Nikolaus Harnoncourt:
ÜBER MUSIK
Mozart und die Werkzeuge des Affen
Herausgegeben von Alice Harnoncourt
144 Seiten, Residenz Verlag, 2020
Nikolaus Harnoncourt zählt zu jenen Persönlichkeiten, die mit ihrem Tod absolut nicht aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden sind. Zu lange hat er das Musikverständnis eines Teils der Musikfreunde geprägt – mit einem Modewort könnte man ihn einen „Influencer“ nennen. Keine Frage, dass seine treuen Anhänger zu einem Buch greifen werden, das von seiner Witwe Alice Harnoncourt herausgegeben wurde und den schlichten Titel „Über Musik“ zu dem aggressiven Untertitel „Mozart und die Werkzeuge des Affen“ trägt.
Es handelt sich um eine Sammlung von Artikeln und Reden, die sich im Nachlass des Künstlers gefunden haben, der „ständig über Musik und Musizieren nachgedacht“ hat, wie Alice Harnoncourt schreibt, der ebenso Theoretiker war wie Praktiker. Es ist ein weit gespanntes Repertoire von Themen, das sich da findet, von der Aufführungspraxis, zu der er so viel zu sagen hatte, bis zu jenem Mann, der das Schwergewicht des Buches bedeutet, nämlich Mozart.
Dass die Aufführungspraxis des 20. und gar unseres 21. Jahrhunderts eine grundsätzlich andere ist als noch bis zum 19. ergibt sich aus der Tatsache, dass damals nahezu ausschließlich zeitgenössische Musik aufgeführt wurde. Es gab keine Stilfragen bezüglich der Vergangenheit, alles war gewissermaßen Gegenwart. Erst wir werfen den „historischen“ Blick in die Vergangenheit mit der Frage „Wie war es damals?“. Und mit dieser Frage hat ja Harnoncourt die Interpretation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschieden geprägt…
Was ist nun „Werktreue“? Haben die Komponisten sie über die Noten hinaus überliefert? Dürfen Interpreten Änderungen vornehmen (etwa Uminstrumentierungen)? Darf man Werke nach Gutdünken verändern, um sie für die Gegenwart gefälliger zu machen?
Harnoncourt übt viel und, wie man meint, berechtigte Kritik. Etwa, wenn er der Gegenwart vorwirft, dass sie „immer nur das Bekannte wieder hören will“, das die Programme der Konzerthäuser von New York bis Wien bestimmt. Oder wenn er den Mangel an Musikunterricht moniert. Stark ist sein Interesse an alter Musik, deren Entwicklung er historisch nachzeichnet. Er erklärt, wie die „Terz“ entdeckt wurde; was Dur und Moll bedeuten; warum Monteverdis Opern ein so einschneidendes Ereignis waren; er fragt, ob Musik „schön“ sein muss.
Und schließlich kommt Wolfgang Amadeus Mozart an die Reihe, von dem es kein „definitives“ Bild in der Biographik gibt, sondern nur die Interpretationen, die die Autoren ihm angedeihen lassen – oft nach Gutdünken und mit blankem Voyeurismus. Auch fragt er, mit welchem Recht sich die Nachwelt in die Intimsphäre eines Genies drängt, „die wir nicht verstehen und in der wir nichts zu suchen haben?“ Vater Mozart zu verurteilen, seine Gattin zu verteufeln, ist einfach (wobei für den Autor selbst deren Geschäftstüchtigkeit, Mozarts Erbe auszubeuten, einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt – so ganz kommt er um die Interpretation des Biographischen nicht herum).
Legitim erscheint Harnoncourt jedenfalls nur die Beschäftigung mit Mozarts Musik – und das Glück, das man daraus zieht. Musik, die Mozart als solche schuf und nicht als private „Aussage“. Musik, die auf Bestellung komponiert wurde und dennoch in die Tiefen des Menschlichen jener Figuren stieg, die er schuf. Musik, die – und das ist das besondere Anteil des Autors – zu Mozarts Zeiten Bestandteil des Lebens war. „Indem wir die Musik aus der Mitte unseres Lebens gedrängt haben, haben wir den größten Schatz weggeworfen, der uns geschenkt war.“
Renate Wagner