NANCY « DIE FLEDERMAUS », Opéra National de Lorraine, 23.12.2011
Opernball im Theater an der Wien in Lothringen: Glücklich ist, wer vergisst….
Rosalinde Cigdem Soyarslan im Duett mit Eisenstein Klaus Kuttler. Foto: Opéra National de Lorraine
Nancy, Place Stanislas, einer der schönsten Plätze der Welt. Das dort das Ensemble zierende Theater wurde unter der Herrschaft des polnischen Königs und Herzogs von Lothringen Stanislas Leszcynski 1758 erbaut. Das neue Haus von Joseph Hornecker 1919 eingeweiht. Auf jeden Fall spielt man jetzt in Ko-Produktion mit dem Theater an der Wien „La Chauve-Souris“, wie unsere österreichische „Nationaloper(-ette)“ Fledermaus in frz. Sprache heißt. Als Dekor hat der Bühnenbildner Johannes Leihacker sinnigerweise den Innenraum des Theaters an der Wien kopiert, den nun die Melomanen von Nancy als Bühne auf ihrer Bühne sehen können.
In der Regie von Philipp Himmelmann soll das Stück eine Art libertinen Opernball in hermetischer Abgeschlossenheit simulieren. Nur Richard Lugner fehlt noch zum vollkommen verkommenen Klischee. Wir „lernen“: Niemand kann seinen Leidenschaften entrinnen, die in deutscher regietheaterlicher Betulichkeit plakativ und grell auf die Bühne geknallt werden. Da schnurrt und surrt es nur so vor lauter Fetischisten. Dr. Blind als Podophilist (=Fußerotiker) wird von Sören Richter mit einer unglaublichen schauspielerischen Bravour dargestellt. Stimme hat er keine. Martijn Cornet als Dr. Falke und Frosch darf gleich zu Beginn im roten Straps herumhüpfen und später sein „Brüderlein, Brüderlein und Schwesterlein“ auf der Diskokugel schwingend singen wie weiland Nicole Kidman im fabulösen Film „Moulin Rouge“. Die Ouverture wird als „Reise nach Jerusalem“ mit Strip Tease Zwang für den Verlierer Falke illustriert. Damit klar ist, warum die „Fledermaus“ sich rächen muss. Natürlich hat Eisenstein – von Klaus Kuttler stimmlich ziemlich rollendeckend interpretiert, in der Höhe verhärtet sich sein Bariton leider zunehmend – ein Verhältnis mit Adele. Netta Or singt diesen Part eindringlich und mit sicherer Koloratur. Rosalinde in Strapsen betrügt ihren Mann sichtlich auf das Munterste mit Alfred (Erich Huchet). Vokal ausgezeichnet: Die in Wien ausgebildete, blendend aussehende türkische Sopranistin Cigdem Soyarslan singt den Czardas mit fulminanter Höhe, in den unteren Lagen fehlt es allerdings etwas an Volumen und Biss, um das Rüstzeug zu einer wirklich allerersten Operettendiva zu haben.
Warum in einer aus Wien kommenden Produktion Ida (vulgär Swintha Gersthofer) eine Berliner Schnauze haben muss, ist mir allerdings ein Rätsel. Der Gefängnisdirektor Franck wird vom Elsässer René Schirrer trefflich auf die Bühne gewuchtet.
Max Emanuel Cencic lädt gerne Gäste ein. Fotos: Opéra National de Lorraine
Letztendlich lohnt für einen in Paris lebenden Österreicher die Reise allein wegen Max Emanuel Cencic, der das Publikum mit einem wahrhaft dekadenten Prinzen Orlofsky auch stimmlich souverän zu seinem Feste lädt. Cencic als mit Abstand bester und glamourösester österreichischer Countertenor, hat es in Frankreich mittlerweile zu Kultstatus gebracht. Seine zuletzt mit Philippe Jaroussky unter Begleitung von William Christies Les Arts Florissants veröffentliche CD „Duetti“ wurde in wenigen Wochen schon mehr als 40.000 mal verkauft. Cencic klangvolle, fleischige Altstimme wird auch den deftigen Couplets Orlovskys mehr als gerecht. Wenngleich man sich als Pariser Opernfreund schon auf seinen Farnace am 10. Jänner im Théâtre des Champs Elysées freuen darf. Max Emanuel Cencic ist nicht nur ein absoluter Ausnahmesänger, er ist wie seine berühmte Kollegin Bartoli auch Schatzgräber und Wünschelrutengänger in barocken Musikarchiven. 2012 wird er als Weltpremiere Leo Vincis „Artaserse“ als Produzent und auch gesanglich in der Hauptrolle (wieder mit Jaroussky) aus der Taufe heben und damit auf Europatournee gehen.
