Fotos: Metopera
NEW YORK – WIEN / Die Met im Kino:
HAMLET von Brett Dean
4.Juni 2022
Die Metropolitan Opera ist unternehmungslustiger und mutiger geworden. Hat man sich früher damit begnügt, das gängige Repertoire mit den teuersten Besetzungen (die allerdings auch oft die besten waren) auf den Spielplan zu setzen, so riskiert man neuerdings neue Opern, sogar Uraufführungen, jedenfalls Werke, die sich nicht a priori „verkaufen“, aber von Anspruch zeugen. Nun hat die Met die Aufführung von Brett Deans „Hamlet“-Oper gekauft, die 2017 in Glyndbourne mit großem Erfolg uraufgeführt wurde.
Christine Goerke, die Gastgeberin des Met-Abends, erinnerte daran, dass Verdi zwar keine Scheu vor Shakespeares Macbeth, Othello und Falstaff gezeigt hatte, sich an einen Hamlet aber nicht heran wagte. Eine leichte Aufgabe ist es schon nicht für den Librettisten, gerade weil das Werk oft genug auf dem Theater gespielt wird, dass man es ziemlich genau kennt.
Zwar „streicht“ sich der „Hamlet“ quasi von selbst, es gibt eine Menge an Haupt- und Staatsaktionen (u.a. die Reise nach England oder das politische Ende mit dem Auftritt von Fortinbras), die man schon im Theater als ausufernd empfindet. Allerdings hätte man nicht erwartet, dass der Librettist Matthew Jocelyn sich sprachlich und dann auch in der Handlungsführung immer wieder so weit vom Original entfernt. „Sein oder Nichtsein“ klingt hier ganz anders als bekannt, und die Figuren etwa von Rosencrantz und Guildenstern werden dramaturgisch anders eingesetzt als bei Shakespeare, verschwinden auch nicht auf der England-Reise (wo Hamlet sie ja eigentlich umbringen lassen will), sondern sind bis zum Ende als Hofschranzen aktiv.
Hamlet und Ophelia sind von Anfang an zwei seelisch schwer gestörte Menschen – schon in der ersten Szene am Hof benimmt er sich bereits, als hätte er schon beschlossen, sich wahnsinnig zu stellen, und sie ist nicht das brave Mädchen, sondern entwischt dem Bruder dauernd, um sich aufdringlich zu Hamlet zu gesellen.
Die berühmten Schwerpunkte des Stücks bleiben bestehen, wenn auch teilweise verändert (es fehlt nur jene Szene, in der Polonius seinen Sohn Laertes mit guten Ratschlägen auf Reisen schickt), aber als Operndramaturgie ist das Werk einigermaßen gelungen (am wenigsten leider die Schauspieler-Szene). Eine Schwäche besteht in einem gewissen Mangel an Ökonomie – vieles wird unnötigerweise gar zu ausgewälzt, der Abend dauert drei Stunden 20 Minuten (bei einer halbstündigen Pause), da ist einiges dabei, was man ganz gut vermissen könnte.
Der australische Komponist Brett Dean, auch Bratschist und Dirigent, Jahrgang 1961, hat bisher für die Bühne nur ein Ballett und die Oper „Bliss“ geschrieben, die auf einem australischen Roman beruhte. Das Abenteuer, in nicht mehr ganz jungen Jahren das wahrscheinlich berühmteste Theaterstück der Welt zu „veropern“ (und gar nicht romantisch wie Ambroise Thomas oder Franco Faccio), war ein ebenso kühnes wie gewaltiges Unternehmen, hat aber schon Früchte getragen: Dieser „Hamlet“ wurde und wird nachgespielt – als relativ überzeugendes Exempel einer Oper, die im heutigen Sinn „modern“ ist, sich aber nicht nur an ein minimales Publikumssegment wendet.
Dort, wo Brett Dean (auch hier ein Mangel an Ökonomie) seinem Werk einen allzu breiten, „dicken“ Orchesterteppich unterlegt, läuft seine Musik Gefahr, eintönig zu werden. Aber immer wieder wird man mit raffinierten Feinheiten des Klanges konfrontiert, die auch auf eigenwilligem Einsatz von Geräuschen beruhen. Es gibt keinen Schöngesang und keine Arien, aber das „Parlando“ des Werks ist ungemein differenziert und ausdrucksstark, wobei der Komponist die Stimmen nie zu wirklich quälenden Sequenzen zwingt – das ist hilfreich für die Sänger und die Zuhörer.
