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MÜNCHEN/ Residenztheater: DON JUAN von Moliere aus dem Französischen von Hartmut Stenzel

mit Texten von, Heiner Müller, Puschkin u.a.

01.10.2018 | Allgemein, Theater

MÜNCHEN/ Residenztheater, 30. September 2018

Don Juan von Molière, aus dem Französischen von Hartmut Stenzel
mit Texten von, Heiner Müller, Puschkin u.a.
Regie: Frank Castorf

Einlassungen von Tim Theo Tinn

Unwirklich–wahr–wahrhaftig – Affekte intensiv erlebter Gefühle

Die Inszenierung nimmt ganz einfach mit – 4 Stunden kosmische Wahrhaftigkeit, über sinnliche Wahrnehmung und rational kognitivem Verstehen hinausgehend. In DRAMATURGISCHE SCHRIFTEN von Tim Theo Tinn – Nr. 3 (s. auch bald insgesamt 5 Ausgaben) von theatralen Möglichkeiten schwärmend, findet sich hier eine begeisternde Variante. (https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/)


v.l. Marcel Heuperman (Pierrot), Aurel Manthei (Don Juan), Jürgen Stössinger (Don Louis), Franz Pätzold (Don Juan) (C) Matthias Horn                                                              

Ankündigung Residenztheater: „Molières Adaption zielt auf den freien Radikalen, dessen Normverstöße aus großer Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftspolitischen, moralischen und religiösen Kodizes gespeist sind. Don Juan gerät hier zum ver­führerischen Atheisten, der an Mathematik statt ans Jenseits glaubt, zum ephemeren Verschwender und Verbraucher, der Gott und König verlacht und über­haupt alle Väter, die auf den (irdischen und himmli­schen) Thronen sitzen. Regisseur Frank Castorf wendet sich somit einmal mehr einer ewig rastlosen „sexuellen Großmacht“ (Brecht) zu, dem die Frauen wie Stern­schnuppen zufliegen und die Erde beklemmend eng ist.“                                                                                                         

Das klingt nach akademischen Belehrungstheater. Tatsächlich ist es aber die pralle-??? Wirklichkeit???? – nein – es sind pralle wahrhaftige Varianten im Spiegel menschlicher Abgründe und Ideale. Nach Goethes Faust – Zitat „Zwei Seelen wohnen Ach! in meiner Brust!“  beginnt die Zerrissenheit zwischen hellen und dunklen Mächten schon in hoher dramaturgischer Durchleuchtung im Text. Es ist ein ständiger Wechsel von rustikaler, derber Umgangssprache zu elaboriert klassisch oft Idealisierendem.  Das ist schon archaisch von Epikur (341-270 v. Chr.) als widersprüchliche Natur der Menschen beschrieben.

 Das intellektuelle Wollen des Vaters  Don Louis zum Guten wird von menschlichen Niederungen bis zur  Koprophilie (Sex mit menschlichen Fäkalien) eingeholt. Das wirkt abartig, ekelig – aber nehmen wir doch den Schleier von menschlichen Verirrungen. Es ist doch so – nur mit Erkenntnis finden wir den Weg zum Guten. Kant: „Kategorischer Imperativ! Wenn der Mensch in der Lage ist, gut sein zu wollen, so soll er auch gut sein sollen.“. Ganz rational: Scheiße ist nicht schön, ‚Scheiße ist tatsächlich biologisch, Scheiße ist rasch abgebaut, Scheiße kann Dünger sein – Was sind chemische Keulen, Plastik- u. Atommüll, Luftverpestung u.a. ? – Kleinerer Scheiß?                                             

Im ersten Bild wird „Grand Guignol“ zelebriert:  Überzeichnung in grotesk-trivialem Grusel und Horror aus dem 18. Jahrhundert vor historischem Theaterchen. Die Überzeichnung bleibt auch in Kostüm und Maske, eröffnet aber immer auch außerzeitliche Blicke.

Im zweiten Bild öffnet sich die Drehbühne vom barockem Betterbudenzauber/Panoptikum zum Ziegenstall mit Anmutung antiken Schäferspiels mit lebenden Ziegen, die optisch Steinböcken nahekommen. Das erinnert an bukolische Dichtung/Schäferdichtung (s. Schäferstündchen)  des 18. Jahrhunderts.

v.l. Julien Feuillet (la Ramée), Nora Buzalka (Charlotte), Bibiana Beglau (Elvira), Marcel Heuperman (Pierrot), Aurel Manthei (Don Juan) – Fotos (C) Matthias Horn – Ziegenstall u. Aufgang

 

Pierrot fantasiert vor dem Stall literarisch in derber Pornografie, Charlotte sitzt im Stall bei den Ziegen – Anmutung Ziegenmelken – aber ohne Ziegen – rhythmisch gleichmäßige Handbewegungen an fiktivem Euter – oder ….?  

