Stream: New Yorker Philharmoniker am 5.6.2021 in der Cathedral of St. John/NEW YORK
New Yorker Philharmoniker beim Annual Memorial Day Concert
Ausdrucksvolle Melodik
Gemma New. Foto: Wikipedia
Beim traditionelle Annual Memorial Day Concert dirigierte diesmal Gemma New. Das Konzert begann mit dem Adagietto aus Gustav Mahlers fünfter Sinfonie in cis-Moll, der ja mit den New Yorker Philharmonikern in besonderer Weise verbunden war. Still und in sich gekehrt interpretierten die New Yorker Philharmoniker hier diese weltabgewandte Musik in der Art der Weise „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Ganz zart und im Klang von Streichern und Harfe entwickelte sich dieser Traum der Einsamkeit, den Mahler eigentlich für seine Frau Alma schrieb. Ruhig-innige und sanft drängende Melodien behaupteten sich dabei mit starkem Klangfarbenreichtum. Schmerz und Leid schienen überwunden zu sein. Anschließend erklang die „Maurerische Trauermusik“ KV 477, die Wolfgang Amadeus Mozart für feierliche Anlässe seiner Freimaurerloge komponierte. Dem Adagio von nur 69 Takten gaben die Bläser hier den dunklen und weihevollen Ton, der den Klang des vierstimmigen Streicherkörpers geheimnisvoll einhüllte. Die ernste Erhabenheit der „Zauberflöte“ war dabei spürbar. Immer wesenloser erschienen plötzlich die Töne in der gewaltigen Kathedrale, die die Trauer der Hinterbliebenden mit Emphase beschrieben. In den Schlussklängen erschien der Tod dann als wahrer Freund.
Interessant war die Begegnung mit der harmonisch vielschichtigen Komposition „Records from a Vanishing City“ (2016) der Komponistin Jessie Montgomery, wo neben reicher Chromatik auch Glissandi und Staccati wirkungsvoll herausragten. „Fate Now Conquers“ (2020) von Carlos Simon fiel durch schnelle Tempi, fieberhafte Staccati und eindringliche dynamische Abstufungen auf. Sphärenhafte Klangflächen enwickelten sich wie von selbst. Bei beiden Kompositionen fiel die Nähe zu lateinamerikanischer Rhythmik auf. Zum Abschluss folgte noch eine sehr melodiöse Interpretation von Franz Schuberts Sinfonie Nr. 8 in h-Moll, der so genannten „Unvollendeten“, die im Jahre 1822 entstand. Bis jetzt ist nicht geklärt, warum Schubert sie nicht abgeschlossen hat, denn es liegen Skizzen zu einem Scherzo vor. Der erste Satz begann in der Interpretation durch Gemma New und die New Yorker Philharmoniker ganz deutlich mit einer geheimnisvollen Frage. Das mystisch-raunende Weben der Natur wurde hier plötzlich Klang in der subtilen Phrase der Violinen, über der Oboen und Klarinetten das erste Thema anstimmten. Lieblich-träumerisch und gleichwohl schmerzvoll ließ Schubert hier die Regungen einer vom Leben verwundeten Seele Revue passieren. Und obwohl der starke Nachhall in der Kathedrale manchmal ungewöhnlich heftig war, kamen auch die harmonischen Übergänge immer wieder gut zum Vorschein. Die Celli stimmten in berührender Weise jenes zweite Thema an, das die berühmteste Melodie der Welt wurde. Nach dem trotzigen Aufbäumen nahmen die Violinen das Thema auf und formten es zu einem leidenschaftlichen Ausruf. In der Coda versuchte noch einmal das Bassthema eine Antwort auf seine Frage zu finden.
Gemma New leitete die New Yorker Philhamoniker dabei einfühlsam und energisch zugleich. Die aus kurzen Phrasen geschickt entwickelten weitgeschwungenen Episoden arbeitete Gemma New im zweiten Satz Andante con moto facettenreich heraus. Die zweitaktige Einleitung brachte eine schwer niederfallende Figur der Kontrabässe, die von Hörnern und Fagotten dezent begleitet wurden. Nach dem Harmoniewechsel breitete sich in bewegender Weise die Klarinettenmelodie aus – und auch der träumerische Dialog der Oboe mit dem Cello zeigte starke klangfarbliche Wirkung. Bässe und Posaunen übernahmen wuchtig das Thema, bis sich alles in den sanften Regionen von Flöten und Violinen auflöste. Nach leidenschaftlichem Aufbegehren folgte ein berührender Abgesang.
Alexander Walther