Und wenn das Werk dann noch ausdrucksstarke Interpreten hat wie vor allem Titelrollensänger Allan Clayton, für den Brett Dean diese Rolle geschrieben hat, dann wird man schnell in den nicht a priori angenehmen, aber starken Sog des Werks hineingezogen. Dabei scheint der Brite Clayton, der international meist als Peter Grimes unterwegs ist, auf den ersten Blick nicht unbedingt der Dänenprinz, wie man ihn vom Theater kennt, aber er ist ein Sänger, der über seine rundliche Erscheinung und sein freundlich wirkendes Gesicht schnell hinweg singt, in eine Studie der permanenten Verzweiflung, der man immer gespannt und Anteil nehmend folgt.
Die Met hat nicht nur die Glyndebourne-Inszenierung, sondern auch die meisten Sänger „gekauft“, nur Ophelia und den „Geist“ (der dann auch als Totengräber fungiert) ausgetauscht. Wenn eine Rolle eine so hohe Tessitura und „Wahnsinns“-Koloraturen hat, greift die Met zu Brenda Rae, die sich wieder als ungemein ausdrucksstark erweist, eine Studie der Nerven, der Unsicherheit und schließlich des Wahnsinns, die es in sich hat. Und wenn man bedauert, dass John Tomlinson nicht von Glyndebourne nach New York gekommen ist, lehrt einen doch John Relyea als Geist das Fürchten (und ist ein herrlich unheimlicher Totengräber).
Als schrankenloser Bösewicht mit verbindlicher Miene überzeugt der Claudius von Rod Gilfry, und Sarah Connolly. Anfangs eine eher undurchsichtige Königin, wird im Lauf des Geschehens immer menschlicher. Laertes (David Butt Philip), Polonius (William Burden) und Horatio (Jacques Imbrailo) liefern glaubwürdige Leistungen. Als „Komiker“ sind Aryeh Nussbaum Cohen (Rosencrantz) und Christopher Lowrey (Guildenstern) eingesetzt, ein herrlich törichtes Paar von Countertenören, die allerlei Witziges zu singen und zu spielen bekommen.
Mit den gewaltigen Anforderungen eines mit allerlei unüblichen Instrumenten angereicherten Orchesters, einem mit stimmlich teilweise ebenso unüblichen Anforderungen konfrontierten Chors und den extrem geforderten Sängern kam Dirigent Nicholas Carter souverän zurecht.
Die importierte Inszenierung von Neil Armfield ist nicht darauf ausgerichtet, irgendwelche Experimente oder hintergründige Interpretationen zu zeigen, sondern das Werk zu seiner besten Entfaltung zu bringen. Das Bühnenbild von Ralph Myers ist groß angelegt, mit beweglichen Raum-Elementen (für die Totengräberszene wird vom Schnürboden eine eigene Bühnenebene herunter gelassen), und das alles zeigt nicht Dänemark im Mittelalter, sondern etwa die fünfziger Jahre, was auch die Kostüme (und die Frisur von Getrude) zeigen (Alice Babidge).
Die Inszenierung kann nicht schneller sein als das breit angelegte Werk, aber das Schlußbild mit der Kampfszene Hamlet / Laertes gelingt furios, das wird eine wilde Blutoper, wie sie unter die Haut geht. Bis am Ende der Rest dann in tragischem Schweigen versinkt…
Inklusive der Rezensentin und ihrem Gatten hatten sich gezählte 55 Personen im Village-Kino zu diesem Met-Angebot eingefunden, numerisch zweifellos ein Tiefpunkt. Davon verzog sich eine Handvoll Besucher schon im ersten Teil, und sehr viele kamen nach der Pause nicht zurück. Die Neugierde auf Neues und die Akzeptanz hielt sich also in Grenzen. Bedauerlich. Wenn man sich auf diesen „Hamlet“ einließ, erlebte man immerhin einen eindringlichen, eindrucksvollen Opernabend, der zwar keine Belcanto-Freuden, aber auf andere Art dramatische Opern-Gänsehaut bescherte
Renate Wagner