NEW YORK – WIEN / Die Met im Kino:
LA TRAVIATA von Giuseppe Verdi
5.November 2022
Die Metropolitan Opera erstellt ihren Spielplan nicht nach Regisseuren, sondern nach Sängern. Peter Gelb setzt Opern für Künstler an, „Medea“ für die Radvanovsky, jetzt „La Traviata“ für Nadine Sierra, die spätestens nach der „Lucia“ in der vorigen Saison zum Superstar aufgestiegen ist. Die Met macht sich auch ihre Stars selbst, die dann entweder in die Welt gehen (wie zuletzt Lisette Oropesa) oder über Jahrzehnte vor allem dem Haus treu bleiben wie etwa Renee Fleming (und dafür werden sie dann auch gepflegt und dürfen alle ihre Rollen singen). Kurz, in New York glaubt man an die Sänger.
So wie Max Reinhardt ewig gültig formulierte, das Heil könne nur vom Schauspieler kommen, so kommt das Heil in der Oper zu allererst von den Sängern, dann von den Dirigenten und Orchestern und dann vielleicht, vielleicht von Regisseuren, wenn sie mit dem Werken verständnisvoll, respektvoll, liebevoll umgehen. Vergleicht man die Met-Aufführung von „La Traviata“ mit dem, was die Wiener Staatsoper derzeit als dieses Werk ausgibt, kann man auch wieder ermessen, dass Künstler nur zu ihrer vollen Entfaltung kommen, wenn sie nicht ununterbrochen gegen die Dummheit und Hässlichkeit von Inszenierungen ankämpfen müssen.
Die „Traviata“-Aufführung der Met stammt von Michael Mayer und ist erst einmal ein Meisterstückchen an Ökonomie. Ein gleichbleibendes Bühnenbild (Christine Jones), das zentrale Bett, links ein Spinett, rechts ein Schreibtisch, dazu ein immer gleicher, aber durch Licht meisterlich verwandelbarer Hintergrund, und schon ist man überall – in Violettas Palais, als sie noch Geld hat (und die Riesenkamelie in den Lüften ist weniger kitschig als aussagestark), am Land, beim Fest von Flora und im Sterbezimmer.
Fortschrittliche Gemüter (auch unter den US-Kritikern gibt es solche) beklagen den Mangel an „Interpretation“, aber reicht es nicht, das Werk so darzubieten, wie es gemeint ist? Übrigens ist es auch eine weise Entscheidung, die Geschichte (Kostüme: Susan Hilferty) in der Belle Epoque zu belassen, denn dann ist auch logisch und glaubhaft, dass Papa Germont in sturer Bürgerlichkeit die Liebe seines Sohnes zur Kurtisane zerstört, weil nicht sein kann, was nicht sein darf… So steht’s im Stück, so hat es ein Regisseur auf die Bühne gebracht, der keinen Ego-Veitstanz hinlegen muss.
Fotos: Metopera
Einige zusätzlich „Ideen“ sind stimmig – und nicht neu. Die sterbende Violetta zu Beginn – Hans Gratzer hat sie in seiner wunderbaren Volksopern-Inszenierung ähnlich gesehen. Hier „erwacht“ sie zur Ouvertüre quasi von den Toten und wundert sich über die Trauernden rundum… recht poetisch. Dass Germont seine Tochter mitbringt, um Violetta weich zu klopfen, hat man auch schon gesehen, immerhin wird das Mädchen nicht vom Papa misshandelt wie bei Konwitschny, sondern darf dann noch im letzten Akt mit Brautschleier über die Bühne gehen – Violetta hat ihr Versprechen gehalten, sich von Alfredo getrennt, und der Bräutigam von Fräulein Germont konnte ohne gesellschaftlichen Schaden in die Familie einheiraten…
Der Rest ist ganz einfach das Stück, ist vor allem Violetta, weil Nadine Sierra eine Power-Sängerin von nicht alltäglichem Zuschnitt ist. Bewundern wir die großen Stimmen (wie sie auch Lise Davidsen hören ließ, demnächst als Marschallin an der Met)? Oder hätte man für Violetta lieber einen zarteren Sopran? Man muss es nicht diskutieren, jeder Sänger überzeugt (oder überzeugt nicht) so, wie er ist, und Nadine Serra, eine leicht exotische Schönheit mit einer Art von Karibik-Touch, hat kraftvolles, klangvoll strömendes Material, das nur im Forte manchmal ein wenig scharf wird. Ohne Technik geht es nicht, erst recht nicht bei Violetta (sonst natürlich auch nicht), und da sind ihre berühmten blitzenden Koloraturen, die sie nur im ersten Akt braucht, dann ebenso überzeugend wie die starke Lyrik und der dramatische Aufschwung, das tragfähige Piano und schöne Mezzovoce – und vor allem die Selbstverständlichkeit des Singens (am schlimmsten sind ja jene Sänger, um die man dauernd Angst haben muss). Dass sie ein darstellerisches Talent ist, weiß man, es gelingt ihr, die Tragödie der Violetta ohne Pathos nicht nur mit der Stimme zu verkörpern.
Die Selbstverständlichkeit des Singens ist etwas, was Stephen Costello abgeht, der trotz seines italienischen Nachnamens Amerikaner ist und kein Naturtalent, schon gar nicht als Darsteller, wo er steif hinter der Partnerin zurück bleibt. Seinen Tenorpart singt er, immer wieder die Anstrengung hören lassend, die es ihm verursacht, aber er hat die Spitzentöne, wenn auch kein Legato, in das man sich verliebten könnte.
Zweitstärkste Persönlichkeit des Abends war Luca Salsi, der in der Pause erzählte, dass er „Verdi im Blut“ hat, in der Nähe von Roncole geboren ist („dieselbe Luft atmet wie Verdi“) und immerhin 21 Rollen von ihm im Repertoire hat. Glücklicherweise auch den Germont, der sonst oft gerne mit ausgesungenen Baritonen besetzt wird (Domingo in London war besonders peinlich). Salsi ist im Vollbesitz seines vollen, strömenden Baritons, und er spielt einfach den „guten“ Vater, der für seinen Sohn nur das Beste will. Also keine Studie des verkrampften, bösartigen Bürgers, wie wir sie auch schon hatten (Keenlyside ist da sehr gut). Und wenn man der Musik zuhört, so ist das kein Bösewicht.
Der Abend lebte auch von Daniele Callegari, der klassische Fall eines jener italienischen Maestri, die Liebe und Erfahrung mit stets neuem Elan verbinden. Da ist das Orchester dazu da, die Sänger helfend zu begleiten und seinen Teil an Stimmung (vielfach differenziert) beizutragen. Eine gute Sache, alles in allem, Oper muss nicht hässlich und unverständlich sein. Das Cineplexx Landstraße war rappelvoll, noch ist die Hoffnung nicht verloren, dass die guten, alten Opernzeiten wieder kommen mögen…
Renate Wagner