Münster Theater – L. Bernstein „Mass“ (Messe) – Mass-ive Glaubenszweifel
Premiere 26. August 2023 besuchte Vorstellung 2. September 2023
Foto: Bettina Stöss
Bekanntlich wurde 1648 in Münster und Osnabrück nach 30 Jahren verheerenden Kriegs der „Westfälische Frieden“ geschlossen. Daran wurde letztmalig zum 350-jährigen Jubiläum ausgiebig in Wort und Schrift erinnert. Das 400-jährige werden die heute einflußreichen Politiker wohl nicht mehr in ihren jetzigen Positionen erleben. Um trotzdem – und das berechtigt – zu erinnern, hat man in diesem Jahr 2023 ein „krummes“ 375-jähriges Gedenken dazwischen geschoben.
Auch beim Theater Münster wird bei jeder Verlautbarung an „peace“ erinnert. Da im 30-jährigen Krieg zumindest vordergründig aber erbittert über religiöse Themen gestritten wurde, und der Friede insofern auch ein Religionsfriede war, wurde die Spielzeit in Münster spartenübergreifend eröffnet mit dem Theatre Piece (Theaterstück) „Mass“ (Messe) für Sänger, (Solostimmen und Chöre), Spieler (grosses Orchester in verschiedenen Besetzungen) und Tänzer von Leonard Bernstein, uraufgeführt 1971 zur Eröffnung des Kennedy-Kultur-Zentrums in Washington DC.
Bernstein vertonte mit seinen kompositorischen Mitteln in einem Stilmix von Jazz, Rock, Blues aber auch expressionistischen Passagen, sogar einem Zitat von Beethoven in einer der „Mediationen“ genanten orchestralen Zwischenspiele, den lateinischen Messtext des römisch-katholischen Gottesdienstes. Dazwischen wurden eingebaut dessen selbstsicheren Aussagen hinterfragende oder widersprechende Texte (Tropes genannt) von Stephen Schwartz und Bernstein selbst. Daß solche Religionszweifel für alle Religionen gültig sein sollten, zeigte etwa die Abwandlung von „sanctus“ in hebräisch „kaddisch“ oder von „Dominus“ in „Adonai“.
Erfreulicherweise ohne überflüssige Aktualisierungen liess Regisseur Tom Ryser das gesamte Stück passend zum Inhalt spielen. Dazu baute Stefan Rieckhoff eine riesige gotische Kathedrale mit bunten spitzbogigen Fenstern, die sich über die gesamte Bühne erstreckte, etwas nachempfunden der Lamberti-Kirche zu Münster. So fand die grosse Anzahl der Mitwirkenden einschließlich der drei Tänzer (Choreografie Lillian Stillwell) dort genügend Platz. In die Mitte wurde ein grosser katholischem Brauch nachempfundener Altar geschoben
Die Messfeier begann schon zwiespältig, indem nach einem Gebet des „Celebranten“ – der Priester am Altar – das „Alleluja“ gesungen wurde vom aus Rock-Sängern, Blues-Sängern und Solostimmen zusammengesetzten „Street Chorus“ kostümiert als Skelette (Kostüme auch Stefan Rieckhoff) Dieser „Strassen Chor“ – zum Teil dann auch in Strassenkleidung – widerlegte in den „Tropes“ die Glaubenssätze, die zuvor vom Celebranten, vom grossen Chor und vom als Messdiener tätigen Knabenchor verkündet worden waren. Passend trugen letztere alle feierliches Weiß. Als Beispiele seien genannt die fff vorgetragene Aussage „Was ich sage, fühle ich nicht, was wirklich ist, weiß ich nicht“ Nach dem „Gloria“ merkte der Street-Chorus an, dass die „Hälfte der Leute voll Rauschgift (stoned) sei, abgesoffen sei oder in die falsche Richtung schwämme. Auf das „Credo“ folgte „Non credo“ und auf die Aussage im Schöpfungsbericht „Gott fand es gut“ die Beschreibung, dass gar nichts gut sei.
