Nürnberg – Rossini, Guillaume Tell, Premiere am 3. März
Jubel, Trubel, Heiterkeit herrscht in der Schweizer Bergwelt, die hier ein grauer Hangar für das Volk ist. Man lernt gerade spielend die Freiheit – so verkündet es ein Schriftzug auf einer Schultafel. Der Tell‘s Wilhelm ist da, und sein Kind Jemmy – hier im Gegensatz zu Schiller eine Tochter, womit wir auch schon beim Gender-Thema angekommen sind. Klar, dass der Spross eines solchen Vaters eine prächtige Schützin ist: Mitten im lust’gen Treiben landet ein Apfel auf dem Kopf ihres Erzeugers, und schwupps holt sie ihn mit der Armbrust runter.
Spätestens an dieser Stelle setzen die Zweifel an Elisabeth Stöpplers ehrgeiziger und in ihrer großen Linie ernsthaft durchreflektierter Inszenierung von Gioachino Rossinis „Guillaume Tell“ ein. Eine dramaturgisch so konsequent als Höhepunkt einer Entwicklung konzipierte Szene wie den Apfelschuss des dritten Aktes als Gag zu verbrauchen zeigt exemplarisch, wie sehr sich Stöppler von Ideen knechten lässt, statt auf die Ereignisdramaturgie des Werks vertrauend ihre Deutung aufzubauen. Stöppler geht es in ihrer Inszenierung der letzten Rossini-Oper um ihr Ideen-Drama – und damit ist sie Schiller näher als Rossini.
Das wäre keinesfalls zu tadeln. So weit jenseits naiver Sentiment-Dramaturgie dieser Ansatz steht, so nahe rückt er geistesgeschichtliche Verbindungen zwischen hoher Philosophie der Zeit und pragmatischem Operngeschäft in den Lichtkegel nachdenklicher Aufmerksamkeit. Aber Stöppler, späte Tochter eines Regietheaters á la Peter Konwitschny, fällt eben auch auf dessen faulig-überreife Früchte herein, wie sie zuletzt in den Gluck-Inszenierungen des „Meisters“ in Leipzig Publikum und Kritik gleichermaßen enttäuscht haben. Und in Nürnberg bedeutet das: „Guillaume Tell“ ist maßlos überinszeniert, mit Aktion zugemüllt, mit Bildern und Chiffren überfrachtet.
Sicher ist Stöpplers Ansatz eminent theatergerecht gedacht und wird von den versierten Raumideen ihres Bühnenbildners Hermann Feuchter, den Ideen in Nicole Pleulers Kostümen, dem ausgefeilten Licht- und Video-Beitrag Olaf Lundts und Boris Brinkmanns selbstlos gestützt. Aber: Theater dringt nicht in die Seelen vor, weil es schrille Mittel maßlos einsetzt, weil es alles zeigen will und dann noch mit dem Gedankenhammer ins Groß- und Kleinhirn des Zuschauers einbleut. Sondern es wirkt in Momenten der Stille, der Reduktion, des Innehaltens und der behutsamen Zeichens. Nicht umsonst war eine der wenigen wirklich bewegenden Szenen des 200-Minuten-Abends diejenige, in der im vierten Akt Arnold seinen toten Vater Melchthal wäscht: ein Moment herzzerreißender Trauer und hingebungsvoller, von Verzweiflung verdunkelter Liebe.
Aber dass jener Arnold, Prototyp des romantischen, schwankenden Anti-Helden, eine halbe Stunde später seine hoffnungslos geliebte Mathilde über der Leiche des Vaters erwürgt, ist eine jener exaltierten Momente, auf die man lieber verzichtet hätte: Soll man unter allen Umständen kapieren, dass Arnold jetzt die Habsburger Prinzessin nur noch als Vertreterin des repressiven Systems sehen kann – oder als Hindernis für eine neurotische, den Verlust nicht bewältigende Liebe zu seinem ermordeten Vater?
