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NEW YORK – WIEN / Die Met im Kino: LUCIA DI LAMMERMOOR

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Fotos: metopera

NEW YORK – WIEN / Die Met im Kino: 
LUCIA DI LAMMERMOOR von Gaetano Donizetti 
21.
Mai 2022

Jetzt weiß man, warum es „Simmering“ war. Regisseur Simon Stone erzählte in der Pause der „Met“-Übertragung seiner „Lucia di Lammermoor“-Inszenierung, dass er immer spezifisch an das Publikum denke, für das er arbeite. (Nicht jeder Regisseur hält so rein…) Also bot sich ihm für den Wiener „Wozzeck“ der Arbeiterbezirk Simmering als Ambiente an, wobei ich persönlich die Lösung, von einem Sub-Milieu ins andere zu „übersiedeln“, gar nicht so übel fand wie mancher Kritiker. Es entbehrte jedenfalls nicht einer gewissen Logik.

Was aber, wenn Simon Stone – hiermit das Met-Publikum sozusagen fast erstmals mit „Regietheater“ in vollem Ausmaß konfrontierend – die Sir Walter Scott-„Lucia“ aus dem 17. Jahrhundert in Schottland und aus ihrem adeligen Umfeld in das Amerika von heute versetzt, in eine Unterschicht-Welt verarmter oder a priori proletarischer Weißer, die in den USA selbst als „White Trash“ bezeichnet werden? Kann so etwas funktionieren?

Nun gibt es ein schönes jüdisches Sprichwort, das besagt, „As ma brav ist, darf ma alles“, sprich: Wenn man es richtig macht, ist alles möglich, und man muss Simon Stone zugestehen, seine Übertragung so überzeugend durchgeführt zu haben, dass man dem Dirigenten Riccardo Frizza nur zustimmen kann, der im Pausengespräch meinte, „Lucia“ könne zu jeder Zeit und überall spielen, wenn die Gefühle stimmten.

Wenn man sich also als Zuschauer darauf einlässt (nolens, volens, es bleibt einem ja nichts anderes übrig), so stimmt sogar die Story, auch wenn sie in irgend einen kleinen Ort in Michigan versetzt wird. Freilich, wenn Autos herumstehen und man in offene Räume blickt, dazu viel „Rundherum“ auf der Drehbühne (inklusive Shops mit ihrer Werbung, ein Wasserwerk und ein Autokino), könnte man sich in einem der sinnlosen Plunder-Bühnenbilder von Frank Castorf wähnen, aber die Set-Designerin Lizzie Clachan ist so geschickt vorgegangen, dass alles auf der Drehbühne seine Funktion hat und zur Stimmung beiträgt.

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Selbst wenn man nicht unbedingt über der Szene noch eine riesige Videowand bräuchte, wo das Geschehen entweder abgefilmt oder mit komplementären Material bestückt wird, so erfüllt das doch auch immer wieder seinen dramaturgischen Zweck – wobei man in der Filmübertragung vermutlich den Vorteil hatte, nicht permanent mit dem „Doppelbild“ konfroniert zu sein wie die Live-Besucher. Von Zeit zu Zeit allerdings möchte man dem Regisseur doch Überfrachtung vorwerfen (wenn man so sehr grübelt, welcher alte Stummfilm da hinter der Szene von Lucia und Edgardo läuft, dass man ja doch ziemlich  abgelenkt ist…).

Stone hat die Figuren überzeugend umgesetzt: Lucia, nicht das fragile Mädchen, sondern eine starke junge Frau, die sich Hals über Kopf in Edgardo verliebt, als er sie bei einem Überfall vor irgendwelchen jungen Gangstern rettet. Dass er – er ist offenbar ein ganz normaler Kerl, mit seinem kleinen Laster unterwegs – wütende Rachegefühle gegen Lucias Bruder hegt, erscheint völlig logisch, denn dass dieser Leute umbringt, traut man dem voll tätowierten, immer leicht schwankenden, meist eine Alkholflasche bei der Hand habenden Kerl ohne weiteres zu. Ein kleiner Gangster, der nebenbei auch noch den Nutten das Geld abnimmt, also Zuhälter auch noch. Dass er die Schwester an einen reichen Mann zwangsverheiratet, der ihm aus seiner finanziellen Misere helfen soll, ist bei so einem Mann jederzeit drin. Und all das ist, das noble Milieu einmal abgekratzt, genau dieselbe Geschichte wie in „Lucia di Lammermoor“ von Scott / Donizetti…

