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NÖ Theatersommer / Reichenau: DAS VERMÄCHTNIS

05.07.2018 | KRITIKEN, Theater


Fotos: Festspiele Reichenau

NÖ Theatersommer / Festspiele Reichenau:
DAS VERMÄCHTNIS von Arthur Schnitzler
Premiere: 4. Juli 2018,
besucht wurde die Generalprobe

Keine Frage, gerade Arthur Schnitzler hat das österreichische Theater mit einer Reihe unanfechtbarer Meisterwerke bereichert, die zu Recht immer wieder gespielt werden – „Professor Bernhardi“ und „Das weite Land“, „Der einsame Weg“ und „Reigen“, „Anatol“ und „Liebelei“. Und eine Reihe exzellenter Einakter, deren Meister er war. Aber wenn man, wie in der Schnitzler-Hochburg Reichenau, in den 30 Jahren seines Bestehens durch all diese Werke „durch“ ist? Dann kommen die schwächeren, die es auch gibt, und wenn man Glück hat wie diesmal, dann gelingt es, am unzweifelhaft weniger Gelungenen die Stärken aufzuzeigen.

„Das Vermächtnis“ entstand bald nach „Liebelei“ und denkt die Situation weiter, die eine gesellschaftlich damals durchaus virulente war. Im allgemeinen wurden, wie Christine von Fritz, die „süßen Mädeln“ von den reichen Herrn sexuell und emotional ausgebeutet und weggeworfen (im besten Fall finanziell versorgt). Was aber, wenn einer von ihnen ein besserer gewesen wäre, wenn er nicht verlangt hätte, das uneheliche Kind abzutreiben oder wegzugeben, wie es üblich war und ganz normal schien, sondern mit seiner „Freundin“ und dem Kleinkind ein glückliches Parallel-Leben geführt hätte, das er allerdings nicht wagte, seiner großbürgerlichen Familie einzugestehen. Denn er kennt ihre Vorurteile und Engstirnigkeit…

Wenn so ein junger Mann an einem dummen Unfall stirbt, aber vorher noch Gelegenheit hat, mit seiner Mutter zu sprechen: Was wird er sie bitten? Dass sie „seine Frau“, die es nur auf dem Papier nicht war, und das Kind, ihren Enkel, in der Familie aufnimmt, als wären sie legitime Mitglieder. Welche Mutter verspricht das nicht dem sterbenden Sohn? Und welche Folgen ergeben sich daraus?

Nun besteht die dramaturgische Schwäche von „Das Vermächtnis“ nicht nur daran, dass am Ende jedes der drei Akte jemand stirbt (erst der junge Mann Hugo, dann das Kleinkind Franzl, am Ende geht die Mutter, Toni Weber, ins Wasser wie schon die Liebelei-Christine vor ihr), was die Zeitgenossen zur bösen Variation des Witzes „Arzt mit eigenem Friedhof“ (Schnitzler war damals im Brotberuf noch Arzt) zu „Dichter mit eigenem Friedhof“ ausweiteten.

Tatsache ist, dass man im „Vermächtnis“ genau weiß, wie es laufen wird – und genau so kommt es auch. Die halb distanzierte, halb gezwungen freundliche, aber nie ehrliche Haltung der jungen Frau gegenüber, die schon vom sozialen Status so gar nicht zu den Großbürgern passt (Professor Losatti ist immerhin Abgeordneter, bitte!), die Unterstellungen gegen die „Aufsteigerin“, die es sich vermeintlich bei den Reichen gemütlich machen will, der Glücksfall für die Familie, dass das Kind stirbt und man die Mutter ohne weitere Gewissensbisse wegschicken kann – sie passt ja doch nicht hierher! Natürlich wird man sie finanziell unterstützen, anfangs zumindest. Wenn sie nur wieder geht…

Aber, so „aufgelegt“ das als Situation auch sein mag – so unverrückbar stimmt es heute noch, gut 120 Jahre nach der Uraufführung. Stellen wir uns nur ein Türkenmädel vor, das auf diese Art in eine indigene, vorurteilsbelastete „bessere“ Familie in Wien käme. Es würde sich alles so wiederholen, wie Schnitzler es geschrieben hat. Das begreift man auch im Gewand seiner Epoche, und man muss Regisseur Hermann Beil danken, dass er (im Nobel-Interieur von Peter Loidolt und den „damaligen“ Kostümen von Erika Navas) nicht eine Sekunde daran gedacht hat, hier etwas „in unsere Zeit zu holen“. Weil sich für gescheite Zuschauer die Bezüge ohnedies herstellen.

Nun könnte „Das Vermächtnis“, wenn man Pech hätte, auch als triefender Schmachtfetzen und als Melodram ausgehen, aber diese Gefahr besteht in Reichenau nicht eine Zehntelsekunde lang. Weil man hier erstens mit Leuten besetzt, die Schnitzler buchstabieren können. Und weil Beil die ideale Hand hat, sowohl für die Ausformung der Charaktere wie für die Zwanglosigkeit der Dialoge. Und beides ist bekanntlich Schnitzlers Stärke.


