
Ana Durlovski (Lucia), Dariusz Perczak (Enrico), Pavel Petrov (Edgardo) Foto: Copyright W. Kmetitsch
Lucia – zum total hilflosen Opfer degradiert
Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti in der OPER GRAZ
6. Vorstellung in dieser Neuinszenierung Mittwoch, 10. April 2019
Von Manfred A. Schmid
An der Auslegung des Seelenzustands von Donizettis Titelheldin scheiden sich die Regie-Geister. Auf der einen, traditionellen und vorherrschenden Seite, wird Lucia ein allmähliches und schließlich rapides Abgleiten in die „Hysterie“ attestiert. Im 19. und an der Wende zum 20. Jahrhundert verstand man unter Hysterie einen fast ausschließlich Frauen betreffenden, neurotischen Zustand. Das entscheidende Kriterium für diese „Diagnose“ ist Lucias koloraturengesättigter Auftritt im 3. Akt. Für die Verfechter der Hysteriker-These zeigt die groß angelegte, von ausschweifenden Gedankengängen und Phantasien von einer glücklichen Zukunft an der Seite ihres Geliebten Edgardo beherrschte Arie im 3. Akt alle Symptome einer geistigen Verwirrtheit. Und so wird das dann gewöhnlich auch inszeniert: Lucia irrt, ganz Opfer geworden und von der Realität enthoben, verloren durch die Gänge und sinniert in atemberaubenden Koloraturpassagen vor sich hin. Eine „Wahnsinnsarie“ par excellence, unterstrichen noch dazu durch den eigentümlich Klang der begleitenden Glasharmonika – wie aus einer anderen Welt.
Auf der anderen, feministisch grundierten Seite, bricht Luicia im 3. Akt aus der Opferrolle aus. Sie rafft sich, nach all ihren von der dominierenden Männerwelt erduldeten Demütigungen und Kränkungen, dazu auf, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen und sich zu wehren. Noch in der Brautnacht tötet sie den ihr von ihrem Bruder aufgezwungenen Ehemann Arturo. Dadurch hätte sie – so die Überzeugung der Verfechter dieser Lesart – einen ersten Schritt zu ihrer Befreiung und zu ihrem Glück getan. Ihre große Arie ist dann allerdings alles andere als eine „Wahnsinnsarie“, sondern vielmehr ein geradezu euphorischer Triumphgesang.
Die Regisseurin Verena Stoiber tendiert in ihrer Interpretation klar zur Hysterie-Fraktion, denn sie verlegt in ihrer Grazer Inszenierung, deren Premiere am 23. März für allgemeine Erregung und heftige Buhrufe (für die Regie) gesorgt hat, die ganze Handlung gleich in eine „Irrenanstalt“, wie man derartige Institutionen damals zu bezeichnen pflegte. Lucias Bruder Enrico ist dort Chefarzt und agiert in seinem „Operationstheater“ wie einst der berühmt-berüchtigte Nervenarzt Jean-Martin Charcot, der junge Patientinnen in seinen Vorlesungen als Fallbeispiele für Hysterie vorführte und damit sensationsgeile Gäste aus ganz Europa begeisterte. Lucia ist keine Patientin, sondern geht dort einfach häufig ein und aus. Am Schluss aber wirkt sie – durch die Intrigen, Lügen, Dokumentenfälschungen, psychische Tortur und Erpressung ihres Bruders und dessen Handlangers Raimondo zermürbt – so verwirrt und kaputt, dass sie durchaus als Patientin in die Klinik eingewiesen werden könnte.
Das anspruchsvolle Regiekonzept geht – auch dank der Ausstattung von Sophia Schneider – verblüffend gut auf und trägt die Handlung weitgehend. Etwas weniger Blut wäre manchmal etwas mehr, und der peinigende, minutenlange Krampf einer Patientin, die sich verstörend an Boden wälzt, ist für die Handlung ebenso entbehrlich wie das brutale Bespritzen der entkleideten Kranken mit kaltem Wasser aus dem Schlauch. Recht plausibel ist hingegen die hineingenommene Geschichte von Lucias Schwangerschaft und die grausame Art, wie ihr Bruder als Chirurg damit umgeht. Das ist ein sehr überzeigendes Argument für Lucias daraus resultierendes seelisches Trauma.
Richtig enervierend ist hingegen das ständige Im-Kreis-Drehen der Bühne. Der Hauptvorwurf an die Regie zielt allerdings in eine ganz andere Richtung: Es ist verwunderlich, dass eine Regisseurin nichts dabei findet, Lucia – ganz konträr zu den Intentionen des Librettos – als gänzlich passives Opfer zu stigmatisieren. Sogar ihre in geistiger Umnachtung oder – je nach Lesart – voll bewusste Tötung des ungeliebten, verhassten Lords Arturo wird ihr in dieser Inszenierung nicht zugestanden, sondern bevormundend weggenommen. Diese erledigt unbegreiflicherweise ausgerechnet der Anstaltspfarrer für sie, der nach vollbrachter Tat das blutige Messer in ihre Hände legt, um sie der Öffentlichkeit – den Hochzeitsgästen – als Täterin präsentieren zu können. Abgesehen davon, dass seine Motivation für diese Handlungsweise schwer nachzuvollziehen ist, kann man angesichts des Umstands, dass die Regisseurin es Lucia nicht zutraut, diesen Akt selbst zu erledigen, nur den Kopf schütteln. Positiv aber ist insgesamt zu würdigen, dass sich die Regie um einen neuen, originellen und weitgehend stimmigen Zugang bemüht und diesen auch ziemlich überzeugend umsetzt.
Die Regiearbeit, die rund um die Premiere eher auf Ablehnung gestoßen war, scheint inzwischen beim Publikum doch ziemlich gut anzukommen, wie man den Reaktionen im gut besuchten Grazer Opernhaus entnehmen kann. Man ist ja durch das Medienecho vorgewarnt, und bei genauerem Hinsehen ist das befürchtete Schockerlebnis dann doch nicht so groß wie angekündigt. Voll aufrecht zu halten ist hingegen das einhellige Lob der musikalischen Seite dieser Neuproduktion, wie es sich in der in der Berichterstattung – auch im online Merker – ausgedrückt hat. Die sängerischen und darstellerischen Leistungen von Ana Durlovski (Lucia), Dariusz Perczak (Enrico), Pavel Petrov und Albert Memeti (Arturo) haben durchaus international herzeigbares Format. Auch der Chor bekommt wohl verdienten Szenenapplaus, und der Dirigent Andrea Sanguineti am Pult des farbenprächtig aufspielenden Orchesters leistet ganze Arbeit. Musikalisch und vor allem gesanglich könnte man im Vergleich zur Neuproduktion an der Wiener Staatsoper von Gleichstand reden. Regiemäßig vermerken wir hier aber gewiss einen klaren Punktesieg für die Grazer Inszenierung.
Manfred A. Schmid