Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

NEUJAHRSKONZERTE IN GIESSEN und ST.GALLEN

Neujahrskonzert: Tango!, Stadttheater Giessen, Stream 01.01.2021

«Der horizontale Ausdruck eines vertikalen Verlangens»

Gir

Konzert: https://vimeo.com/490790778

Programm: https://www.stadttheater-giessen.de/fileadmin/Redakteure/images/St%C3%BCcke_2020_21/Programm_Neujahrskonzert_2021.pdf

Das Stadttheater Giessen geht dem klassischen Neujahrskonzert aus dem Weg und stellt eine Live-Aufzeichnung vom 14. und 15. Dezember 2020 im Großen Haus des Stadttheaters Gießen als Neujahrskonzert zu Verfügung. Der Titel ist Tango!, die Melange der Musik der nach Argentinien gekommenen europäischen Einwanderer. Der Tango und die ihm inhärente Leidenschaft symbolisieren, was viele in dieser Zeit vermissen: Kontakt.

Das Philharmonische Orchester Giessen unter seinem Chefdirigenten Florian Ludwig startet mit dem «Blue Tango» Leroy Anderson (1908-1975) mit Schwung und Wohlklang in das Konzert-Programm. Nächster Punkt auf der Suche nach den Ursprüngen des Tangos (George Bernard Shaw: «Der Tango ist der horizontale Ausdruck eines vertikalen Verlangens»), so Ludwig, sind «Polka» und «Sousedská» aus der «Tschechischen Suite» op.39 von Antonin Dvorak (1841-1904), die mit grosser Akkuratesse und Spielfreude wiedergegeben werden. Das nächste Stück auf dem Programm ist Carmens «Habanera», glutvoll dargeboten von der Mezzosopranistin Sofia Pavone. Vorlage für Bizets Stück ist «El arreglito» des Basken Sebastián de Yradier, der die Habanera, einen Tanz afrokubanischen Ursprungs, entstanden aus der Verknüpfung europäischer Contretänze, nach Europa gebracht, wo Bizet sie für seine Carmen genialisierte und ein Stück weit Inspiration des Tangos wurde. Die Mazurka, hier vertreten durch die Mazurka aus «Halka» Stanislaw Moniuszko (1819-1872), gehört ebenfalls zu den Tänzen, die Einfluss auf den Tango hatten. Das Bandoneon, eine deutsche Weiterentwicklung des Akkordeons, ist wohl jenes Instrument, das am engsten mit dem Tango verbunden wird. In «Aconcagua», seinem 1979 uraufgeführten Konzert für Bandoneon und Orchester, verschmilzt Astor Piazzolla (1921-1992), bis heute wichtigster Komponist des Tangos, zahlreiche Einflüsse aus der klassischen Musik mit dem Tango. Am Bandoneon begeistert Per Arne Glorvigen mit virtuoser Spielfreude. Tango ist aber nicht nur der Tanz Argentiniens: zeitgleich trat er in Finnland seinen Siegeszug an. Ist es die Melancholie? Oder die Sehnsucht nach heisser Leidenschaft in der Kälte? Bariton Tomi Wend mit wunderbar warmer Stimme in Comedian Harmonist-Manier und wieder Per Arne Glorvigen am Bandoneon machen den Tango «Satumaa» von Unto Uuno Mononen (1930-1968) zum Höhepunkt des Konzerts. Andres Reukauf (*1972) lässt im Donau-Tango auf faszinierende Art und Weise Walzer und Tango verschmelzen. Das Philharmonische Orchester Giessen kommt auch mit diesem Stück, das allen Hörgewohnheiten widerspricht, bestens zurecht und überzeugt mit knackigem, frischem Klang. Schlusspunkt des Konzerts ist der von Johannes Berauer arrangierte Libertango Astor Piazzollas.

Ein wunderbar leidenschaftliches Konzert!

______________________________________________________________

Neujahrskonzert, Tonhalle St.Gallen, Live-Stream 01.01.2021

 Vom Hectographieren und Demolieren

SINFONIEORCHESTER ST. GALLEN

Internet: https://youtu.be/QpqIpld-vuA

Die Musik der Gebrüder Strauss stehe, so Konzert-Direktor Florian Scheiber, mit ihrer Energie und Lebenslust symbolisch für das beginnende neue Jahr und genau so, mit Energie und Lebenslust, begleitet das Sinfonieorchester St.Gallen unter Leitung von Sascha Goetzel die Zuhörer beschwingt ins neue Jahr.