Desaströs wirkt die verbissene Erklärungswut schon im ersten Akt, wenn im Duett Arnolds mit Tell an Wäscheleinen Blätter mit allen möglichen Freiheitsparolen aufgehängt werden, wenn Melchthal mit einem Zettelchen („Keine Gewalt“) die Schergen Geslers zur Besinnung rufen will, oder der Fischer Ruodi zur Kreatur auf allen Vieren mutiert, die über die Bühne schnüffelt und sich später ein Fell nebst Steinbock-Schädel anlegt. Die ständige Lektüre gegen den Strich beeindruckt nicht, sondern verleitet höchstens zu sportlicher Suche nach allen möglichen veränderten oder verdrehten Details. In einem solch überfrachteten Kontext nimmt man nicht mehr wahr, warum Hedwige, Tells Frau, zur Helvetia mit Schild und Speer mutiert. Oder welchen Sinn es macht, wenn der Apfelschuss misslingt und Jemmy, querschnittsgelähmt im Rollstuhl weggeschoben, verzweifelt versucht, auf die Beine zu kommen, und immer wieder stürzt.
Hätte sich die Regisseurin in ihren Mitteln beschränkt, hätte sie ihre szenische Auseinandersetzung mit Entwürfen, Utopien, politischen Ausformungen und verhängnisvollen Folgen des Ringens um Freiheit sicherlich zu einem eindrucksvollen Ende bringen können. Denn dass in dieser Regiearbeit intensiv nachgedacht wurde, können auch die zahlreichen Buh-Rufer am Ende nicht verleugnen. Stöppler und ihr Team erfinden ja auch Momente, in denen das Theater ganz bei sich ist: Es ist ein großartiges Bild, wenn sich zur Ouvertüre ein Cello-Quintett in der bühnenfüllenden grauen Halle einfindet und mit den herrlichen Harmonien Rossinis die Menschen anlockt, die von geräuschlos herabgleitenden Stahlwänden gefangen werden, ohne es zu merken. Wenn die zerzausten Musiker dann auf einer Plattform spielend nach oben entschwinden und das musikalische Gewitter einbricht. Wenn zu drohend fernen Hornsignalen Geslers zynisches Grinsen in den Hintergrund projiziert wird und sein Lachen erst stumm, dann aus einem Lautsprecher glucksend die Szene beklemmend verdüstert. Oder wenn die Figur des Arnold exponiert wird, indem er „Gott ist tot“ auf die Schultafel wirft. An solchen Stellen blitzt auf, warum Stöppler zu den Hoffnungen im Regiefach gezählt wird – wenn sie nur nicht immer wieder in pädagogisch eilfertigen Banalitäten entwertet würden.
Ein einzelnes Buh kassierte auch der musikalische Chef des Abends, Guido Johannes Rumstadt. Es war nicht ganz unberechtigt, denn auch in Nürnberg setzt sich die schmerzhafte Vivisektion von Rossinis Oper fort – mit der fatalen Begründung, Rossini habe ja selbst schon nach der Uraufführung gestrichen und sein Werk für spätere Aufführungen in Italien erheblich bearbeitet. Warum allerdings ein Vier-Stunden-„Tannhäuser“ dem Publikum zumutbar sein soll, die sensible szenisch-musikalische Anlage von Rossinis Meisterwerk aber nicht – das sollte einmal über gönnerhafte Sätze in der Premierenfeier hinaus hieb- und stichfest begründet werden.
Niemand plädiert in der Theaterpraxis für strichlose Aufführungen um jeden Preis. Aber wenn eine Oper, die so wenig von Nummern und so entscheidend von groß angelegten musikalischen Komplexen lebt, überall verschnippelt wird, setzt man im Grunde die Praxis fort, die letztendlich zum verächtlichen Urteil über den „wälschen Tand“ beigetragen hat. Auch die Spaltung der Ouvertüre – der berüchtigte Galopp erklingt sozusagen als „Auftrittsmusik“ Geslers im dritten Akt – mag dramaturgisch verlockend sein, zerstört aber die Kontrastwirkung, die Rossini in diesem in sich geschlossenen Stück beabsichtigt.
