Im Portrait: MYRIAM SIMON – „einfach machen……“
Tänzerin mit besonders reichhaltigen Erfahrungen
Myriam Simon. Copyright: Roman Novitzky
Als Myriam Simon nur 5 Monate nach ihrem Wiedereinstieg infolge ihrer Babypause in der abendfüllenden und fordernden Rolle der Tatjana in John Crankos „Onegin“ im Februar wieder auf der Bühne stand, blieb zwar das Manko noch nicht wieder voll erlangter Kräfte nicht verborgen, doch nicht allzu oft gelingt es Tänzern mit einer unablässig fesselnden Rollengestaltung über technische und formelle Belange so hinweg sehen zu lassen, wie es nun bei ihr der Fall ist. Sicher trägt dazu auch ihre generell aparte, ausgeprägt attraktive Erscheinung bei, in deren Gesicht sich mädchenhafte und inzwischen auch frauliche Züge mischen, und hinter deren zartgliedrigem Körperbau nicht auf Anhieb so starke charakterliche Verkörperungen zu vermuten sind. Ein Blick auf ihren Werdegang zeigt indes, dass ihre Theaterleidenschaft noch vor der für den Tanz geboren wurde, und die Mittdreißigerin für ihren Beruf über viele Stationen hinweg viele Kräfte investieren und kämpfen musste, bis sie ihr Wunschziel Stuttgarter Ballett endlich erreicht hatte.
Es dürfte wenige Ballett-Tänzerinnen geben, die in ihrer ohnehin kurzen Karriere so viele Stationen durchlaufen haben. Irgendwie passt dazu auch ihre nicht geradlinige, sondern aus mehreren Kulturen gespeiste Herkunft. Als Kind eines tunesischen, also französisch-sprachigen Vaters und einer spanischen Mutter ist sie in Montréal in Kanada mit zwei Muttersprachen aufgewachsen und hat schon früh ihre Leidenschaft für die Bühne entdeckt. Allerdings zunächst für das Theater, befand sich doch in der Nähe ihres Zuhauses die bedeutendste Schauspielschule der Stadt. Ihr spielerischer Drang, auch vor anderen Kindern, mündete in ihren festen Entschluss, für die dortige Aufnahme vorzusprechen. Mit 13 Jahren war sie indes noch zu jung, doch das nächste Interesse war bald gefunden, befand sich doch im gleichen Stadtquartier auch die Ècole Supérieure de Danse du Quebec, wo Myriam durchs Fenster beim Training zuschauen konnte. Zu ihrer Überraschung wurde sie beim Vortanzen für die Hobby-Klasse für das „Professional Program“ angenommen, weil sie die richtigen Voraussetzungen hatte, Ballerina zu werden. Das dortige Unterrichtsprogramm aus klassischem und Charakter-Tanz reichte ihr nach zwei Jahren nicht mehr aus, weshalb sie sich – übrigens ohne ihre Eltern, die sich einen seriöseren Beruf für die Tochter wünschten, zu informieren – bei der National Ballet School in Toronto anmeldete, prompt reussierte und in vier Jahren eine umfassende Ausbildung inklusive modernem Tanz, Tanzgeschichte und weiteren akademischen Fächern genoss. Parallel dazu wurde sie bei Vorstellungen von Kanadas führender Ballett-Compagnie, der damals Reid Anderson vorstand, mit jenem Quartett an Tanzpersönlichkeiten wie Margaret Illman, Yseult Lendvai, Robert Tewsley und Vladimir Malakhov vertraut, das Anderson 1996 mit nach Stuttgart genommen hatte. Von da an sah Myriam das Stuttgarter Ballett als Zielpunkt, musste aber erst 1998 ihren Abschluss machen, bis sie sich bewerben konnte. Andersons Nachfolger James Kudelka hatte an ihrem großen Talent Interesse, gab ihr jedoch aufgrund ihrer mit sechs Jahren ungewöhnlich kurzen Ausbildung schließlich doch kein Engagement.