Die Ouvertüre aus «Eine Nacht in Venedig» (Johann Strauss, 1825–1899), ausserordentlich gefühlvoll dargebracht, markiert den Beginn des Reigens populärer Melodien. Mit der «Demolirer Polka» op. 269 nahm Johann Strauss auf die am 20. Dezember von Kaiser Franz Joseph angeordnete Erweiterung seiner Reichshaupt- und Residenzstadt Wien Bezug. Die Erinnerung daran, dass die Stadtmauern zweimal dem Ansturm der türkischen Truppen standgehalten hatten (zuletzt 1683) und dass bei den Abbrucharbeiten schlecht bezahlte „Gastarbeiter“ aus den Kronländern (Böhmen, Mähren und vor allem Kroatien) eingesetzt wurden, wurde sehr rasch unterdrückt. Johann Strauss war nicht unter den Kritikern der Stadterweiterung. Er widmete vielmehr im November 1862 den Abbrucharbeitern, die man in Wien «Demolierer» nannte, eine adrette Polka und spielte sie nach seiner Rückkehr von der Hochzeitsreise am 22. November 1862 im Alt-Wiener Etablissement „Zum Sperl“ zum ersten Male. Der Schwung der ersten beiden Stücke beflügelt die Wiedergabe der Schnell-Polka «Hectograph» op. 186 (Eduard Strauss, 1835–1916). Wunderbare Hörner eröffnen die Wiedergabe von «Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust» op. 263 (Josef Strauss, 1827–1870). Rasch führen aber die bekannten Melodien den Zuhörer aus dem Wald zurück aufs Tanzparkett. Erneut gelingt es Sascha Goetzel die Dynamiken perfekt zu gestalten und das hochkonzentrierte, enorm spielfreudige Orchester folgt ihm perfekt. In «Perpetuum mobile» op. 257 wird die hochkonzentrierte Spielfreude direkt hörbar. Die nicht wenigen vertrackten Stellen gelingen perfekt. «Perpetuum mobile» ist ein geniales Charakterstück, zusammengesetzt aus der Variationenkette eines nur acht Takte umfassenden Grundmotivs, das mit spielerischer Leichtigkeit das ganze Orchester in eine «klingende Maschine» verwandelt und das die wohl bezwingendste Lösung des technisch unlösbaren Problems der ewigen Bewegung aus sich selbst heraus darstellt. «Und so weiter, und so weiter» würde sie, die vertrackten Stellen, perfekt gelingen, würde nicht Maestro Goetzel die Wiedergabe abbrechen… Zur Eröffnung des Berliner Konzertsaals Königsbau am 19. Oktober 1889 komponierte Johann Strauss einen Konzertwalzer. Der ursprüngliche Titel «Hand in Hand» sollte die politische Verbundenheit des preussischen und des österreichischen Herrscherhauses zum Ausdruck bringen. Vermutlich auf Betreiben seines Berliner Verlegers Fritz Simrock wurde die Umbenennung in «Kaiserwalzer» (op. 437) vorgenommen.

Der zweite Teil des Konzerts beginnt mit dem Walzer «Hereinspaziert!» aus der Operette «Der Schätzmeister» (op. 518, Wien 1904) von Carl Michael Ziehrer (1843–1922). Die lyrischen Stellen gelingen vorzüglichst. Die Polka Mazur «Sympathie» op. 73 (Josef Strauss 1827–1870) bietet in ihrer melancholischen, nur dezent «walzernden» Grundfarbe einen herrlichen Kontrast. Tatjana Schneider übernimmt in den «Frühlingsstimmen» (Johann Strauss, op. 410, Konzertwalzer für Koloratursopran und Orchester) den Sopranpart. Strauss widmete den Konzertwalzer, dessen Liedtext von Richard Genée stammt, der Koloratursopranistin Bianca Bianchi, die «ihren» Part bei der Uraufführung am 1. März 1883 im Theater an der Wien natürlich selbst sang. Bestens verständlich, gelingt Schneider ihre Interpretation recht dramatisch. Der Text zu Carl Millöckers (1842–1899) Erfolgswerk Gasparone stammt ebenfalls von Richard Genée (und Friedrich Zell). Mustergültig interpretiert Shea Owens Erminios „Dunkelrote Rosen bring‘ ich, schöne Frau“, das eigentlich aus der zwei Jahre später uraufgeführten Operette „Der Vizeadmiral“ stammt und erst 1931 durch eine Bearbeitung den Weg in den «Gasparone» fand. Mit der wunderbar gefühlvoll vorgetragenen, vorletzten Nummer aus Lehárs «Die lustige Witwe», «Lippen schweigen», beginnt das Finale des Silvesterkonzerts. Mit der Schnellpolka «Banditen-Galopp» (Johann Strauss, op. 378, nach Motiven der Operette Prinz Methusalem) werden die Zuhörer, nach den Zugaben «An der schönen blauen Donau» (Johann Strauss, op. 314) und Radetzky-Marsch (Johann Strauss Vater, op. 228) ins neue Jahr entlassen.

Mögen sich Musizierende und Zuhörende die Energie und Lebensfreude fürs neue Jahr möglichst lang bewahren!

01.01.2021, Jan Krobot/Zürich

 

 

Diese Seite drucken