NÜRNBERG: FAUST (Ballett von Goyo Montero) am 28.12. 2012 (Werner Häußner)
Goyo Montero, der Nürnberger Ballettchef, stellt sich mit Lust und Ehrgeiz den großen Stoffen der Weltliteratur. Mit Faust hat er seinen Meister gefunden. Sein neuester, kühner Versuch, die dominante Körperlichkeit des Tanztheaters aufzubrechen, über den Ausdruck der Bewegung hinauszukommen, die Spartengrenzen aufzubrechen, verliert sich im schwarzen Raum seiner Inszenierung, weil Montero sich ans Wort verliert. So beharrlich er sich in die Aspekte des Faust-Stoffes vertieft, so begehrlich er sich in die Tiefen versenkt: Am Ende kann er alle seine dämonischen Gestalten nicht bannen, die er bei Goethe, Bulgakow, Thomas Mann, William Blake oder – betrachtet man die Kostüme – auch E.T.A. Hoffmann gefunden hat.
Montero zwingt den Faust-Stoff unter seinen gestalterischen Willen – aber er kommt über das Gretchen-Thema nur schwer hinaus. Vor allem aber inszeniert Montero die knapp zweieinhalb Stunden so, als vertraue er der Kraft des Tanzes nicht. So formal untadelig seine ausgefeilten Choreografien sind, sie bleiben zu oft im Illustrativen stecken. Das Wort spielt sie an die Wand, weil die Schauspielerin Julia Bartolome mit ihrem schillernden Charisma die Gewichte im Stück verschiebt. Für sie als das „Böse“, aber offenbar auch der Welt weisestes Weib, hegt Montero deutlich Sympathie. Warum sie als Mephisto letztendlich aber auf Faust einen universalen Zugriff entwickelt, das kann er uns nicht sagen. Dafür mag er des gefallenen Dämons Gegenpart zu wenig, den er in einen leuchtenden Spielball verbannt: „Gott“ nervt und wird aus der Szene gekickt.
Auch die Musik scheint eher nach ihrer Rolle zu suchen als sie gefunden zu haben: Lera Auerbachs Versatzstücke, jeder modernistischen Provokation abhold, klang- und melodienverliebt, sind stark, wenn sie sich auf kammermusikalisches Format beschränken. Mal mitten in der Szene, mal im ungefähren Dunkel der Bühne reflektiert die Komponistin selbst am Flügel auf Bach und Liszt, umspielt den ersten Auftritt Gretchens mit Chopineskem oder streift die Tanzmusik der Zwanziger. Auf einem Podest begleiten sie Cello und Geige, elektronisch verstärkt und expressiv verzerrt. Eher gewollt pathetisch wirkt die Musik der derzeit in Dresden als „composer in residence“ wirkenden Russin, wenn sie das volle Orchester bemüht, das unter Philipp Pointner zur Gelegenheitsarbeit verdonnert ist.
Dabei deuten die Zeichen zu Beginn des zweieinhalbstündigen Abends noch auf ein Gleichgewicht der künstlerischen Kräfte hin: Goethes Prolog im Himmel ist eine passende Exposition; Carlos Lázaro ein charakterisierungsstarker, hier aber unterforderter Tänzer, als Faust mit den Zügen des Mann’schen Adrian Leverkühn. Dessen Schreibpult gebiert sein gequältes, zuckendes, stotterndes, sich windendes „Alter Ego“, den „Meister“ aus Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ in der eindrucksvoll durchgearbeiteten Gestalt von Saúl Vega. Dazu die dunklen Klüfte und dämonisch schwarzschillernden Bauten Verena Hemmerleins auf der Bühne: ein Turm aus Kuben, die sich als teuflische Seelen-Gefängnisse erklären.
In dämmerig beleuchteten Würfeln eingesponnen, fahren Gestalten in den Raum, liegen auf ihnen wie auf Schlachtblöcken, werden von ihnen bedrängt und verfolgt. Da findet Montero einen Schlüssel, wie er den Faust-Stoff mit seiner Frage nach der menschlichen Freiheit und der Macht der transzendenten Gewalten szenisch-bildnerisch bewältigen könnte. Aber die Exposition ufert aus, findet kein Ende, wird seziert in Szenen, die ihren inneren Zusammenhang verlieren. In der Pause hat man den Eindruck, gedanklich nicht voranzukommen.
Und nach der Pause setzt Montero mit der missglückten Ironie einer Show-Szene noch eins drauf: ein schrilles Panoptikum grotesker Verbrecherfiguren, aus denen das blasse Gretchen (anmutig, traumatisiert, anrührend: Marina Miguélez) als Siegerin in der Abstimmung der lärmenden Masse hervorgeht. Der Meister und Margarita im großartig getanzten Pas de Deux könnten die Wende bringen, bleiben aber wieder im Vordergründigen hängen: Montero, in die Rede verknallt, verdoppelt den expressiven Tanz durch viel Worte, die szenisch nicht beflügeln.
Am Ende aller Bilderfluten – von Olaf Lundt nach Kräften in stimmungsreiches Licht gesetzt – pathetisiert eine melodramatische Apotheose den Untergang Fausts: Mephisto erlegt als krallenbewehrtes monströses Weib die leverkühn’sche Hülle Faustens; an seine Seele kommt das schwarzwallende Alien allerdings nicht heran: Für den wahnsinnigen „M“, der von seiner sinistren Geburt aus dem Hirnkasten Fausts an den hinten offenen Kittel von Anstaltsinsassen trägt, gibt es „Erlösung“. Er wird mit Gretchen in ein unbestimmtes Irgendwo erhoben. Eine konsequent dualistische „Faust“-Deutung, die sich jeder Transzendierung zu enthalten versucht.
Ein misslungener Abend? Das nicht. Dazu ist das spartenübergreifende Spiel zu intensiv gedanklich durchdrungen; dazu arbeitet auch das wundervolle Team um Montero – die souverän gestaltende Bühnenbildnerin Verena Hemmerlein und der bildbewusste Kostümschöpfer Angelo Alberto – zu qualitätvoll. Aber die Premiere zieht nach eindrucksvoll gelungenen Lösungen („Don Juan“) und tiefsinnigem Tanztheater („Carmen“, „Nußknacker“) eine Grenze. Montero sollte sich Zeit nehmen, die Gewichte neu zu tarieren: Der Tanz braucht eine starke Position, sollen Wort und Gedanke zu körperlich-sinnlichem Ausdruck finden.
Werner Häußner