Münchner Kammerspiele: „Ilona. Rosetta. Sue“
UA 28.9.2013 Tallinn, Premiere Kammerspiele 18.10.2013
Besucht wurde die Vorstellung am 25.10.2013
„Ilona. Rosetta. Sue“ – hinter dieser Dreier-Reihung von Frauennamen verbirgt sich die jüngste Inszenierung der Münchner Kammerspiele, einer etwas sperrig geratenen, doch punktuell feinsinnigen Studie zum Thema „Arbeitslosigkeit“. Erneut haben Regisseur Sebastian Nübling und das Dramaturgen-Team der Kammerspiele auf eine mehrsprachige Dreiländer-Produktionen gesetzt – diesmal sind Schauspieler der Theater NO99 Tallinn und das KVS Brüssel mit dabei – und den Sprachen-Mix diesmal auch noch mit einem komplexen Szenen-Mix kombiniert. Drei unabhängig voneinander funktionierende Geschichten sind wie in einer Parallel-Versuchsanordnung collagenartig ineinander verschachtelt. Sie erzählen das Schicksal der Protagonistinnen aus den Filmen Aki Kaurismäkis („Wolken ziehen vorüber“), Luc und Jean-Pierre Dardennes („Rosetta“) und Amos Kolleks („Sue“).
Zum Beispiel den Leidensweg von Sue. Die Büromanagerin „steht gerade zwischen zwei Jobs“, so die nach Außen beschönigte Formel ihrer verzweifelten Situation. Nübling interessieren daran weder politische Hintergründe noch persönliches Verschulden. Viel interessanter erscheint ihm, was das Leben ohne bezahlte Arbeit aus den Betroffenen macht. Und als Zuschauer folgt man ihm gern. Denn die Inszenierung zeigt klug, dass unsere Klischeebilder einer Verfeinerung bedürfen: Die Welt derer die plötzlich ohne Job dastehen, ist nämlich mitnichten eine „leere“ oder „kalte“ Welt. Entscheidender – so die theatralische Aussage – ist, dass die Welt plötzlich von Rastern und Trennlinien dominiert wird, durch die es schlicht kein Hindurchkommen mehr gibt.
Gleich in der Eingangsszene erlebt das Rosetta, die jüngste der drei Heldinnen: Ein langer Arbeitstisch, ein Fabrikband, durchschneidet die ansonsten nackte, offene, neonbeleuchtete Bühne. (Bühnenbild: Ene-Liis Semper) Dahinter wird im Akkord gearbeitet – bis die Sparmaßnahmen zuschlagen. Rosetta wird entlassen und bildhaft aus den Angeln gehoben: Schwungvoll befördert ihr Vorgesetzter die Strampelnde über die Arbeitsrampe und entsorgt sie auf die andere Seite des Raums. Ilona und Sue ergeht es nicht besser. Gerade gehörten sie noch zu denen, die eine Uniform, einen Anzug oder Blaumann als Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung tragen. Noch ein Putzlappen in der Hand genügt, um in der Gesellschaft als „normal“ durchzugehen. Wem aber auch der vorenthalten wird, ist unweigerlich auf der falschen Seite gelandet. Die Folge: Ilona, Rosetta und Sue sind im Folgenden vor allem darum bemüht, die fixen gesellschaftlichen Trennlinien zu durchbrechen oder wenigstens zu durchlöchern. Arbeitslosigkeit ist harte Arbeit!
Für Rosetta ist sie sogar ein Knochenjob. Mirtel Pohla gibt das rabiate Mädchen als Wildentschlossene, die sich mit Händen und Füßen gegen all die Demütigungen wehrt, die ihr widerfahren. Mit jedem ihrer aggressionsbeladenen Schritte und Tritte versinnbildlicht sie das Anrennen gegen die willkürliche Ausgrenzung. Gehetzt und verstört findet Rosetta nirgends Halt, am Ende wird sich ihre große Wut dann konsequent gegen sie selbst entladen. Ilona dagegen, facettenreich und mit voller emotionaler Wucht gespielt von Starlette Mathata, kann sich in ihrer neuen Lage besser behaupten. Zwar muss sie nebenher auch noch um ihren arbeitslosen Traumtänzer-Mann bangen, aber gerade in dieser Beziehung findet sie auch wieder Halt und damit Haltung. Besonders stark berührt die großartige Wiebke Puls mit ihrer Darstellung der Sue. Von Einsamkeit und Selbstzweifeln zerfressen, gibt sich die attraktive Frau nach und nach auf. Hilfsangebote kann sie kaum mehr wahrnehmen, Freundschafts- oder Liebeszeichen erreichen sie nicht. Berührend, wie die Resignierte sich selbst immer kleiner, unsichtbarer macht, sich irgendwann einfach die Handtasche über den Kopf stülpt. Am Ende taumelt sie kurz und fällt dann lautlos auf den Boden.
Solch schauspielerische Einzelleistungen verdichten die Inszenierung und man hätte gern mehr davon gesehen. Dass alle drei in einer Abwärtsspirale hängen ist offensichtlich, der dramatische Spannungsbogen mithin etwas durchhängend. Nübling setzt an seine Stelle ein choreografiertes Ensemblespiel, das durch räumliche Vergrößerungen oder chorische Vervielfältigungen durchaus eindrucksvolle Bilder erzeugt, sich in seiner Perfektion aber immer auch ein wenig selbst genügt. Mehr noch als in einem gemeinsamen fiktiven Stadtraum bewegen sich die Figuren in einem gemeinsamen Erfahrungsraum, in welchem sie in wechselnden Konstellationen – unter Kollegen, auf dem Amt, bei der Arbeitssuche, in der Kneipe – das Spiel von Macht und Ohnmacht spielen.
Ganz stark, intelligent und berührend zugleich, wird die Inszenierung allerdings, wenn man sie als kunstvolle Studie über die Zeit liest. Denn Zeit ist für Rosetta, Sue und Ilona nichts Abstraktes sondern eine reale tägliche Bedrohung. Mit jedem Tag ohne neuen Job verschlechtern sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, werden die Klamotten unansehnlicher, droht der Wohnungsverlust und damit das Abrutschen ins endgültige soziale Aus. In Zusammenarbeit mit dem Musiker und Komponisten Lars Wittershagen findet Nübling Wege, verstreichende Zeit fühlbar zu machen: Er übersetzt sie in Rhythmen und Klangfolgen. Grundrhythmus seines Stücks ist ein stetes Pochen, ein unbarmherziges Durchschreiten von Zeit, welches als Musik-, Ton oder Geräuschspur das gesamte Bühnengeschehen durchwirkt. Manchmal klaffen darin tiefe Löcher dröhnender E-Gitarrenklänge, die einem in den Bauch fahren. Manchmal setzen die Figuren etwas dagegen, erfinden eigene Lieder, rhythmisieren Sprache. Einmal tanzen die gekündigten Angestellten ausgelassen gegen die tickende Uhr. Ein andermal verwandelt sich das Pochen in ein drohendes, elektronisch verstärktes Schaben von Karotten oder das Spitzen von Bleistiften. Die Schlussszene begleitet ein unheilvolles Sirren durch den Raum geschwungener Mikrofone.
Fazit: Eine gelungene Inszenierung mit hellsichtigen Einsichten in ein Phänomen, das in seinen existenzbedrohenden Auswirkungen längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Kräftiger, herzlicher Applaus.
Christine Mannhardt