In MacMillans „Requiem“ – Lichtgestalt auf der Bühne. Copyright: Stuttgarter Ballett
Von Toronto über China, Belgien und Portugal nach Deutschland
Durch Reisevertreter des Guangzhou-Balletts, von denen sie sich anwerben ließ, kam die damals gerade 19jährige nach China, sah indes dort trotz einiger Lernanreize aufgrund der Lebensumstände, der schwierigen Verständigung und unsicherer Kontakt-Möglichkeiten nach Hause keine Zukunft. Zurück in Kanada, dachte sie noch einmal gründlich über ihren Beruf nach, überbrückte die Zeit als Kellnerin in einem italienischen Restaurant und kam zu dem Entschluss auf jeden Fall tanzen zu wollen. In Europa, in Stuttgart. Also kontaktierte sie Jason Reilly, den sie noch aus der Schule in Toronto kannte, und der inzwischen in Stuttgart engagiert war. Ein erstes Vortanzen bei Reid Anderson scheiterte an ihrer diagnostizierten Unreife für das Stuttgarter Ensemble. Stattdessen wurde sie zu Uwe Scholz nach Leipzig empfohlen, der allerdings zum damaligen Zeitpunkt 1999 krankheitsbedingt kaum vor Ort war, und dessen Choreographien alleine ihr zu einseitig erschienen. Ihre nächste Station Hannover endete bereits nach einem Jahr, weil ein Leitungswechsel zu zeitgenössischem Repertoire ihr Ende als klassische Ballerina bedeutet hätte. Ein weiterer Versuch in Stuttgart war nicht erfolglos, doch hätte sie bis zu einem Bescheid zu lange warten müssen – stattdessen nahm sie ein Engagement beim Königlichen Ballett von Flandern in Antwerpen an. Dort herrschte nicht nur ein großer Druck des Einhaltens des Gewichts-Indexes bei Tänzerinnen, auch die dominierende Stellung der Direktorsgattin als Primaballerina ermöglichte es nur schwer, an größere Rollen zu kommen. Bei der nächsten Station, der Companhia National de Bailado Lissabon, Portugals einziger klassischer Compagnie, wo der Direktor ihrer Zeit in Hannover inzwischen die Leitung übernommen hatte, bot wohl ein angenehmes Arbeitsklima, aber ein total überaltertes Ensemble und nur wenige Vorstellungen pro Spielzeit hielten ihre Auftritts-Chancen sehr in Grenzen.
Und wie heißt es so schön: aller guten Dinge sind 3! Der dritte Versuch in Stuttgart klappte. So war Myriam, oder Mimi (wie sie aufgrund der Namensgleichheit mit einer Ersten Solistin genannt wird) 2005 endlich an ihrem Wunschziel angekommen. Trotz ihrer bis dahin reichhaltigen, gesammelten Erfahrungen musste sie im Corps de ballet beginnen, denn größere Solo-Partien hatte sie an keiner der erwähnten Stationen getanzt. Doch bereits im zweiten Jahr schlug ihre große Stunde, als sie John Neumeier für die Olympia seiner „Kameliendame“ auswählte, wo sie ihre beiden Leidenschaften Tanz und Schauspiel vereint zeigen konnte und wie so viele Tänzer von den detailgenauen Erläuterungen des berühmten Choreographen fasziniert war. In dieser Episoden-, aber doch nicht ganz unwichtigen Rolle kam schon jenes subtile Charakterisierungsvermögen zum Vorschein, das auch allen ihren inzwischen nachgefolgten Partien eine feingliedrige Interpretation angedeihen ließ. Noch vor der Titelrolle in Neumeiers Dumas-Ballett folgte die Tatjana in „Onegin“ an der Seite ihres vertrautesten Partners Evan McKie, der Stuttgart leider inzwischen verlassen hat.
Neue Gefühle nach der Babypause
Als Myriam Simon als Tatjana nur 5 Monate nach ihrer Rückkehr aus der Babypause wieder auf der Bühne stand, erlebte sie ganz neue Gefühle beim Tanzen, beim Gestalten der Rolle. Ihr kleiner Sohn Marlon hat die Wirkung einer Welle gehabt, schwärmt sie, ihren Beruf kann sie jetzt noch mehr genießen, indem sie sich sagt, einfach tanzen zu gehen und dies nicht als Arbeit zu empfinden. Auch wenn sie sich an ihren neuen Onegin-Partner erst gewöhnen musste, spürte sie doch, wie sie die verschiedenen Situationen der Handlung mit mehr Ruhe meisterte und es ihr, obwohl älter geworden, leichter fiel, die junge schwärmerische Larina-Tochter zu sein. Als in den Adel eingeheiratete Frau stellt sie sich vor Kinder zu haben, was es ihr erleichtert, für Gremin volles Verständnis zu haben und ihn nicht verlassen zu können. Daraus resultiert auch ihre Stärke in der letzten Begegnung mit Onegin. Wie ihre Gefühle durch dessen flehentliche Avancen unter dieser Gefasstheit in Wallung geraten, zeigt sie in einer so spannungsvollen Dichte, dass die Augen unablässig auf sie gerichtet sind. Im Zurückbleiben Tatjanas, meint die Tänzerin, liege so viel Traurigkeit und Einsamkeit in der Gewissheit, den Mann ihrer einstigen Liebe verloren zu haben.
