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MÜNCHEN/ Prinzregententheater: ORLANDO PALADINO – Dramma eroicomico. Komponist Joseph Haydn. Premiere

Untergriffiges Entertainment in Blödel-Inszenierung. Betörend: Gesang, Dirigent, Orchester

24.07.2018 | Allgemein, Oper


Copyright: Bayerische Staatsoper/ Wilfried Hösl

Prinzregententheater München, Orlando Paladino –Dramma eroicomico

Komponist Joseph Haydn · Libretto von Nunziato Porta

Premiere am 23. Juli 2018

Untergriffiges Entertainment in Blödel-Inszenierung

 Betörend:  Gesang, Dirigent, Orchester

Einlassungen von Tim Theo Tinn

Ankündigung Staatsoper München:… Menschen mit allen Brüchen ernst nehmen und musikalisch ausloten, selbst wenn es skurril wirkt.

Wieder unter völliger Ignoranz der Vorlage will die szenische Deutung nur albern bespaßen, in unfertigem Ergebnis. Vorlagenignoranz dürfte an der Bayerischen Staatsoper programmatisch und nicht experimentell sein, da dies häufig aktuelles Repertoire ist.

Einem vorbelasteten Rezensenten (s. Theater als hypothetisches Universum – Heutige Trivialität … https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-7-nr-2/) bleibt da nur die puristische Würdigung.

Die Komposition (s. Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Orlando_paladino) widmet sich einer heroisch-komischen (eroicomico) Geschichte mit verwebten gegensätzlichen Themen. Die Bezeichnung stammt aus dem 18. Jahrhundert für halbernste also nicht nur komische Opern. Volkstümliche Hans-Wurstiade trifft auf tragisches Musikdrama, herrliche Komik, tiefer Ernst, mystische Erscheinungen und Menschen in der Nähe des Wahnsinns mit seelischen Verwundungen (Harnoncourt). Der Inszenator hat nur Verballhornung geliefert.

Geboten wurde eine Horde psychopathischer Vollidioten, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Kino besetzen und dort ihre Persönlichkeitsspaltungen und sonstigen Psychosen ausleben. Beim Humor wurde durchgehend auf schenkelklopfende Schadenfreude gesetzt, die Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben.

Dramentechnisch befinden wir uns in der Mischform Tragikomödie. Nötige Agregatbefindlichkeiten z. B.: heldenhaft, mutig, lustig, amüsant, sonderbar, seltsam, fragwürdig, erhaben, traurig.

Diese Entwicklung ist derzeit signifikanter Teil der Theaterlandschaft: leider in Jahrzehnten gewachsen, ist hier eine perfide Konsensrealität (Wirklichkeit auf die Menschen sich einigten), entstanden. Von einigen gelungenen Regietheater-Experimenten in den 70iger Jahren des letzten Jahrhunderts ausgehend, befrachteten Kritiker Inszenierungen mit intellektuellem Deutungs-Gemurkse, eitle kognitive akademische Bildung verfremdet vitale dramatische Schlüssigkeit. Intendanten befeuern diese Zeitgeist–Entgleisung, es entstand Konsens und die Subkultur blüht in einer Spirale, der sich auch das Publikum kaum entziehen kann. Man kennt kaum noch ausgeformte Inszenierungen, dramaturgisch schlüssige zeitgemäße Einrichtungen, die zumindest die Atmosphäre der Vorlage spiegeln. Und wenn es kaum noch Anderes gibt, ist man froh zumindest lachen zu können –sei es auch noch so platt (MC Donalds-Effekt, Fast Food).  Hier blüht ein amüsantes Narkotikum, dem werkgerechte theatrale Interpretation fehlt.

Auszüge Dramaturgische Schriften Nr. 3 TTT,( erscheint in ca. 1 Woche im OnlineMerker): Theater … Wissenschaft und Spiritualität, neuer Erkenntnisse, archaischer Weisheiten.  … verkümmerte die Seele. Zivilisation änderte sich …. Massenmedien u.a.  haben zu Verhaltensschablonen, unmerklicher Deformation der Psyche geführt: Zombifizierung … fast unbemerkt durch amüsante Narkosen neuer, bequemer Unterhaltung…. Unmerklich verwirklicht sich Unterwerfung ohne physische Gewalt…. bald Weltanschauung ohne jede menschliche Freiheit?

Die Personenregie ist temporeich, zeitweise rampenorientiert, teils mit nettem Slapstick, aber auch mit albernem Gehopse befrachtet. Schmunzeln, Grienen aber kein Berührtsein entsteht, manchmal aber Fremdschämen ob des groben Humors.