Don Juan, den antireligiösen Anarchisten hält es nicht in einem Körper – der kommt doppelt, 2 Schauspieler schaffen diesen Charakter, einen Archetyp. Das erinnert an das Doppelspalt – Experiment der Quantenphysik: (vlg. eine Energie wird ausgesandt und findet sich in zwei Entsprechungen).  Tatsächlich bleibt die Frage, warum dieser Don Juan ständig Frauen erobern will/muss – und kann/ will der menschlich animalischen Triebhaftigkeit nicht nachkommen, indem ihn der Geschlechtsakt nicht interessiert, sich aber in Koprophilie ergeht. Kann der ohne vitalen Orgasmus leben? (aktuelles Zölibat will ich hier nicht erwähnen.) Damit landet diese Interpretation auch in feinstofflichen Bereichen (s. Quantenphysik: Bewusstheit lenkt die Welt): Mensch oder Allegorie energetischer Egozentrik?  

Das 3. Bild offenbart dann Nacktheit, totale Nacktheit aller Don Juans! Nacktheit aller Egozentrik dieser Welt? – Erkenntnis?  – Nacktheit ist der kreatürliche Naturzustand in Unschuld, Einfachheit, unverhüllter Realität und Wahrheit, schutzlosem Ausliefern an höhere Mächte, Befreiung von Konvention und Zwang, der natürliche unschuldige paradiesische Urzustand in kosmischen Mächten.

Die Inszenierung bleibt auf diesem temporeichen, tiefgreifendem Niveau und wird nicht kopflastig. Ein aufregender Ritt mit Ku Klux Klan, Sambatänzerin, Video-Live Übertragungen, Marcello Mastroianni in  La Dolce Vita, Neonreklame, Cola-Automat, Klo mit Louis-Vuitton-Tapete usw. durch eine  ausgezehrte Vorlage der Niederungen, Verirrungen, außergewöhnlich und mirakulös.  Nichtigkeiten in leerem Schein von Eitelkeiten, durch Lügen, Prahlerei, Misserfolgen. Das Vergängliche irdischer Wirklichkeit/Konsensrealität findet mlgw. durch Negation die Wahrhaftigkeit zur Hoffnung auf alles Totgesagte.

  1. Akt: Don Juan: „Die Heuchelei ist ein Laster, das in Mode gekommen ist, und alle Laster, die in Mode kommen, gelten als Tugenden.“

Auch hier Metapher eines Weltbildes, dem die Wahrhaftigkeit verloren gegangen ist, zugunsten einer angepassten Konsens-Realität/Wirklichkeit.


v.l. Nora Buzalka (Charlotte), Marcel Heuperman (Pierrot), Farah O’Bryant (Mathurine), Franz Pätzold (Don Juan), Bibiana Beglau (Elvira), Julien Feuillet (la Ramée) – Fotos (C) Matthias Horn

Gestaltung und Farben erinnern deutlich an Otto Dix – großartig

Der Abend wird durch sanfte Melancholie des Soundtracks zur Personenregie kontrapunktiert, wundervoll. Beispiele:                                                                                                                                  

Chris Isaak – Blue Spanish Sky   https://www.youtube.com/watch?v=xhEH0IKS-c8&index=7&list=PLOEkmDRNEAutii-hQV9GB-BpjCcl_V7Ou                                 

The Grindhouse Blues – Robert Rogriguez https://www.youtube.com/watch?v=S5U3UwR7Dsk&list=PLOEkmDRNEAutii-hQV9GB-BpjCcl_V7Ou&index=8

THE MAVERICKS – BLUE MOON https://www.youtube.com/watch?v=8bKUBNFhW3g&list=PLOEkmDRNEAutii-hQV9GB-BpjCcl_V7Ou&index=9

Die Videoübertragung durch Live-Kameras ist lebendiger inspizierender Bestandteil der Aktivitäten und nicht Alternative als alleiniges darstellendes Medium, das die eigentliche Aufführung unterbricht. Sie durchdringt mit lebendiger Szene den dramatischen Verlauf, indem die Personen auf der Leinwand aus der Szene auf die Bühne kommen, sich live selbst doppeln usw. Wie sollte man sonst die Verrohung der Figuren in anwidernden Großaufnahmen z. B. beim Mampfen und Deklamieren transportieren? 

Die Schauspieler im Kosmos Frank Castorf sind alle von außerordentlich artifizieller Natürlichkeit geprägt, das sind besondere vitale Portraits geformter Humanoiden oder energetischer Momente, wenn wir feinstoffliche Transformation annehmen, einbeziehen wollen.

Erstaunlicherweise dürfte die Aufführung um ca. 30 Minuten gekürzt worden sein. Das ist zu bedauern, zumal keinerlei Hinweis existierte, sie aber deutlich früher endete als vorgegeben.

Irritierend war die Stückeinführung vor der Vorstellung: es gab einen an Wikipedia orientierten Vortrag zur Werkgeschichte des Don Juan von Moliere, entschuldigende Hinweise zu nackten Darstellern, pornografischen Texten und dbzlg. Zuschauerbeschwerden. Der Rezensent hätte sich über vorbereitende Informationen zur dramaturgischen Funktion gerade dieser Themen gefreut und so auch die Notwendigkeit gerade dieser Inhalte in dieser Inszenierung erfahren. Damit wäre auch unbelasteten Zusehern der Zugang erleichtet.

Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki,

Mit: Bibiana Beglau, Nora Buzalka, Julien Feuillet, Marcel Heuperman, Aurel Manthei, Farah O’Bryant, Franz Pätzold, Jürgen Stössinger.

  1. Oktober 2018

Tim Theo Tinn berichtet aus dem Residenztheater München

 

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