Copyright: Agathe Poupeney/ Opera de Paris
Paris: Opéra National de Paris: „BORIS GODUNOW“, 09.07.2018
Ein großartiges Herrscherportrait durch Alexander Tsymbalyuk
Die letzte Premiere der Saison 2017/2018 an der Opéra National de Paris war Modest Mussorgskys BORIS GODUNOW in der Urfassung von 1869 (Premiere am 07.06. mit Ildar Abdrazakov in der Titelpartie, Vorstellungen bis 12.07.) Regisseur Ivo van Hove und sein Bühnenbildner Jan Versweyveld lassen die Handlung auf fast leerer Bühne spielen. Nur eine große mit rotem Teppich ausgelegte Treppe führt von der hinteren Bühnenwand nach vorne. Der Raum davor ist wahlweise Versammlungsort des Volkes, Wohngemach des Zaren, Duma oder Gasthaus. Auf die hintere Wand werden Videos projiziert, die die Handlung illustrieren, verschiedene russische Landschaften zeigen oder die wachsamen Augen des Zaren, der sein Volk unablässig beobachtet. Diese bewegten Bilder sind zwar interessant, lenken den Zuschauer aber auch leicht vom Bühnengeschehen ab, so dass man sich zuweilen zwingen musste, auf die Sänger zu achten, die allesamt auch noch in ziemlich schmuckloser Alltagskleidung oder, wie der Zar und die Bojaren, im dunklen Büroanzug daherkommen (Kostüme: An d’Huys). Dabei lohnte es sich an diesem Abend sehr, sich auf die Protagonisten zu konzentrieren, waren doch in allen Solopartien sehr gute Sängerdarsteller zu sehen und zu hören. In der Urfassung von Boris Godunow können sich vor allem die tiefen Männerstimmen optimal präsentieren. Evgeny Nikitin sang die kleine, aber prägnante Rolle des Warlaam mit kraftvoller, frei strömender Stimme. Sein trotz sehr schnellem Tempo virtuos und schmissig vorgetragenes Lied „Hört, was einst in der Stadt Kasan geschehen“ war ein erster Höhepunkt des Abends. Der Pimen von Ain Anger strahlte sehr viel Würde und Autorität aus. Seine große Szene im dritten Bild und seine Erzählung in der letzten Szene gestaltete er mit klangvoller Stimme, sehr schönem Legato und großer Ausdruckskraft. Boris Pinkhasovich beeindruckte als Schtschelkalow mit seinem klaren, mühelos über das Orchester tragenden Bariton. Der Schuijski ist eine Paraderolle von Maxim Paster. Er spielte den vordergründig loyalen, aber eigentlich intriganten, systematisch auf den Sturz des Zaren hinarbeitenden Bojaren sehr überzeugend. Sein heller, durchsetzungsfähiger Tenor passte ebenfalls sehr gut zu dieser Rolle. So zeigte jeder Sänger der tragenden Rollen eine gelungene Interpretation seiner Partie und war Teil einer homogenen Ensembleleistung. Sie alle wurden jedoch überstrahlt von der Persönlichkeit des Zaren in der Gestalt von Alexander Tsymbalyuk. Trotz der schlichten äußeren Ausstattung ist er von der ersten Sekunde seines Auftretens an der Herrscher, der mit großer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft danach strebt, seiner übermächtigen Aufgabe gerecht zu werden, der aber letztlich an ihr und an seinem Gewissen scheitert. Sein Spiel ist so wahrhaftig, dass man als Zuschauer jede seiner Emotionen mitempfinden kann, den Respekt vor der schweren Aufgabe, das Aufbegehren gegen die Feindseligkeit des Volkes und des Adels, die Liebe zu seinen Kindern, den Stolz auf seinen Sohn, den Thronfolger, seine Gewissensqualen, seine inständige Bitte an Gott, seine Familie zu beschützen und das Annehmen des Tods als Strafe und Erlösung zugleich. Das alles drückt Alexander Tsymbalyuk nicht nur schauspielerisch aus, sondern auch mit seiner individuellen, glanzvollen und farbenreichen Stimme, die zu den schönsten Bassstimmen der Gegenwart gehört. Allein durch das Hören werden einem schon alle Gefühle des Zaren nahegebracht. Seine ideale russische Diktion bringt die ganze Schönheit der Sprache zum Klingen. Das Orchestre de l’Opéra national de Paris unter Damiano Iorio spielte Mussorgskys Musik sehr lyrisch. Die schroffen und kantigen Passagen der Partitur kamen dagegen nicht voll zur Geltung. Hier wäre etwas mehr Ausgewogenheit schöner gewesen. Auch von den Choers de L’Opéra national de Paris hätte man sich manchmal etwas mehr Wucht erwartet, die leiseren, fließenden Chorpassagen gelangen aber sehr schön. Die kleineren Solopartien sangen allesamt auf sehr hohem Niveau, so beispielsweise Dimitry Golovnin als Grigori Otrepiev, Elena Manistina als Schenkwiritn, Vasiliy Efimov als Gottesnarr, Ruzan Mantashyan als Xenia, Evdokia Malevskaya als Fiodor oder Alexandra Durseneva als Amme. Am Ende begeisterter und lang anhaltender Applaus für alle Mitwirkenden, vor allem aber für Alexander Tsymbalyuk.
Gisela Schmöger