Befremdlich ist der massive kinematografische Einsatz. Großbild – u. Stummfilm-Formate beherrschen mindestens ein Drittel der Aufführung. Selbstverständlich darf der andienende Koitus nicht fehlen – z. T. überlagert sinnfreies Leinwandagieren aber auch die Bühnenwirklichkeit. Dann verlieren reale Weltklasse-Sänger vor überdimensionalem synthetischen Kinogeschehen die Aufmerksamkeit des Publikums. Wohin, Wohin – entschwand die Theater -Kernkompetenz? Dies ist ein Abgesang, konkurrierende Medien ersetzen komplexes Theater.

Natürlich ist Oper nicht sakrosankt, aber allzeitige Aktualität eines zukunftsfähigen Theaters wird so ramponiert. Allzeitige Inszenierungen sollten die Atmosphäre der Vorlage atmen, dramatischen Gehalt erkennen, beherrschen und veredeln. Z B. könnten die Ideen der Theatersprache im Grand Guignol (grotesk-triviale Grusel- und Horrorstücke setzten im  Geiste der Aufklärung Theater der Empfindsamkeit mit direkteren und rabiateren Mitteln fort s. Wikipedia) omnipotent genutzt werden.

Ballett als szenische Untermalung agierte leider nur in der Körpersprache von anno dunnemals. Von 2 erfundenen stummen Darstellern (Gabi und Heiko Herz) aus dem privaten Umfeld des Regisseurs, dominiert der dickliche Heiko in rampengeiler tumber Aufdringlichkeit outriert und albern in sehr vielen Szenen und beschädigte auch intensivste Gesangsituationen.

Orchester und musikalische Einrichtung: grundsätzlich geht der Rezensent davon aus, dass die Atmosphäre einer Inszenierung Einfluss auf das musikalische Ergebnis hat. Daher ist der musikalische Leiter besonders zu bewundern. Die Musik geht frisch, munter, aufmerkend-atmend voran mit akzentuiertem Durchweben/Schweben in feingliedrige Klangwelten.  Rezitative sind für die Sänger zart begleitet, nichts wird zugedeckt. Es bleibt ein durchgehend an Sturm und Drang erinnerndes Musizieren in idealer Abstimmung von Feinzeichnung, Dynamik und Dezibel. So weckt die Musik, die andernorts häufig viel zu getragen, museal daherkommt, neue Begeisterung und Freude. Man merkt dieser singulären Leistung an, dass der Dirigent bewusst die damalige Freundschaft und den Austausch zwischen Mozart und Haydn berücksichtigt. Das Orchester unter Ivor Bolton ist der Star des Abends. Extrasensorisches (über sinnliche Wahrnehmung hinausgehend) wird beschworen.

Die Sänger setzen sich mutig und bedingungslos ein. Kriterien des Rezensenten für sängerische Qualität sind besonders Timbre, Registerwechsel, Legato, Diminuendo, Piano, hier auch Parlando. Die Bayerische Staatsoper ist ein Haus absoluter Weltklasse, nach Rezensenten-Eindruck mit der derzeitigen Leitung von Nikolaus Bachler und Kirill Petrenko  weltführend, so ist auch diese Besetzung. Einzelwürdigungen können nur zur Wiederholung führen.

Fazit: Besucher eines hochpreisigen Gourmet-Tempels erhalten szenisch nur Hot Dogs. Die schmecken Vielen – aber nachhaltiger Genuss sieht anders aus.

Schließen wir die Augen und erleben betörenden Genuss mit Sängern und Orchester in genuiner Herrlichkeit.

P.S. Der Rezensent fühlte sich kürzlich bei der Vergabe von Pressekarten seltsam ausgegrenzt und ist gespannt, ob er durch seine nüchternen Berichterstattungen unerwünscht ist.

München, 24.7.2018

Tim Theo Tinn (tinn@timtheo.de)

 

Musikalische Leitung                         Ivor Bolton
Inszenierung                                      Axel Ranisch
Bühne und Kostüme                          Falko Herold
Choreographie                                   Magdalena Padrosa Celada
Licht                                                  Michael Bauer
Dramaturgie                                       Rainer Karlitschek

Angelica, Königin von Cattai/Nordchina (Sopran)               Adela Zaharia
Rodomonte,König der Barbarei (Bariton)                            Edwin Crossley-Mercer
Orlando, fränkischer Paladin (Tenor)                                   Mathias Vidal
Medoro, Geliebter Angelicas (Tenor)                                   Dovlet Nurgeldiye
Licone, Schäfer, Vater Eurillas (Tenor)                                Guy de Mey
Eurilla, Schäferin (Sopran)                                                    Elena Sancho Pereg
Pasquale, Schildknappe Orlandos (Tenor)                            David Portillo
Alcina, Zauberin (Sopran)                                                     Tara Erraught
Caronte, Fährmann der Unterwelt (Bass)                              François Lis
Gabi und Heiko Herz                                                            Heiko Pinkowski, Gabi Herz

Münchner Kammerorchester

 

 

 

 

 

 

 

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