Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

NÜRNBERG: GUILLAUME TELL – Missglückter Schuss des Tell in Nürnberg

24.03.2012 | KRITIKEN, Oper

Missglückter Schuss des Wilhelm Tell in Nürnberg: „Guillaume Tell“ von Gioacchino Rossini (Vorstellung: 24. 3. 2012)


Das Liebespaar Mathilde und Arnold wurde von Leah Gordon und Uwe Stickert grandios gesungen (Foto: Ludwig Olah)

 In der Oper Nürnberg wird seit Anfang März „Guillaume Tell“ von Gioacchino Rossini in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln gezeigt. Das zuletzt nicht allzu oft aufgeführte Meisterwerk Rossinis, dessen Text von Victor-Joseph Etienne de Jouy und Hippolyte Louis Florent Bis nach Schillers Schauspiel und der Erzählung „Guillaume Tell ou La Suisse libre“ von Jean Pierre Claris de Florian stammt, wurde 1829 in Paris uraufgeführt und erfuhr in der Folge unzählige Bearbeitungen. So kam eine deutsche Fassung unter dem Titel Andreas Hofer, eine britische mit dem Titel Hofer or The Tell of Tyrol, eine schottische als Rodolfo de Sterlinga in Mailand und Rom, eine biblische Variante mit dem Titel Giuda Maccabeo und in St. Petersburg sogar eine russische Fassung als Karl der Kühne zur Aufführung.

 Die Handlung der vieraktigen Oper schildert den Kampf der Schweizer gegen die Habsburgische Besetzung und beinhaltet neben dem legendären Rütlischwur und Tells berühmtem Armbrustschießen die Liebe des jungen Arnold Melchthal zu der Habsburgerprinzessin Mathilde, die aus Liebe die Seite wechselt.

 In Nürnberg kam unter dem deutschen Titel Wilhelm Tell (der französische Originaltitel wurde allerdings im informativ gestalteten Programmheft erwähnt) eine um etwa eine Stunde gekürzte Fassung mit teils verändertem Inhalt zur Aufführung. Regisseurin Elisabeth Stöppler, die durch gute Inszenierungen im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen und an der Semperoper in Dresden bekannt wurde, überrascht das Publikum während der Ouvertüre, deren berühmte Schlusssequenz mit dem „musikalischen Ritt“ in den dritten Akt verlegt wurde, mit einem Vorspiel, in dem auf der Bühne ein Streichquintett der Bevölkerung aufspielt, bis sich die Wände zu einem Gefängnis schließen. Aus Tells Sohn wird eine Tochter, die beim Armbrustschießen – mit dem Rücken zum Vater stehend – in den Hals getroffen wird und querschnittsgelähmt in einem Rollstuhl das Stück zu Ende spielt. Im letzten Akt erwürgt schließlich Arnold seine Geliebte, da er sie für das Schicksal und die Folterung von Tell verantwortlich macht.

 Leider wartete die Inszenierung mit noch vielen abstrusen Ideen auf. So spielt die Oper in einem Raum, den man als Schulzimmer deuten könnte – mit modernen Büro-Drehstühlen und Overhead-Projektoren, Schultafeln, Freiheitsparolen auf Zetteln und Monitoren, auf denen Gesslers Kopf mit Hut projiziert wurden. Gessler und sein Scherge Rudolph tragen ständig einen Laptop bei sich und fuchteln des Öfteren mit einem Revolver herum, den sie immer wieder Tell und seiner Tochter drohend an den Kopf halten. Die Soldaten Gesslers sind eine Degenfechtmannschaft in voller Montur und die Bühne wirkt manchmal wie eine Tiefgarage oder ein Betonbunker und ist einfach hässlich (Gestaltung der Bühne: Hermann Feuchter). Im ersten Akt lässt sich Tells Tochter Jemmy als Sportschützin feiern und ein Blinder irrt auf der Bühne umher, im zweiten kriecht ein offenbar blinder Junge über die Bühne und holt aus mehreren Verstecken Jagdtrophäen, ein Fell, uniformähnliche Gewänder und zahlreiche Armbrustwaffen für den Freiheitskampf hervor. Für die Kostüme – Alltags- und Sportkleidung für die Schweizer, Uniformen für die Soldaten  und Kleid mit Reifrock für die Habsburgerprinzessin – zeichnete Nicole Pleuler verantwortlich. Für das Licht-Design – mit kalten Neonröhren, aber kreativen Schatteneffekten – war Olaf Lundt zuständig.

