PARIS Johann Christian Bach « AMADIS DE GAULE » Opéra Comique 6. Jänner 2012
Hélène Giulmette als Oriane. Foto: Pierre Grosbois/Opéra Comique
Anachronistische Träumerei: Amadis ist eine nostalgische Beschwörung von Heroismus und Abenteuer – „Le calme succède à l’orage, l’amour veille sur les amants.“
Unglaublich: Ein einziger der Bach-Söhne schreibt Opern und das klingt im Falle des Amadis nach Figaro und Idomeneo, aber auch nach französischen barocken Meisterwerken, sodass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Amadis wurde tatsächlich komponiert, bevor Mozart seine berühmten Opern geschrieben hat. Also ist die Ouvertüre des Amadis eine Vorwegnahme von sehr viel Schönem, was wir von Mozart kennen und lieben gelernt haben. Amadeus hat seinen Amadis gekannt, darf der Zuhörer annehmen und dankbar sein, eine der Quellen der Vollendung dieses genialen Schöpfers in J.C. Bachs Amadis gefunden zu haben. Das Werk selbst steht an der Schnittstelle des Spätbarock zur Klassik, ist aber auch Referenz an die tragédies lyriques Rameaus und Lullys. Dramaturgisch eher schwach, von Handlungsballetten zerstückelt, und doch voll der „herrlichsten“ Musik.
1778 als Auftragswerk der Pariser Oper entstanden, ist Amadis echtes Zeugnis der europäischen Aufklärung. Das Libretto Philippe Quinaults diente seinerseits 1684 der Vertonung des Stoffs durch Lully als Vorlage, mit Prolog und in fünf Akten, wo die Fee Urgande das ganze Spektakel dem Ruhm des Sonnenkönigs empfahl. Leider hat der Direktor der Académie royale de musique seinem Bruder Devismes de Saint Alphonse die Überarbeitung anvertraut. Ergebnis: Geschrumpft auf 3 Akte, wird ein Großteil der Gefühle der Protagonisten dem Ballett überantwortet. Die in Anwesenheit der Königin Marie-Antoinette stattfindende Uraufführung ist ein totaler Durchfall im Kampf der „Gluckisten und Piccinisten“( Anmerkung: Es ging vor allem um die Frage der Erneuerung der Oper eher durch das Drama oder eher durch die Vokalkunst). Nach sieben Aufführungen verschwand das Werk im Orkus der Operngeschichte. J.C. Bach, der jüngste Sohn J.S. Bachs stirbt zwei Jahre später.
Finale, 3. Akt. Foto: Pierre Grosbois, Opéra Comique
Die Ausgangskonstellation der Oper: Ein „böses“ Geschwisterpaar, die Zauberin Arcabonne und der Zauberer Arcalaüs wollen den durch Amadis verursachten Tod ihres Bruders Ardan rächen. Nicht einfacher wird die Sache dadurch, dass Amadis gleichzeitig auch Retter Arcabonnes ist. Aber weil Rache so süß ist, beschließen sie, in ihr Rachewerk auch die Geliebte des Amadis, die Prinzessin Oriane, einzubeziehen. Das Werk stellt so ein barockes Paar (Arcabonne und Arcalaüs) mit all ihren widersprüchlichen Passionen einem präromantischen Paar (Oriane und Amadis) in den Fängen ihrer Zweifel (vergleichbar Werther) gegenüber. Nach vielen Intrigen und barocken Wendungen rettet die Fee Urgande in einer barocken Apotheose das Liebespaar und restituiert Amadis in seiner Rolle als Paladin: Kampf dieses christlichen „Don Quichotte“ gegen die Ungerechtigkeit und für die Freiheit.
Die musikalische Leitung des Amadis ist beim Dirigenten Jeremy Rhorer in routinierten Händen, der mit viel Verve und Impetus, aber leider einem bestenfalls zweitrangigen Klangkörper (Le Cercle de l‘Harmonie) die wertvolle Partitur animiert. Entdeckt durch eine Einspielung Helmut Rillings aus dem Jahr 1995 interessiert Rhorer vor allem hörbar der Bezug zu Mozarts Idomeneo. Die zweite Arie der Oriane im 3. Akt ist denn auch musikalische Keimzelle der Elettra im Idomeneo. „Wenn Mozart gesagt hat, dass er mit Idomeneo eine eher französische Oper schreiben wolle, so hatte er sicherlich Bachs Amadis im Kopf“, ist Jeremy Rhorer überzeugt. Zu den Sängern: Amadis wird vom Tenor Philippe Do mit dunkel timbrierter, aber für dieses Fach zu schwerer Stimme über weite Strecken partiturdeckend interpretiert. In den Höhen und Läufen gelangt der Sänger merklich an seine Grenzen. Seiner Geliebte Oriane leiht die Kanadierin Hélène Guilmette ihren wunderbar lyrischen Sopran. Wilder wird es, wenn die Hasstiraden der Zauberin Arcabonne (Allyson McHardy -dramatischer Mezzo) und ihres Magier-Bruders Arcalaüs (von Franco Pomponi ein wenig grob Testosteron-geladen über die Rampe geschleudert) überzeugende Interpreten finden. Julie Fuchs singt die Fee Urgande als feminine Kampfansage an Hass und Aggression mit satiniert lyrischem Sopran. Eine wichtige Rolle in der Oper Amadis kommt den Handlungs-Balletten zu, die von Nathalie van Parys phantasiereich komödiantisch zwischen Pantomime und klassischem Tanz, barocker Burleske und erzählenden Elementen historisch exakt und doch zeitgemäß choreographiert werden. Was man von der steifen Inszenierung des Comédie Francaise-Schauspielers Marcel Bozonnet nicht behaupten kann. In antikisierenden Prospekten, Kulissen und Pappmachéfelsen (Bühnenbild Antoine Fontaine) wird verstaubtes Rampentheater geboten. Der Regisseur hat sich, was das Spiel der Sänger betrifft, an den überlieferten Darstellungen des englischen Schauspielers David Garrick inspiriert. Diderot und die Theoretiker der Aufklärung waren dessen erklärte Bewunderer. Jedenfalls bleibt der Regisseur in seinem ersten Opernversuch in einer oberflächlichen theatralischen Geste stecken, die barock und romantisch gleichzeitig sein will. Die mäßig einfallsreichen Stadttheaterkostüme von Renato Bianchi wirbeln auch keinen optischen Staub auf. Fazit: Mit solchen Mitteln kann kein glaubwürdiges Revival gelingen. Johann Christian Bach wird daher weiterhin marginalisiert auf seinen genialen Erwecker warten müssen. Das akademische Interesse dazu wäre jedenfalls vorhanden. Und ein begeistertes französisches Publikum, das sich zu freuen wähnt, wieder einen Beweis zu haben, dass wenigstens auf kulturellem Gebiet die Grande Nation noch existiert.
Dr. Ingobert Waltenberger