MÜNCHEN/ Gärtnerplatztheater: Perlenfischer Musik Georges Bizet, Uraufführung 1863
Libretto Michel Florentin Carré und Eugène Cormon Konzertante Aufführung 14. April 2019
Einlassungen von Tim Theo Tinn
„Erlesenes mit Erlesenen ohne adäquaten Rahmen!“
Die konzertante Aufführung verhieß mit hochwertiger Besetzung Großartiges. Leider hinderte die uninspirierte Raumnutzung sowie eine beeindruckend einschränkende Akustik.
Ensemble, Chor und Extrachor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz © Thomas Dashuber (keine Aufnahme aus dem Theater)
Für den Rezensenten in Reihe 7 ergab sich ein akustisch unausgeglichener Eindruck durch Platzierung der Toncreateure und fragwürdiger Raumakustik. Der Chor auf den hintersten Plätzen konnte seine Dezibel auch nur in dieser Charakterisierung präsentieren. Die 4 Solisten an der äußersten Rampe erfüllten das gegenteilige Phänomen. Noch nie ist mir ein überpräsenter Gesang so aufgefallen. Es schien, als ob die Stimmen/ Töne kaum Zeit erhielten im Raum zu schwingen, sich zu entfalten. Kurz, knochentrocken und viel zu direkt erfolgte die Anbindung ins Ohr. Ein lyrisches Durchleuchten war eleminiert.
Die Bühne wird im Wesentlichen vom Orchester eingenommen, die Solisten sind vorn am Bühnenrand viel zu weit vom Chor entfernt. Wie soll da ein ausgewogener homogener Klang entstehen?
Die Akustik in den Positionen der Solisten ernüchtert den Vortrag in nahezu sachlicher Demonstration ohne den Melos der hinreißenden Partitur mit exotisch, lyrisch, dramatischen Klängen. Die groß komponierten Chor-Tableaus blieben unerfüllt. Mglw. hätte man mit halbhohem Orchestergraben und den Protagonisten in akustisch austarierter Bühnensituation Schöneres geschaffen.
„Ich halte mich beim Komponieren nicht an die Worte“ sagte Bizet zu einem Schüler und komponierte so seine Utopie tiefer Menschlichkeit in Freundschaft und Liebe durch ätherisch verzehrende Musik.
Die an Ideale heranreichenden folgenden Beispiele sind nicht so abgehoben, als dass diese am Gärtnerplatz nicht auch berührt werden:
Nicolai Gedda: Nadir’s Romance https://www.youtube.com/watch?v=DzIsP4HDcRc
Luciano Pavarotti & Nicolai Ghiaurov „Pearlfishers -Duet“ https://www.youtube.com/watch?v=XC4ShLsEqsI
Die oberflächliche Einrichtung genug als „Advocatus Diavoli“ bemeckert: es war immer noch gut, auch wenn es mit den aufgebotenen Kräften besser hätte sein können. Die Sänger waren eine Klasse für sich, mit durchgängig ausgeformten Stimmen. Tatsächlich bleibt ein differenzierter Eindruck eingeschränkt. Das Publikum war aufgeschlossen positiv.
Timos Sirlantzis als Nourabad ist ein sehr guter junger Bariton, Hoffnungsträger mit überzeugenden Ergebnissen, auch szenisch. Seine Register reichen in weite Räume, sind völlig ausgeglichen mit feinem Timbre.
Mathias Hausmann als Zurga hat mich beeindruckt. Der Bariton auf der Höhe seines Zenites mit uneingeschränktem Vermögen in allen Lagen, konnte mich noch von einer weiteren Fähigkeit überzeugen. Er kann auch sehr laut singen, singen – nicht schreien. N. m. E. hat er sich dieses Talents erinnert, um der ungünstigen akustischen Situation zu begegnen. Da waren dann weitere Unausgeglichenheiten. Es bleibt auch manche Feinzeichnung nur angedacht.
Lucian Krasznec als Nadir singt einen lyrischen, eigentlich mehr Spinto – Tenor. Hier schien die akustische Situation mein Erleben zu reduzieren. Die Feinheit seines bekannten edlen Timbres schien mir sogar etwas verfremdet. Er ist ein großartiger Tenor ohne Manierismen, der eine ausgefeilte Technik beherrscht. Seine Möglichkeiten erinnern in aller Zartheit durchaus an Nicolai Gedda im Beispiel.
Jennifer O’Loughlin als Leila bleibt als vielgelobte auch hier in voller Pracht ihrer vokalen Blüten ohne Einschränkung. Sie, wie auch ihre 3 Kollegen erheben den Gesang in den Perlenfischern in eine geradezu sakral emotionale Liga.
