Paris „RIGOLETTO“ Opéra de Bastille 18.2.2012
Foto: Chr. Leiber/ Opéra de Paris
„Langeweile und Grausamkeit liegen in der Luft Mantuas. Die Stadt fault und stinkt nach Tod, aber noch mehr nach Sünde, wenn nicht sogar Verbrechen.“ Andrè Suarèz
In diese Stimmung findet sich das werte Publikum trefflich versetzt in der Regiearbeit des poetischen Zirkus- und Theatermachers Jérôme Savary. Monumentale rissige, brüchige grauweiße Ruinen als einer romantischen antikischen Vision nachempfundene Bühnenbilder des Michel Lebois und die praktikablen schönen Renaissancekostüme des Jacques Schmidt geben den stimmigen Rahmen für das brutale Drama um den ausschweifenden Herzog von Mantua, den zynischen Hofnarren Rigoletto und dessen in Liebe den Tod wählenden Tochter Gilda. Auch 16 Jahre nach der Premiere hat dieser Inszenierungsklassiker nichts von seiner Strahlkraft und eindringlichen Erzählqualität eingebüßt. Er reiht sich damit bestens etwa in Arbeiten wie Tosca von Margarita Wallmann oder La Boheme von Franco Zeffirelli.
Dem Applaus nach zu schließen, war nicht nur mein Opernglück nahezu perfekt, denn eine bessere Besetzung der Hauptpartien, als sie derzeit in Paris aufgeboten wird, ist nicht vorstellbar: In der Titelrolle brilliert der serbische Bariton Zeljko Lucic. Sein buckliger Hofnarr ist nicht grotesk und noch weniger Clown, sondern ein berechnender Machtmensch im herzoglichen Palast, der gnadenlos die Mithöflinge erniedrigt, um sie besser den erotischen Ränken seines Herrn zu unterwerfen. Groß und mit männlicher Kraft knechtet und verspottet dieser grauenvolle Diener in gnadenloser Prügelhierarchie die Opfer der höfischen Eskapaden. Dieser Rigoletto ähnelt à priori mehr Alberich und Jago als einem mitleiderregenden Vater. Auch musikalisch nimmt sein Auftritt schon den Otello vorweg. Lucic singt seine Rolle, die ihn demnächst auch an die Scala führen wird, mit dramatischem höhensicherem Bariton klang- und ausdrucksvoll. In blinder Rache und egoistischer Vaterliebe wird er zum Hauptschuldigen am Tod seiner eigenen Tochter, deren überbordende realitätsferne Leidenschaft für den herzoglichen Halodri vor allem durch das väterliche Wegsperren vom Leben verständlich wird. Gilda, deren beinahe sentahafte Aufopferung einem fatalen Befreiungsschlag aus doppelter Aussichtslosigkeit gleicht, wird vom georgischen Sopran Nino Machaidze herausragend gesungen und erschütternd dargestellt. Die zunächst als eine Art Netrebko zwei ins Business geschleuderte Künstlerin hat längst ihr eigenes Profil entwickelt und ist nicht weniger als ein belkantistisches Ausdruckswunder. Ein wenig im positiven Sinne an Renata Scotto erinnernd, gelingt Machaidze mit ihrer wundervollen, angenehm herben etwas in der Höhe spitzen (nicht scharfen!) Stimme, Worte und Musik so in Einklang zu bringen, dass der Entwicklungsfuror der Verdischen Partitur und die komplexe Hugosche Theaterfigur zu einem kathartischen Opernerlebnis verschmelzen. Alles ist intensiver Ausdruck im fest gezurrten Schicksalsknoten, die musikalisch perfekt geführte Stimme dient in jeder Sekunde dem Musikdrama. Großartig, besser kann man Gilda nicht interpretieren. Das gilt auch für den Herzog von Piotr Beczala. Auf dem absoluten Höhepunkt der technischen und