In der Leitung des mittlerweile in der italienischen Opernmusik eines Rossini und Donizetti recht erfahrenen Orchesters bemüht sich Rumstadt um einen dramatisch geladenen, dennoch aufgelockerten Ton. Der gelingt ihm – und seinen solistisch immer wieder versiert auftretenden Musikern – im Ganzen überzeugend. In manchen Momenten, etwa der versonnenen Einleitung zu Mathildes Romanze „Sombre Forêt“, wünscht man sich eine gelassener schwingende Linie. Aber die behutsamen und knalligen Crescendi, die markanten Rhythmen und die Feinzeichnung musikalischer Charaktere realisiert Rumstadt in Kooperation mit einem konzentrierten, nur manchmal zu pauschal klingendem Orchester und einem gut vorbereiteten Chor (Tarmo Vaask) mit Intensität und Bravour.
„Guillaume Tell“ ist eine Sänger-Oper: Uraufgeführt mit den herausragenden Kräften der damaligen Pariser Opernszene waren die extremen Anforderungen an die Protagonisten stets eines der Hindernisse einer breiteren Rezeption. In Nürnberg lässt sich über den Arnold Uwe Stickerts und die Mathilde Leah Gordons staunen: Stickert hat mit dieser Partie schon in der Weimarer Aufführung des „Tell“ geglänzt und bringt auch in Franken seine „19 C und zwei Cis“ (James Joyce) technisch souverän über die Rampe. Auch sein Spiel passt zu der Figur des gespaltenen Intellektuellen. Aber noch wichtiger als treffsichere Spitzentöne sind die anstrengungsfreie Tonproduktion und die einwandfreie Linie des Singens: Stickert bindet, wo gefordert, Hochtöne eben auch klanglich ins Legato ein.
Leah Gordon ist im Lyrischen ebenso zu Hause wie in den ausdrucksstarken kolorierten Momenten; das Vibrato ist in den Stimmklang eingebunden. Sie profiliert den Wandel der Mathilde – einer Dame aus dem Ancien regime – von der Verliebtheit der Prinzessin zur teilnahmsvollen Solidarität mit dem Freiheitswunsch der Schweizer, zeigt auch die Ohnmacht gegenüber dem brutalen Zugriff Geslers. Dem gibt Nicolai Karnolsky die Züge eines jugendlich-elastischen Playboys der Macht, zynisch, manisch und frei von jedem ethischen Hemmnis. Dazu passt seine Gang aus jungen Männern mit Philip Carmichael als Rodolphe – verwöhnte Bengel, gewohnt, zu kriegen, was sie wollen. Am Ende, als Gesler durch den Pfeil aus der Armbrust Hedwiges stirbt, greifen sie sich wenigstens noch das Laptop ihres Chefs. Dass auch die Schweizer ihre brutalen Hardliner haben, wird durch Taehyu Jun als Leuthold greifbar.
Pech hatte Nürnberg mit der Besetzung der Jemmy: Beide Sängerinnen, Michaela Maria Mayer und Heidi Meier, waren krank; so sang Claudia Braun aus dem Graben und rettete den vom Bayerischen Rundfunk übertragenen Premierenabend. Martin Berner versuchte, aus der von Rossini ohne individuelles Profil angelegten Figur des Tell das Beste zu machen und wurde von seinem Bariton nicht im Stich gelassen. Leila Pfister lässt vergessen, dass Hedwige eigentlich eine Nebenrolle ist; Tilman Lichdi trat als unglücklicher Ruodi anstandslos in Konkurrenz zu den Hochtönen Arnolds. Vladislav Solodyagin ließ Melchthal eher als szenischen Charakter greifbar werden, die Stilistik des Rossini-Gesangs dagegen ist für seinen rauen Bass eine Fremdsprache. Staatsintendant Peter Theilers Konzept, das italienische und französische Repertoire um vernachlässigte Werke zu bereichern und in anspruchsvollen Inszenierungen aus der Ästhetik-Ecke zu holen, bleibt spannend – auch wenn es, wie im Fall des „Tell“, einmal einen „Schuss in den Ofen“ gibt.
Werner Häußner