Dagegen wollte als einziger Mitwirkender mit persönlicher Entwicklung der „Celebrant“ die Messe im üblichen Ritus abhalten. Schauspielerisch und stimmlich gestaltete der Musical-Sänger Samuel Schürmann souverän alle Facetten dieser riesigen Partie. Den grossen Stimmumfang von hoch bis ziemlich tief und die dynamische Bandbreite zwischen ppp und fff gelangen mit sich noch zum Schluß steigernder Intensität. Zuerst kamen ihm ebenso wie den Chören der Mitfeiernden bereits nach dem „mea Culpa“ des „Confiteor“ erste Zweifel. Später suchte er Sicherheit in einem immer pompöseren Meßgewand, nutzte aber nichts: Wenn Gott seine Schöpfung gut fand, wurde ihm das Gegenteil bewußt. Trotzdem beharrte er mit wiederholten Aufforderungen zum Gebet und nach dem nur von ihm mit einem Finger auf einer fiktiven Klaviatur auf dem Altar begleiteten „Vater unser“ noch, er müsse weitermachen „I go on“ Nach dem „Agnus dei“, als sogar der Chor der Gläubigen nicht „panem“ (Brot) sondern „pacem“ (Frieden) verlangte, änderte sich seine Haltung Nach dem „Ich bin nicht würdig“ stellte er fest, dass gebrochenes Glas heller scheint als heiles, entledigte er sich seines Priestergewandes und warf Kultgegenstände wie Monstranz und Kelch klirrend zu Boden. „Things get broken“ (Alles zerbricht) , auch sein Selbstbewußtsein, mußte er in einem längeren Monolog sich eingestehen.
Danach folgte trotzdem ein Hoffnung verheissender Schluß. Die jetzt weissen Kirchenfenster liessen Licht auf die Bühne. Ein musikalischer Höhepunkt des Abends war dann nach der vorherigen teilweise vollen Musical-Dröhnung von Orchester und „Street Chorus“ der ganz zurückgenommene zunächst nur von Harfe und Flöte begleitete „simple song“, mit dem der Abend begonnen hatte – jetzt als Duett zwischen dem früheren Celebranten und dem Knaben-Sopran – der verdient besondere Bewunderung. Nach und nach sangen die Chöre durch den Zuschauerraum das Theater verlassend das auch zu Beginn gesungene Lob Gottes (Lauda, lauda laudé) mit der Bitte um Gnade für alle, aber nicht mehr nach vorgeschriebenen früheren Riten. Das Amen verklang dann im Nichts (dim. al niente)
Stellvertretend für die Solo-Sängerinnen und -Sänger sei erwähnt Katharina Sahmland, die im einleitenden „Kyrie“ aus dem off in stakkato gewagte Koloraturen bewältigte oder im „Thank you“ schönes Legato sang.
Ganz maßgeblich zum Gelingen der Aufführung trugen neben den Solisten des „Street Chorus“ bei Chor und Extrachor des Theater Münster in der Einstudierung von Anton Tremmel sowie der „Boys Choir“ zusammengesetzt aus Schülerinnen und Schülern des Gymnasium Paulinum.(Einstudierung R. Stork-Herbst, M. Sandhäger und J. von Wensierski)
Foto: Bettina Stöss
Das Sinfonieorchester Münster war in verschiedener grosser und kleiner Besetzung zu hören und die Bläser zusätzlich wie die Chöre in weiß gekleidet in wechselnder Stellung auf der Bühne zu sehen. Von letzteren seien hervorgehoben das Horn-Solo vor dem Gebet „Allmächtiger Vater“ das der Oboe oder die Flöten-Soli zu Anfang und Ende bei den „Simple songs“
Ganz entscheidend für den Erfolg der Aufführung war die musikalische Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg. Trotz der häufigen Taktwechsel, der starken rhythmischen Gegensätze, besonders beim umfangreichen Schlagzeug, der fast immer sich bewegenden Chöre, dazu noch ein Teil des Orchesters auf der Bühne, ein Teil im Graben, koordinierte er exakt für das Publikum hörbar das musikalische Geschehen – eine grandiose Leistung!
Ein weiterer „player“ trat ohne Nennung im Programmheft noch vor dem Beginn der Aufführung auf, das war Münster´s Oberbürgermeister Markus Lewe, der vor dem von ihm geladenen Publikum einige Worte über die Bedeutung des Theaters in unserer unruhigen Zeit äusserte. Dieses Publikum feierte die Aufführung mit herzlichem Beifall und Bravos als Dank für diesen ergreifenden Abend.
Sigi Brockmann 4. September 2023
Bernstein „Mass“
Theater Münster
Premiere 26. August 2023 besuchte Aufführung 2. September 2023
Dirigat Thorsten Schmid-Kapfenburg
Regie Tom Ryser
Sinfonieorchester Münster