Die musikalische Leitung von Tom Woods und das Orchester: ich gehe davon aus, dass der Gastdirigent nur eingeschränkte Möglichkeiten der Einstudierung hatte und so den Kosmos dieser Partitur nicht ausloten konnte. Es ist ein gradliniges Dirigat, durchtaktiert, zügig, exakt mit einem A-Orchester in bester Auflage.
Wie kann die Liebe zwischen drei Menschen, können Gefühle in Bizets Musik ein Publikum überfluten? Da sucht man ein Faszinosum jenseits des Metronoms, sucht Romantik, Poesie. Wie könnten dynamische Artikulationen, in variable Phrasierungen eingebettete Tempiwechsel, Vitales spiegeln, Dezibel wachsen und schwinden, Harmonien verzögern, verlangsamen, allmählich aufblühen, schwebende durchscheinende akustische Landschaften schaffen? (Das verlangt allerdings nach orchestralem Feilen wie es der GMD der Münchner Staatsoper tatsächlich durchsetzt/durchsetzen kann.)
Das Dirigat war insgesamt vorwärtsgewandt, manchmal zu forsch. Da wäre ein Verweilen im Sentiment angemessen. Das große Geheimnis des Klanggemäldes öffnete sich nicht, viele kleine bahnten sich den Weg.
Es gibt Zeitgenossen, die bemängeln bei diesem tiefberührenden sensibel genialen Wurf des 25 jährigen Bizets dürftige Handlung, fehlende dramaturgische Stringenz und musikalische Kompaktheit. Da gibt es wohl ein „intellektuelles Metronom“ eine festgefahrene Auffassung, die dem Genialen keinen Raum geben will.
Darf man heute keinem Komponisten der Romantik huldigen – bedingungslos ein Sentiment mit Schwärmerei, Träumerei, Empfindsamkeit, Gefühlstiefe, Sensibilität bedienen?
Es bleibt Inszenierungs-Dilettantismus in der Sackgasse, wenn oft problemschöpfend/-erfindend schwarz-grau im rudimentären pseudoheutigem Bühnenverbau Geschichten angesiedelt werden. (s. div. Dramaturgische Schriften TTT im Feuilleton des onlinemerkers).
Kognitiv gesteuert, intellektuell und emotional simpel strukturierte Personen geben Maßgaben, die jenseits menschlicher Natur liegen. (s. Goethe, Faust „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen…“)
Lebenswirklichkeit erschöpft sich nicht nur in Negativem. In den Perlenfischern geht es um die Liebe von 3 Personen in inhumanen Lebenssituationen, selbstauferlegten Zwängen und einer Entwicklung, die die Tragödie vermeidet und tiefe Sehnsüchte in unwirklichen, verzehrenden Klangzauber transportiert, um das individuelle Lebensglück und Seelenheil zu beschwören. Es geht um den menschlichen Seelenfrieden als Glücksvoraussetzung.
Damit mündet man in der Lehre Epikurs (ca. 300 v. Chr., Athen), deren negative Auslegung „Genussmensch“ nicht der dominante Antrieb ist, sondern die Ehrlichkeit zum menschlichen Naturell. Cicero (Rom, ca. 63 v. Chr.) bezeichnete Lust und Lebensfreude als zentralen Lebensantrieb. Schon sozial unkonditionierter erster menschlicher Trieb war und ist: Lust suchen, fordern, Unlust vermeiden. Epikur meinte: „… man spüre dies, wie man fühle, dass das Feuer wärmt, der Schnee kalt und der Honig süß ist.“[
Somit wäre dieses ehrliche menschliche Naturell am Theater doch eine Option aktuelle Verirrungen zu kurieren.
Mit der aktuellen Entwicklung hat man offensichtlich auch das Inszenierungshandwerk der Farbdramaturgie untergehen lassen. In meiner Ausbildung noch nachhaltiger Bestandteil (unterschwellig werden so schon Seelenlandschaften geprägt), werden heute optische Kontrapunkte gesetzt – schwarz graue Ödnis ist dominant.
Hier Symbolik, Wirkung der drei (!!!) Perlenfischer immanenten Farben (zur Festlegung gibt es eine Methodik, die offensichtlich kaum noch bekannt ist), mit der eine komplette Inszenierung gestaltet werden könnte:
Vertiefung, lebhaft, Freude, Wärme, kalt, Passivität, heiter, Aggressivität, unendlich, Beständigkeit, beruhigend, Sammlung, Erregung, Liebe, Lebhaftigkeit, Dynamik, Spaß, Lebensbejahung, Leidenschaft, ernsthaft, Leben, exotisch, Sympathie, fern, Frieden, Hoffnung, Sauberkeit, Kraft, Aktivität, Ausgelassenheit, etwas deprimierend, Temperament, sehnsüchtig, Feuer, Tatendrang, Ruhe, anregend, Harmonie, friedlich.
Tim Theo Tinn 16. April 2019
Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden).