NÖ THEATERFEST / Nestroy Spiele Schwechat:
DER BÖSE GEIST LUMPAZIVAGABUNDUS
Premiere: 25. Juni 2016
Besucht wurde die Generalprobe
„Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt“, wie der volle Titel lautet, den heute niemand mehr benützt, war 1833 das erste im Quartett der unsterblichen, immer gespielten Nestroy-Stücke (es folgten 1840 „Der Talisman“, 1842 der „Jux“ und 1844 „Der Zerrissene“). Bei genauerer Betrachtung hat Nestroy sein kleinbürgerliches Publikum weder vorher noch nachher je so frontal konfrontiert und attackiert wie mit der Gestalt der drei „arbeitslosen“, heruntergekommenen Handwerksgesellen, die als Außenseiter der Gesellschaft auch noch den Mut haben, nicht dankbar die Segnungen des Kapitalismus anzunehmen, sondern ihre ganz und gar unangepasste Freiheit zu fordern – jedenfalls zwei von den dreien.
Wenige Nestroy-Figuren sind leichter in die Gegenwart zu holen als Knieriem, der Säufer, Zwirn, der ewige „Drahrer“ und Leim, der sich dann doch domestizieren lässt. Es gab genügend Aufführungen, die sich von der blanken Komödiantik entfernt und die „toten Seelen“ gesucht und gefunden haben, desgleichen die Sandler, die Heruntergekommenen, jene, die nicht wollen, was man ihnen aufzwingen möchte.
Aber in Schwechat, wo man traditionsgemäß nicht viel Aufwand braucht und will, um Nestroys Stücke als lapidare Gegenwart hinzustellen, passen sie heuer in der brillant-stringenten Regie von Peter Gruber besonders gut und überzeugend hin. Selten hat man gespürt, wie tief Nestroys Sympathie für die armen Hunde war – eine Sympathie, die Gruber seinerseits gibt und weiterträgt, indem er den drei jungen Darstellern ganz besondere Kraft und Vitalität verleiht. So komisch sie immer wieder sind, so wenig ist Komik hier ihre Aufgabe – das sind Charaktere, Schicksale, Prägungen, die ihnen ihr Sosein und Dasein auferlegt.
Sie bewegen sich diesmal auf einer fast leeren Bühne, die nur mit dem Abfall derer bestückt ist, die Gratiszeitungen, Blechdosen und Plastikflaschen wegwerfen. Dazu die Bettlerin (sie müsste, zumal sie einen Hijab trägt, nicht irgendwann in den Erzherzog-Johann-Jodler ausbrechen), die Immigranten, die Obdachlosen, später die Arbeiter in Leims Fabrik (bei Gruber bringt er es noch weiter als bei Nestroy) – früher hätte man vielleicht „das Proletariat“ gesagt, heute ist es das Prekariat. Und doch leben wir in einer Welt des Kapitalismus – die glitzernden Laufbänder im Hintergrund der Bühne bringen Börsenkurse und Werbesprüche.
Foto: Nestroy Spiele / Herbert Neubauer
Da passen sie perfekt hinein – Eric Lingens mit Pudelmütze und der Gelassenheit des überzeugten, unbeirrbaren Säufers, Valentin Frantsits (der „böhmakelt“) als einer der überzeugendsten Zwirn-Darsteller, die man je gesehen hat, getrieben von einer Motorik, die in seinem Wesen wohnt, im Auf und Ab des Lebens gleich fröhlich in sich selbst ruhend, und schließlich Max G.Fischnaller (mit leicht Tiroler Zungenschlag) als Leim, der die erstaunlichste Wandlung durchmacht – vom enttäuschten Verliebten, der sich in seiner Düsternis erheiternd suhlt, bis zum unsympathischen Kapitalisten, den Gruber sogar körperlich ausfällig werden lässt, wenn er sich nicht mehr zu helfen weiß – über den widerspenstigen Knieriem, der nicht und nicht „brav“ werden will, stülpt Leim eine riesige Pappkarton-Kiste – ein so faszinierender wie einsichtiger Effekt.
Gruber überschwemmt die Bühne geradezu mit Mitwirkenden, zahllose junge Leute wieseln herum, große Rollen müssen allerdings, in Ermangelung von Darstellern, doppelt besetzt zu werden – so mutiert der süffisant-hochmütige böse Geist Lumpazi in Gestalt von Franz Steiner später zum Meister Hobelmann (mit der Selbstgefälligkeit des wohlbestallten Bürgers), und Ottwald John als Feenkönig Stellaris übernimmt es höchstpersönlich, als Hausierer den drei armen Kerlen das große Geld zu bringen…
Nicht ganz so gelungen ist die Szene mit Signora Palpitti und den Töchtern, aber wo das Quodlibet unter den Möglichkeiten bleibt, die man schon oft erlebt hat, ist die „Seitenblicke“-Charity-Party, die sich da abspult (Conchita inbegriffen), eine brillante Satire auf das, was täglich im Fernsehen verschlungen wird – wie die „Reichen“ und „Schönen“ sich unter dem Vorwand der Wohltätigkeit unterhalten, bzw. eigentlich langweilen, aber unbedingt dabei sein müssen… Ein Pop-Konzert als teuflische Party ist da auch schon mal drin. Radikal genug. Sonst zeigt sich der Abend in politischen Randbemerkungen weniger scharf, als man es von Peter Gruber gewöhnt ist.
Wie man weiß, musste Nestroy sich den bürgerlichen Zwängen seiner Epoche beugen und durfte Knieriem und Zwirn nicht in ihre selbst gewählte Elends-Freiheit entlassen, sondern musste auch aus ihnen brave Familienväter machen. Gruber hängt diese Sequenz in Form eines Werbe-Videos (wie jene für die bekannte Möbelfirma) an, wo die scheinbar glücklichen Väter, von kreischenden Kindern umgeben, mit den Zähnen knirschen… Lumpazi kann sich da nur entfernen: Das ist nicht mehr seine Welt.
Aber Nestroy hat man gesehen – wieder einmal wurde bewiesen, wie sehr er, ungeachtet der Distanz von fast 200 Jahren, direkt zu uns spricht.
Renate Wagner