 Dass es auch ein paar gelungene und packende Szenen gab, soll nicht unerwähnt bleiben: Originell der Auftritt vor dem Eisernen Vorhang von Mathilde und Arnold, obwohl dadurch die Übertitelung fast unleserlich wurde, ergreifend die Szene, als Arnold seinen toten Vater entkleidet und wäscht. Gut auch die Personenführung in den Massenszenen.

 Dass der dreieinhalbstündige Operabend zu einem musikalischen Genuss wurde, war dem großartigen Sängerensemble und dem Orchester zu danken. Herausragend die Leistung von Leah Gordon als Habsburgerprinzessin Mathilde. Mit ihrer ausdrucksstarken Sopranstimme und ihrem leidenschaftlichen Spiel begeisterte sie in jeder Szene. Wunderbar ihre Romanze Sombre forêt (Dunkler Wald) und ihre Liebesduette mit Arnold Oui, vous l’arranchez à mon âme (Ja, du entreißest meiner Seele) und Pour notre amour (Für unsere Liebe). Die unglaublich schwierige Rolle des Arnold Melchthal bewältigte der junge Tenor Uwe Stickert auf bewundernswerte Art und Weise mit seiner hellen, einprägsamen Stimme. Interessant dazu ein im Programmheft abgedrucktes Zitat von James Joyce über die Gesangspartie des Arnold: „456 mal das G, 93 mal das As, 54 mal das B, 15 mal das H, 19 mal das C und zweimal das Cis.“

 In der Titelrolle wirkte der Bariton Martin Berner vor allem durch seine starke Bühnenpräsenz. Warum er den Rütli-Schwur mit seinen Männern aus einem Heft vorlesen musste, weiß wohl nur die Regisseurin. Eine Bravourleistung bot die Sopranistin Heidi Elisabeth Meier als Tells Tochter Jemmy. Großartig, wie sie nach dem misslungenen „Apfelschuss“ – immer wieder hinfallend und aufstehend – ihre Arie singt. Ihre Mutter Hedwige wurde von der Mezzosopranistin Judita Nagyová berührend dargestellt.

 Die unsympathische Figur des Gessler war beim Bass Nicolai Karnolsky mit seiner tiefen Stimme und seinem rollengerechten fiesen Spiel in besten Händen. Auch die kleineren Partien waren hervorragend besetzt: Arnolds Vater Melchthal wurde vom Bassisten Vladislav Solodyagin, Gesslers Scherge Rudolph von Philip Carmichael, der Schäfer Leuthold vom Bassbariton Taehyun Jun und der Fischer Ruodi vom Tenor Martin Nyvall gesungen.

 Besonderes Gewicht kam dem Chor des Staatstheaters Nürnberg zu, der durch sein großes Stimmvolumen und durch sein exzellentes Spiel zu gefallen wusste (Einstudierung: Taarmo Vaask). Die Staatsphilharmonie Nürnberg, von Sebastian Kennerknecht geleitet, schaffte es, die feinsinnig instrumentierte und herrlich dramatische Partitur des Komponisten mit allen Nuancen wiederzugeben und damit für einen musikalisch höchst gelungenen Opernabend zu sorgen. Das Publikum, das während der vier Akte oft kopfschüttelnd die Handlung verfolgte und in den Pausengesprächen sich abfällig über die Inszenierung äußerte, dankte am Schluss mit lang anhaltendem Applaus dem Sängerensemble, dem Orchester und seinem Dirigenten, wobei es etliche Bravo-Rufe für Leah Gordon, Heidi Elisabeth Meier und Uwe Stickert gab.

 Udo Pacolt, Wien – München

 

 

Diese Seite drucken