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MÜNCHEN/ Kammerspiele: TAUBERBACH – Tanztheater von Alain Platel. Uraufführung

18.01.2014 | Ballett/Tanz, KRITIKEN

MÜNCHEN / Kammerspiele: TAUBERBACH von  Alain Platel
Uraufführung am 17. Januar 2014 im Schauspielhaus

Der belgische Choreograf und Regisseur Alain Platel gastierte mit seiner Compagnie „Les Ballets C de la B“ bereits 2011 an den Münchner Kammerspielen. Am vergangenen Freitag hatten die Münchner nun Gelegenheit, in den Genuss der Uraufführung des neuesten Werks der Truppe zu kommen: „Tauberbach“, ein Tanztheater für fünf Tänzer und eine Schauspielerin, wurde an den Kammerspielen in Koproduktion mit dem NTGent sowie in Zusammenarbeit mit weiteren Theatern aus Frankreich, Belgien und der Schweiz auf die Bühne gebracht. Das Publikum dankte es den Ausführenden wie Initiatoren mit jubelndem Applaus.

Zuletzt erklingt wie bereits zu Beginn der Choreografie J.S. Bachs bekannte „Air“ aus der Orchestersuite Nr. 3. In Zeitlupe arbeiten sich drei Frauen und drei Männer vom rechten hinteren Bühnenrand an die linke Seite der Rampe vor. In detailgenau zu beobachtender Interaktion, sich berührend, sich helfend, gegenseitig ärgernd, miteinander spielend, durchqueren sie als Gruppe den Raum. Jede noch so kleine Bewegung wird ausgekostet, unendlich viel Zeit steht zur Verfügung. Ab und zu ertönen Jauchzer überschäumender Energie. Vorne angekommen sammeln sich die sechs um eine Stimmgabel, lauschen ihrem Klang, intonieren leise, wie für sich selbst, ein mehrstimmiges Lied. Dann wenden sie sich Richtung Publikum, warten ab – bis die Zuschauer begreifen und dem Abend mit ihrem Beifall ein Ende setzen.

Ein unspektakulärer Schluss? Keineswegs. Denn Alain Platel hat es in den 90 Minuten zuvor spektakulär geschafft, die Aufmerksamkeit des Publikums aus den gewohnten Bahnen zu lenken und neu zu justieren: Genau hinzusehen und zu hören nämlich. Und dies, ohne gleich mit dem Verstand kategorisierend einzugreifen und Schubladen aufzumachen für das Abnormale, das Schöne, das Hässliche, das Eklige, das Kindische, das Begehrenswerte. Am Ende steht der Genuss am Körperlichen als Wert an sich. Und das Gefühl, den Figuren auf der Bühne erstaunlich nahe gekommen zu sein.

Eine Wahrnehmungsschärfung, die sich bei den Zuschauern parallel zur Entwicklungsgeschichte der Protagonistin auf der Bühne vollzieht. Die Frau mittleren Alters, gespielt von Elsie de Brauw, hat sich ihr Leben in einer befremdlichen Wohn- und Arbeitswelt eingerichtet: Wir sehen sie inmitten einer Hügellandschaft aufgeschütteter Kleider, die hellausgeleuchtet die komplette Bühne einnimmt und die sie irgendwie zu ordnen und zu  sortieren scheint. Einziger Gesprächspartner ist eine verzerrte Stimme aus dem Off, der sie Rede und Antwort steht, die ihr mal souffliert, sie später auch beschimpft. Im Programmheft verrät Platel, dass Figur und Szenerie dem Dokumentarfilm „Estamira“ von Marcos Prado entnommen sind. Der handelt von einer schizophrenen Frau in Brasilien, die auf einer Müllkippe lebt. Doch war dies offenbar nur Inspirationsquelle, denn außer dass ihn ständig ein feines Fliegensirren umgibt, haftet Platels Kleiderberg nichts von Abfall an. Vielmehr ist er eine wunderbare Spielwiese, gibt Anlass und Raum zum ausgelassenen Herumtoben: Man kann sich von oben hineinplumpsen lassen, darin kriechen, sich wälzen oder verstecken, die Klamotten durch die Luft wirbeln oder sich nach Herzenslust verkleiden. All dies tun ausgiebig die fünf Tänzerinnen und Tänzer: Bérengère Bodin, Lisi Estaras, Ross McCormack, Elie Tass und Romeu Runa entfachen in diesem Kleider-Urwald ein ausgeprägtes Bewegungsvokabular. Als “Danse bâtarde“ bezeichnet es der Choreograph. Als das, was entsteht, „wenn die Performer in den Teil ihres Kopfes kriechen, in den die Zivilisation noch nicht vorgedrungen ist.“ Das erinnert mal an spastische Zuckungen, mal an wild Animalisches, mal an archaische Rituale, mal an kindliches Spiel. Sind diese Kreaturen fremdgesteuert, von ihren Bewegungen Getriebene oder haben sie einfach Lust am Extremen, am Ausprobieren, was sich mit dem eigenen Körper und dem Körper der anderen so alles anstellen lässt?

Platel lässt das offen und öffnet so die Sinne der Zuschauer für viele wunderbare kleine Szenen und Bilder. Ein ausgelassener Zweikampf, eine Slapstick-Nummer mit einem Pulli als ständig in sich zusammensackende Handfeuerwaffe, das Abwaschen eine nackten Körpers als berührende Pietà, eine irre Verfolgungsjagd, in der die gesampelte Stimme sich selbständig macht und zum Gegenschlag ausholt. Oder ganz stark: eine Liebesszene, in der sexuelle Begierde als Neugier am gegenseitigen Anfassen, Schmecken, Spüren intensiv erlebbar wird.

Estamira wird in diesen Sog hineingerissen, gerade als die Sprechfixierte allzu starr von sich behauptet „I won’t change my being“. Schon befindet sie sich inmitten der anderen elementaren Welt, in welcher Fingerknacken plötzlich schön klingt und Romeu Runa ihr nahezukommen sucht, indem er die Verästelungen, Bögen und Verzierungen einer Bach-Cello-Suite durch Verrenkung nahezu jedes seiner Körperteile nachzeichnet.

„Tauber Bach“: auch der Titel bedarf noch einer Erklärung. Neben Einspielungen Bach‘scher Solostücke und Suiten – durch das Arrangement für Akkordeon manchmal allzu sehr in ihrer meditativen Flächigkeit betont – werden auch Stücke einer CD wiedergegeben, auf welcher Gehörlose Bach intonieren. Wie sich das anhört, lässt sich nur schwer beschreiben. Im besten Fall als eine Art Sprechgesang, wie ihn Kleinkinder zur Erprobung ihrer Stimme mal leise mal laut vor sich hin brabbeln oder singen. Schlimmstenfalls als ein gruseliger Geisterchor aus permanent aufheulenden und abrutschenden Seufzern. Auch hier versagen die gängigen Kategorien. Umso besser!

 Christine Mannhardt

 Weitere Termine in München: 11./12./13./14./15./16./17.18./19./21./22. Februar 2014.

 

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