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Nun benötigte Stone innerhalb seines komplizierten, aber in sich stimmenden Settings nur noch Sänger, die als Menschen von heute auf der Bühne durchgehen, obwohl sie Belcanto singen (allerdings mit mehr dramatischem Nachdruck als sonst). Und da konnte die Met drei frappierend großartige  Hauptdarsteller auftreiben. Vor allem natürlich Nadine Serra (die in Wien bisher nur in einem Doppelkonzert mit Pretty Yende aufgetreten ist), die in jeder Hinsicht fasziniert. Zuerst als Darstellerin, die ihre große Liebe mit Kraft auslebt, bis sie unter dem brüderlichen Zwang regelrecht zerbricht. Und dann die Wahnsinnsszene – da arbeitet Stone auf der Videowand mit erträumten Szenen der Glückseligkeit mit ihrem Edgardo, während sie im wahren Leben blutüberströmt herumirrt, auch an der blutigen Leiche von Arturo hantiert und von einer Vielzahl von seinen Doubles erst recht in den Wahnsinn gehetzt wird – ein bisschen irre, aber bitte, das ist Oper! Und Nadine Serra spielt das mit einer Intensität, die schlechtweg atemberaubend ist. Ihre Stimme ist zwar nicht von jener Zartheit, mit der die Gruberova in ihrer besten Zeit die Koloraturen überirdisch perlen ließ, sondern ein kompakterer Sopran, aber technisch souverän und ohne Schwächen, kraftvoll, bombensicher in der Höhe, tadellos in Koloraturen, ohne je den Eindruck eines Virtuosenstücks zu erwecken. Das ist Leiden, einfach tiefes Leiden – und schon lange nicht hat eine Opernleistung so begeistert (vor allem, wenn man reichlich und hochwertiges Vergleichsmaterial für die Rolle in der Erinnerung hat).

Javier Camarena bestätigte wieder das Belcanto-Spezialistentum, für das er berühmt ist, außerdem als Figur gänzlich richtig eingesetzt (als englischer Lord wäre er nicht ganz so überzeugend über die Bühne gekommen), herrlich schön und mit Kraft singend und nur am Ende (wie auch sein Bariton-Kollege) durch den dauernden Totaleinsatz ansatzweise ein wenig heiser klingend – aber angesichts dieser Überzeugungskraft war das gänzlich egal.

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Und Artur Ruciński gab einen Gangster-Enrico, der es in sich hatte, rauchend und saufend, zynisch, angeberisch und spürbar um seine Existenz kämpfend, das war eine absolut tolle Leistung. Dazu sein Qualitätsbariton, der hier völlig richtig eingesetzt war, Stimmschönheit und Brutalität vereinend. Im Grunde hat die Rolle noch nie so viel Profil gewonnen.

Christian Van Horn, kurzfristig eingesprungen, gab dem Raimondo stimmliche Tiefe, noble Haltung und menschliche Anteilnahme, Deborah Nansteel als normalerweise farblose „Begleiterin“ Alisa bekam hier eine richtige Funktion, der Arturo des Eric Ferring plusterte sich auf, wie es reiche Leute tun, selbst Alok Kumar  erzielte in der winzigen Rolle des Normanno mehr Profil als sonst üblich, und der Chor spielte mit, wie man es nicht jeden Tag erlebt.

Riccardo Frizza hat dem Abend, der szenisch keinen Platz für echte Lyrik hat, jene Dramatik gegeben, die der „Lucia“ innewohnt – es ist ja doch Donizettis großartigste Oper, die sich musikalisch doch tatsächlich an das anzupassen schien, was man auf der Bühne sah…

New Yorks Kritikern steht noch ein langer Lernprozeß bevor, den wir schon hinter uns haben (wenn man auch selten zu überzeugen ist) – sie reagierten großteils verärgert und gereizt auf die Produktion. Das Publikum in New York spürte die Funken sprühen und überspringen und jubelte mit mehr Enthusiasmus, als man je erlebt hat. Und der Besucher im (etwa zu zwei Dritteln besetzten) Kino? Der steht am Ende vor der Tatsache, dass eine in USA heute spielende, „White Trash“-Version der „Lucia di Lammermoor“ die interessanteste, aufregendste Inszenierung dieser Oper ist, die man je gesehen hat. Man muss ehrlich sein.

Renate Wagner

 

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