musikalischen Möglichkeiten angelangt, gelingt es dem Tenorwunder Beczala, den oberflächlichen Draufgänger und Weiberhelden samt den ihm von Verdi zugedachten Arien und Duetten so unwiderstehlich kulinarisch zu servieren, dass das Verdiherz im siebenten Himmel schlägt. Die Leichtigkeit und das unglaubliche Ebenmaß des Singens dieses damit quasi Großherzogs der Oper geht einher mit einer fesselnden darstellerischen Präsenz. Die Rolle des „Don Giovanni aus Mantua“ passt dem Sänger in der jetzigen Phase der künstlerischen und stimmlichen Entwicklung wie der sprichwörtliche Strumpf. Die Opernwelt der großen unverwechselbaren Rigoletto-Herzöge wie Schock, Gedda, Alfredo Kraus oder Pavarotti ist ab sofort um einen hellen Stern reicher. Ausdrücklich hervorheben möchte ich den Sparafucile des russischen Basses Dimitry Ivashchenko. Der fesche junge Sänger, dessen internationale Karriere erst in der Saison 2009/2010 so richtig durchgestartet ist, darf zu den ganz großen Talenten unter der neuen Generation der „universellen“ Bässe gezählt werden. Die dunkle, graphitene Tiefe und das Edeltimbre à la Nicolai Ghiaurov getoppt mit einer heldische Höhe lassen ihn auch für Wagner-Rollen prädestiniert erscheinen, wie auch sein Terminkalender belegt. Hunding, Gurnemanz und Pogner zählen ebenso zu seinen aktuellen Engagements wie Escamillo, Banquo, Sarastro (Theater an der Wien) oder das Bass-Solo im Verdi-Requiem.
Eine Modellaufführung also in jeder Hinsicht? Leider nein. Und wieder einmal ist es ein höchst mittelmäßiger Kapellmeister, der für ein zu viel an Erdenrest sorgt. Der Mailänder „Maestro“ Daniele Callegari mag ja ein freundlicher Sängerbegleiter sein, denen er allesamt ihre Freiheiten lässt und geduldig die Fermaten hält. Auch an den dramatischen Szenen ist nichts auszusetzen, die ja bekanntlich am einfachsten zu bewältigen sind. Aber wo es lyrisch wird, wo eine Idee an Übergang (nicht Stillstand und Wiederanfang), an Bindung oder magischem Fluidum zu zaubern wäre, nichts als banales Stückwerk und Notenschusterei. Ebenso verhält es sich mit so mancher Comprimario-Rolle. Etwa der arg und vulgär scheppernden Maddalena namens Laura Brioli oder dem stimmlich zu schwachbrüstigen Simone del Savio als Graf Monterone. Cornelia Oncioiu als Giovanna, Florian Sempey als Marullo, Vincent Delhoume als Matteo Borsa, Alexandre Duhamel als Graf Ceprano geben ihre Stichworte zum bösen Spiel der Rache und Entführung ebenso präzise ab wie der Chor, einstudiert von Alessandro di Stefano.
Letztendlich aber hat sich der König – das Publikum – amüsiert. Und beim Rezensenten die die glückliche Erkenntnis eingestellt, dass es sie noch gibt, die Verdi-Stimmen im mittleren Fach, technisch brilliant, ausdrucksstark und klanglich unverwechselbar. Fazit: Es gibt, Wagner beseite, keine (arge) Krise des Gesangs. Aber einen evidenten Mangel an erstklassigen Dirigenten oder inspirierten Opern-Kapellmeistern, die den Verdischen Kosmos in aller Differenziertheit, Drama und Komik, rhythmischer Präzision und lyrischem Zauber, komplexen Ensembles und wilden Strettas klanglich erblühen lassen können. Und das Publikum so zu fesseln und zu betören vermögen. Wie das an dieser Stelle schon öfter reklamiert wurde.
Dr. Ingobert Waltenberger