PARIS: „BELSHAZZAR“ Salle Pleyel, 18.12.2012
Les Arts Florissants unter Maestro William Christie versetzen Paris ins Händel-Fieber
William Christie. Foto: Julien Mignot
Ab heute wird in 3-tägiger Session im Studio auf Tonträger gebannt, was gestern in konzertanter Version und life im France Musique wohl so manchen Musikfreund in der zugluftigen Salle Pleyel in hitzige Begeisterung versetzt hat. Wer im Publikum noch keinen Schnupfen oder grippales Fieber hatte, war nach der wunderbaren Aufführung von Händels wohl anspruchsvollster Oratorien-Partitur unrettbar mit dem wohl nicht ganz so gefährlichen Händel-Virus infiziert. Vor allem die feenhafte walisische Barockdiva Rosemary Joshua als Nitocris und der bullige britische Tenor Allan Clayton als kühn die Götter fordernder Belshazzar flochten gemeinsam mit dem Chor umjubelt im Zaubergarten Händelscher Musik-Blüten einen gar exzentrischen wundersam duftenden Strauß.
1744 in nur zwei Monaten für das King‘s Theater komponiert, erzählt das visionäre Werk die biblische Geschichte aus dem fünften Kapitel des Buches Daniel unter Einbeziehung nichtbiblischer Texte bis zur Eroberung Babylons durch die Perser. Fünf Versionen des bunten Librettos von Charles Jennens hatte Händel erarbeitet. Zur höheren Glorie Gottes, der wechselnden Interpreten und der Musikfreunde aller Zonen und Epochen.
William Christie hat mit glücklicher Hand eine Sängerschar vereint, die die kontemplativ-lyrisch bis spektakulären Szenen akustisch zu höchst imaginativem Leben erwecken. Und davon gibt es nicht wenige: die Schlachten um die Mauern Babylons, das orgiastische Fest Sesach, die wundersame Erscheinung einer göttlichen Hand, die auf eine Mauer Mene, Tekel, Upharsin (gezählt, gewogen, geteilt) schreibt, die Austrocknung des Euphrat oder das tödliche Duell zwischen Cyrus und Belshazzar. Der pietätlose und gewalttätige Belshazzer wird von Allan Clayton klanglich und dramaturgisch mit kräftigem Pinsel gezeichnet. Der technisch perfekte, klanglich etwas trockene, aber expressive Tenor packt den musikalischen Stier bei den Hörnern. Ein perfektes Exempel einer Interpretation, die zeigt, wie opernhaft theatralisch Händels und perfekt auf das englische Idiom zugeschnitten Oratorien Partituren aus dieser Zeit (höre auch Semele oder Hercules) sind. Das zeigt auch die Partie des tugendhaften Cyrus, der nach dem Sieg über Belshazzar nicht nur die Juden befreit, sondern ihnen verspricht, sie nach Jerusalem zurückzuführen und die zerstörte Stadt und den Tempel wieder zu errichten. Was dem höhenlastigen Mezzo der Australierin Caitlin Hulcup ein wenig an Tiefe und ausladender Saftigkeit in der Mittellage fehlt, macht sie durch musikalische Finesse und Beseeltheit des Vortrags wieder wett. Eine exzellente Teamplayerin, noch kein solitär leuchtender Stern. Dem Propheten Daniel leiht der Countertenor Iestyn Davies seine kupfern runde Mittellage. Die Höhe und manche Läufe sind durch eine kleine Indisposition ein wenig beeinträchtigt. Dennoch eine sehr gute Leistung. Gobrias, der rächende Vater und assyrischer Adeliger wird vom imposanten neuseeländischen Bassbariton Jonathan Lemalu mit beachtlicher Tiefe und guter Diktion gesungen. Die meckernden Koloraturen hätte ich ihm als Dirigent allerdings nicht durchgehen lassen. Ungetrübte Freude und akustische Wonne bereitet dem Zuhörer die seit Jahrzehnten erfolgreiche britische Händel-Queen Rosemary Joshua in der Rolle der Nitocris, der Mutter Belshazzars. Die prophetische, pathetische und heroische Figur spinnt wie eine Norn die brillanten und seidenen Fäden des dichten Seelengewebes der Partitur. Höhepunkt ist das Schlussduett mit Cyrus, der sie zuletzt wie seine eigene Mutter ehrt. Großartig, berührend, künstlerisch vollendet! Joshuas zwar nicht kräftig timbrierter, aber geläufiger lyrischer Sopran rührt zum Träumen, in sich Versenken, zum Weinen. Eine Händelsche Erda, Kundry, Hekuba. Gott sei Dank auf CD bewahrt und demnächst erhältlich. Denn die derzeitige Diskographie von Händels Meisterwerk ist bis auf die zwanzig Jahre alte Aufnahme unter Trevor Pinnock mit Arleen Auger alles andere als berauschend.
Ein besonderer Chapeau gilt dem ungewohnt gemischt aufgestellten Chor von Les Arts Florissants und den ausdrücklich zu erwähnenden ausgezeichneten Chorsolisten Thibault Lenaerts, Michel-Loughlin Smith, Damian Witheley und Geoffey Buffière. Als Babylonier, Juden oder Soldaten des Cyrus obliegen der fabelhaften Formation monorhythmischer und monumentaler Gesang, Fugen, geteilte und Doppelchöre in aller Differenziertheit. Rhythmus und Intonation, Ausdruck und Homogenität, nichts lässt den geringsten Wunsch offen. Bravo. Das gilt auch für das Orchester, dessen langjähriger Chef und Spiritus Rektor William Christie den ganzen Riesen-Ozeandampfer des Händelschen Universums behutsam durch alle Stürme, Untiefen und kräuselnden Wellen der sonnenbeschienenen Salzwasser führt.
Ingobert Waltenberger