Norbert Christian Wolf:
REVOLUTION IN WIEN
Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19
368 Seiten, Böhlau Verlag, 2018
Das Jahr 1918 hat für Europa, ganz besonders aber für Österreich, Veränderungen mit sich gebracht wie kaum je zuvor: Ein jahrhundertealtes Herrschaftssystem wurde hinweggefegt, in seinen Strukturen wie in seinen Werten. Ersatz musste gefunden werden. Umstürze gehen nicht ohne Blut und Gewalt vor sich, der Kampf der Ideologien tobte. Norbert Christian Wolf, Germanistik-Professor in Salzburg, betrachtet nun unter dem Titel „Revolution in Wien“, wie sich „Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19“ geäußert hat.
Heimliche oder unheimliche oder gar nicht so heimliche Hauptperson des 368 Seiten dicken Werks ist der Journalist und Revolutionär Egon Erwin Kisch, der die beiden Hauptteile des Buches dominiert. Der erste behandelt die „Österreichische Revolution der Literaten“, vor allem in der kurzen Geschichte der „Roten Garden“, die hier in aller Ausführlichkeit dargestellt wird. Während sich mehr oder minder konservative Kräfte den Kopf darüber zerbrachen, ob der Rest von „Deutschösterreich“ (vom 53 Millionen Einwohner umfassenden „Weltreich“ der Habsburger-Monarchie waren machtlose 6,5 Millionen Deutschsprachige übrig geblieben) nicht (damals schon!) mit einem „Anschluß“ an Deutschland am besten aufgehoben wäre, versuchte die Kommunistische Partei mit Hilfe der „Roten Garden“ – von Egon Erwin Kisch anfangs kommandiert – den Griff nach der Macht.
In Wolfs Buch geht es nun um die Stellung, die die österreichischen Literaten dieser „roten“ Revolution gegenüber eingenommen haben, wobei er vor allem die Primärliteratur befragt, die zu diesem Thema entstanden und erhalten ist.
Kisch steht an der Spitze, mit seinen brennenden Bemühungen um eine „linke“ Wende, wobei der Autor auch nicht leugnet, dass dieser später, einfach aus Gründen der nackten Existenz, wieder zu seiner Arbeit als Journalist auch des Boulevards, auch der „anderen Seite“ zurückkehren musste, was ihm die ätzende Verachtung seiner Genossen eintrug („Sollte Herr Kisch der Meinung sein, dass ein anständiger Mensch rechts schreiben und links reden kann…“).
Unter den anderen Beteiligten, die sich heftig engagierten – Franz Blei, Albert Paris Gütersloh und Leo Perutz waren bei der Gründung der „Roten Garden“ dabei – , tritt immer wieder die Figur von Franz Werfel in den Vordergrund, der es mit seinen „revolutionären Ansichten“ wohl ernst meinen mochte, ihnen aber charakterlich nicht gewachsen war und stets unsicher durch die Ideologien wankte. Er war, wie Arthur Schnitzler meinte, etwas „verworren“ in diesen Dingen, aber letztendlich der Einzige, der sich dem Thema dieser Zeitenwende später auch ernsthaft literarisch stellte.
Eines will der Autor jedenfalls klar stellen: So, wie es auch immer Bestrebungen gegeben hatte, die Revolution von 1848 zu einer nicht ernst gemeinten „Operette“ zu degradieren, so hat die Nachwelt die „rote“ Revolution von 1918/19 gerne auf die Aktionen von ein paar Wirrköpfen reduziert. Dabei spielt die vor allem von Friedrich Torberg vermittelte Anekdote eine Rolle, die besagt, Egon Erwin Kisch sei aus den von den „Roten Garden“ besetzten Redaktionsräumen der „Neuen Freien Presse“ gewichen, weil sein dort tätiger Bruder damit gedroht hätte, er erzähle es der Mama – und vor der „Frau Kisch“ in Prag, dem Inbegriff einer machtvollen jüdischen Mame, hatten offenbar nicht nur die Söhne einen Heidenrespekt. Immerhin dienen solche Geschichten, die sich mehr einprägen als Fakten, einer Verniedlichung, der dieses Buch entgegenwirken möchte.
Der zweite Teil wendet sich dann anderen Dichtern und ihren verschiedenartigen Kommentaren zum Zeitgeschehen zu, wobei auch immer ihre Reflexionen über Egon Erwin Kisch im Mittelpunkt stehen. Als Zeitdokument am interessantesten sind dabei die wirklich minutiös, von Tag zu Tag geführten Tagebücher von Arthur Schnitzler. Sie beweisen, dass es damals wirklich unmöglich war, die Lage zu überblicken und die Situation zu beurteilen (was ja immer der Nachwelt vorbehalten ist). So viele verschiedene Meldungen kamen von allen Seiten herein, man las Zeitungen unterschiedlichster Färbung (und entsprechender Berichterstattung), Schnitzler berichtet über so viele Gespräche mit Menschen verschiedenster Erfahrungen und Ideologien, dass der Normalbürger die verwirrenden, verworrenen Ereignisse nur über sich hereinbrechen lassen konnte. Schnitzler, der Politik gegenüber generell skeptisch war und von den „Roten Garden“ nicht überzeugt werden konnte, hat diese Umbruchszeit in seinen literarischen Werken nie gestaltet.
Tatsächlich zeigt Autor Norbert Christian Wolf, er ist schließlich Germanist, wie sich diese Jahre in den verschiedensten Medien niederschlugen, natürlich in „Journalen“ wie in der kurzlebigen „Die Rettung“, den „Blättern zur Erkenntnis der Zeit“, die Franz Blei und Albert Paris Gütersloh herausgaben; wie in Memoirenliteratur à la Robert Neumann, der die Geschehnisse verkleinerte; wie in Reportagen und Feuilletons (darunter Hermann Bahr und Joseph Roth); in Anekdote (Torberg), Parodie (Anton Kuh) und auch in Lyrik (u.a. Albert Ehrenstein); schließlich in der Polemik eines Karl Kraus.
Aber es findet sich nur ein literarisches Werk von Bestand über diese Zeit, und das ist der Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“ des als „unsicheren“ Revolutionärs viel geschmähten Franz Werfel. Er hat darin Egon Erwin Kisch auch in der Gestalt des Ronald Weiß ein schillerndes Denkmal gesetzt.
Natürlich blieb auch die andere Seite nicht untätig, aber ein Mann wie Karl Paumgartten, der sich in seinem Roman „Repablick“ schon einer Sprache bedient, die die Nazi-Formulierungen vorwegnimmt, ist heute vergessen. Dennoch, die Sprache – das fällt an diesem Buch auf, wie nämlich die geradezu hasserfüllten Wort-Schlachten zwischen „Links“ und „Rechts“ den heutigen Auseinandersetzungen gleichen, argumentativ und sprachlich, mit denselben Mitteln arbeitend wie damals. Hier wurde kein Fortschritt erzielt, hier scheint es sich um unverrückbare Formalismen der Gegensätze zu handeln.
Renate Wagner