elvira wenn schon nicht vergessen, aber im Moment nicht mehr wichtig sind.
Der Vater Elviras, Sir Giorgio Walton wird vom italienischen Bass Michele Pertusi stimmschön und anrührend interpretiert. Pertusi, der als einziger die Rolle so gut kennen dürfte, dass er nicht dauern in der Partitur „pickt“ (solche die Kommunikation zum Publikum störende Behelfe sollten außer für Einspringer in letzter Minute auch in konzertanten Aufführungen strikt verboten sein), ist auch ein vorbildlicher Gestalter von Klangemotionen. Die Farbpalette der Klangrede ist enorm. Allerdings würde ein bisschen weniger Schleppen manchen Ensembles mehr Einheit geben. Das Pariser Publikum scheint ihn jedenfalls zu mögen, wie die Zustimmung beim Schlussapplaus zeigt.
Dagegen ist es vollkommen unverständlich, dass Pietro Spagnoli als Sir Riccardo Forth am Ende mit einem hartnäckigen Buhrufer konfrontiert ist. Und das in Paris, wo diese vulgäre Unsitte ohnedies keine „Tradition“ hat. Sicherlich fehlt seinem Bariton ein wenig das Bellini-Samt, weshalb er in Rossini-Rollen am besten aufgehoben scheint. Aber Spagnoli ist ein Belkantist von Gnaden. In technischer Hinsicht kann dem Römer, der als Sechsjähriger schon in der Sixtinischen Kapelle gesungen hat, so schnell keiner das Wasser reichen. Die Wissenden im Pariser Publikum haben es ihm jedenfalls mit Begeisterung gedankt.
In kleineren Rollen reüssieren als gut getimte Stichwortgeber Rame Lahaj als Sir Bruno Robertson, Daniela Pini als Enrichetta di Francia und Ugo Guagliardo als Lord Gualtiero Walton.
Die Gesamtaufführung profitiert in nicht unwesentlichem Ausmaß von der Energie und Stilsicherheit des piemontesischen Maestro Evelino Pidò. Für mich ist Pidò derzeit unangefochtener Weltmeister in diesem heiklen Repertoire. Sein Gespür für Tempi, Rubati, Accelerandi und dramatischen Spannungsaufbau sind untrüglich. Eine kleine Falle stellt ihm die gefährliche Akustik des TCE. Manchmal überdecken die hervorragenden, mit Lust und Verve agierenden Kräfte des Orchesters und Chors der Opéra de Lyon die tapferen Solisten. Aber ansonsten herrscht Opernglück an diesem Opernabend. Ein weiteres schönes Geschenk des Geburtstagskindes Théâtre des Champs Elysées aus Anlass seines hundertsten Bestehens an das treue Publikum.
P.S.: Schon einen Generation lang keine Puritani mehr: Das letzte Mal gab es I Puritani in Paris in den 80-er Jahren mit der fantastischen, unglaublichen, völlig zu Unrecht vergessenen Michèle Lagrange (bitte YouTube konsultieren!) alternierend mit June Anderson und als Einspringerin Mariella Devia an der Opéra Comique.
Dr. Ingobert Waltenberger