Regina Fritsch, Joseph Lorenz

Wahrscheinlich ist ihm der „Papa“ am besten gelungen, der so selbstverständlich hochmütige, so selbstverständlich in seiner Welt verankerte Professor Losatti, dass er nur die ganzen gesellschaftlichen Lügen bedienen kann, zudem ein typischer Politiker, schwankend zwischen Extremen, wie sie ihm gerade unterkommen und passen. Für Joseph Lorenz ist die Rolle, die alles andere darstellt als einen Sympathieträger, eine großartige Möglichkeit der Schattierungen und Nuancen einer instabilen Persönlichkeit, nur Schein, nicht Sein, und wenn Beil ihn am Ende in einen wahren Veitstanz ausbrechen lässt, um sein Verhalten zu rechtfertigen und sich zweifellos als das Opfer (!) der Situation zu fühlen – dann ist das nicht nur darstellerisch umwerfend, sondern lenkt auch ein wenig von Tonis Schlußmonolog ab, der (wie jener der Christine) natürlich Gefahr läuft, in aufgelegter Sentimentalität zu landen.

Aber da ist Nanette Waidmann, die in ihren Jahren an Schottenbergs Volkstheater nie so wirklich aufgefallen ist. Nun, über Heidelberg nach Österreich zurückgekehrt, wirkt sie schlanker, gereifter, wenn auch noch immer jugendlich genug für das zur Mutter gewordene „süße Mädel“, gefühlsintensiv, aber nicht triefend, Mitleid nicht herbetend und gerade deshalb bekommend – das ist eine ungemein starke Leistung, vor allem, weil sich diese Rollen nicht so leicht spielen.


Nanette Waidmann, Stefanie Dvorak

Da haben es die – Verzeihung – ein bisschen älteren Damen leichter, wobei man Stefanie Dvorak gar nicht in einer „Mutterrolle“ sehen würde. Wesentlich jedoch ist an der Schwägerin des Losatti-Haushalts, dass sie die liberalen Ansichten der Epoche einbringt, die auch die menschlicheren waren, und dass sie in scharfen Worten zu kämpfen bereit ist. Eine besonders schöne Rolle, eine brillante Rolle, und die Dvorak, die in Reichenau so viel mehr zeigen durfte als anderswo, ist hinreißend.

Regina Fritsch holt aus der Mutter Losatti, im Korsett zwischen Gefühl und Konvention, eine Menge heraus, die wahre Herzlichkeit kann die Dame der Gesellschaft für die „Unterschicht-Schwiegertochter“, die ja in aller Augen doch ein fragwürdiges Geschöpf ist, nicht aufbringen, aber man merkt schon, dass der Konflikt bei ihr viel tiefer geht als bei ihrem Mann.

Interessant sind Schnitzler die anderen jungen Mädchen gelungen – die wirklich und ehrlich herzliche Franzi, Schwester des toten Hugo (Johanna Prosl) und die durch und durch oberflächliche, nur selbstverliebte Agnes, als welche Alina Fritsch eine Backfisch-Show abzieht, wann immer es ihr erlaubt ist (und was durchaus im Sinn der Rolle zu verstehen ist).

Der sterbende Hugo (David Jakob) und sein Freund Gustav (René Peckl) sind so farblos wie anständige Menschen immer (das war Schnitzlers Erkenntnis), der jüdische Arzt, der zufällig in die Familientragödie stolpert und sich um die eigene Reputation sorgt, ist eine interessante Charge und wird von Peter Moucka auch so gespielt.

Aber die neben Losatti einzige interessante Männerfigur ist der Arzt Schmidt, den man als Renegaten bezeichnen kann, der aus demselben Milieu stammt wie Toni (was er geschickterweise immer betont), aber seinen Weg in die bessere Gesellschaft gemacht hat – und der nun der Leidensgenossin keinesfalls beisteht, sondern zu ihrem heftigsten Widerpart wird, was Dominik Raneburger mit dem fast zitternden Eifer eines tief Betroffenen spielt. Beispiele dieses Verhaltens im Leben gab es damals wie heute, im Wien Schnitzlers, wo die assimilierten reichen Juden entsetzt waren, etwa mit den verlumpten Ankömmlingen aus Galizien in einen Topf geworfen zu werden. Oder so, wie heute die fest verwurzelten „Wiener“ Türken und andere Integrierte mit Misstrauen auf jene schauen, die da nachrücken… Wie seltsam, dass sich am Grundverhalten so wenig geändert hat. Oder doch nicht. Und wie interessant, dass ein altes und an sich weniger gelungenes Stück von Schnitzler all diese Überlegungen hervorruft.

Wie gut, dass Reichenau bei Schnitzler bleibt. Mit dem „Ruf des Lebens“ wird man es nächstes Jahr nicht leicht haben. Hoffentlich kommt bald „Freiwild“ an die Reihe. Von den weniger gespielten seiner Stücke ist es der besten eines.

Renate Wagner

 

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