Kaum weniger faszinierte sie im komischen Fach als Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“, wo sie 2011 mit ihrem Petrucchio Alexander Jones große Nerven bewiesen hatte, als sie aufgrund von Verletzungen im Ensemble nach einer Nachmittagsvorstellung noch die abendliche Aufführung übernehmen musste. Da kam die kämpferische Seite in ihr zum Vorschein; als ob es nichts zu verlieren geben würde, setzte sie das erhöht ausgesandte Adrenalin in eine so umwerfend aufs Ganze gehende Erfüllung der Rolle um, dass man sich fragte, wie ein Mensch das rein konditionell durchstehen kann.
Äußere Ästhetik und innere Leuchtkraft
Von der auffallenden Ästhetik ihres Wesens und der Fähigkeit Inneres nach außen strahlen zu lassen profitieren nicht nur ihre weiteren Handlungs-Partien wie die Marguerite Gauthier, Myrtha, die Fliederfee, die Lady in „The Lady and the fool“, die Schöne in „Poème de l’extase“, auch im abstrakteren Repertoire gewinnen die Rollen an Leben und Aussagekraft. Katarzyna Kozielskas „Symph“ möge dafür stehen, wie eine Tänzerin ihren Höhenflug im Rahmen einer ausgedehnt langen Hebung ätherisch bezaubernd auskostet. Oder wie sie den geistigen Hintergrund, die religiöse Symbolik in MacMillans „Requiem“ (Fauré) zu einer alles überragenden Lichtgestalt bündelt. Ein Stück, bei dem immer eine ganz spezielle Atmosphäre auch hinter der Bühne herrscht, betont Myriam Simon.
Charakterpartien ergänzen ihr Repertoire: eine psychisch labile, total eingeschüchterte Emilia in Neumeiers „Othello“, eine der verschüchterten Töchter in MacMillans „Las Hermanas“ oder die labile Königin Gertrud in Kevin O’Days „Hamlet“.
Seltsamerweise ist die Julia ganz an ihr vorbei gegangen. Sie hat zwar alle Schritte während ihrer Zeit beim Ballett in Lissabon gelernt, zu einer Bühnenrealisierung ist es trotz der dauerhaften Präsenz im Stuttgarter Repertoire jedoch bis heute nicht gekommen. Warum weiß sie selbst nicht, es gibt keine Gründe, sie für diese Partie nicht zu besetzen. Noch ist es nicht zu spät. Ihr dringlichster Rollenwunsch gilt jedoch ihrem ersten gesehenen Ballett „Giselle“, und weil dieser Klassiker so alle drei Jahre wieder auf die Stuttgarter Bühne zurück kehrt, besteht Hoffnung, dass dieser Traum noch in Erfüllung gehen kann.
Aus Myriam Simon spricht die Dankbarkeit für alles was sie in den letzten 10 Jahren in Stuttgart lernen konnte, was sie an Unterstützung bei der Erarbeitung ihres Repertoires erhalten hat und auch für alle kleineren Aufgaben, die dabei waren. Jede Rolle und jede Vorstellung zählt, egal wie groß sie ist und ob sie erst die zweite oder dritte Besetzung war.
Ein Leben ohne Tanz ist für sie noch undenkbar. Natürlich wäre da der mögliche Wechsel zur Schauspielerei, aber um beides weiterhin zu vereinen, käme ja noch das Tanztheater in Frage.
Jetzt hoffen und wünschen wir erst mal, dass Myriam Simon ihr neu gewonnenes Gefühl auf der Ballettbühne noch viele Jahre auf vielseitige Art ausleben und das Publikum mit ihrer Erscheinung und ihrer natürlichen Darstellungskraft faszinieren kann.
Udo Klebes