Fazit des Abends: „Der Tanz auf dem Vulkan“, wie Regisseur Himmelmann das wortreich im Programmheft erläutert, findet letztendlich weder auf der Bühne noch im Orchestergraben statt. Auch wenn der aktualisierende Vergleich des Hier und Heute mit der Weltwirtschaftskrise im Grunde leider nur allzu richtig ist, irrt Herr Himmelmann über ihre gesellschaftlichen Auswirkungen. Das Wesen dieses urösterreichischen, ein wenig altmodisch gewordenen Theaterwunders von Johann Strauss Sohn bleibt ihm fremd. Für ihn ist die soziale Realität so, dass die Menschen um ihr zu entfliehen, von einem Fest zum andern eilen, am Ende ohne Freude. Und meint, man könne diese Atmosphäre des fin de siècle mit der Stimmung heute in Zusammenhang bringen. Die Menschen weigerten sich, die Gesellschaft in Frage zu stellen und bauten sich deshalb eine geschlossene Welt, in der Verführung, Feste, Tanz und Ehebruch herrschten. Das ergibt eine Gesellschaft der Exklusion, gewalttätig, unproduktiv, wo jede Liebesbeziehung zu einer fragilen Unmöglichkeit in einem Maskenspiel der Genien wird.
Ich würde Himmelmann empfehlen, seine Augen auf die Welt zu richten, wo mehr denn je eine desillusionierte Jugend aktiv und mit Zukunftsglauben das Establishment bekämpft und korrupte Herrscher verjagt. Die Zeiten stehen nicht auf Festivitäten und Weltuntergang, sondern auf Umbruch und eine lebensbejahende offensive Auseinandersetzung mit alten Werten und Traditionen. Und da ist der Opernball als Metapher ebenso unpassend wie eine – ach wie banal – nach außen gestülpte Wiener Gürtel-“Erotik“, die heute keinen Menschen mehr hinter dem Ofen hervorlockt. Das tut auch das völlig unsinnige „Froschballet“ beim Prinzen Orlovsky nicht (Choreographie: Thom Stuart). Beweis? In Nancy, wahrlich keine Weltstadt, wird das „provokante“ Spektakel am Ende brav beklatscht. Wobei das Stadttheaterpublikum, das sich zu Recht amüsieren will vor Weihnachten und es in Maßen auch kann, die freundliche Aufnahme der Darbietung ebenso dem Orchestre symphonique et lyrique und dem Chor der Opéra National de Lorraine zuteil werden lässt. Es ist keine Beckmesserei, anzumerken, dass die gestenreiche musikalische Leitung des Patrick Davin so manchen störenden Wackler im Getriebe mit der Bühne produziert. Strauss klingt hier am Ende halt so wie ein mittlerer Offenbach.
Insgesamt ein zumindest szenisch fragwürdiges Unterfangen, diese „Fledermaus“, deren Regie wie ein Kaugummi auf der Schuhsohle der allesamt bemühten Protagonisten pickt. Mit dem Stück und der Musik, deren Finessen eben nicht zuletzt darin bestehen, nicht Alles zu zeigen, sondern in Andeutungen, augenzwinkernder Scheinheiligkeit, aber auch etwas schmieriger Eleganz eine bürgerliche Schutz-Fassade zu zimmern, hat das alles nichts zu tun.
„Champagner schwemmt mitunter gar mancherlei hinunter“ ist auch die treffliche Devise nach der Aufführung. Dui-du, dui-du, la la la…
Dr. Ingobert Waltenberger