Foto: Christian POGO Zach
23.05.2019: Ich habe nicht geträumt
Der Junge Lord: Oper von Hans Werner Henze am Münchner Gärtnerplatztheater
Keineswegs ein bizarrer Traum, sondern erschreckende Wirklichkeit ist es für die bornierten Bewohner der Kleinstadt Hülsdorf-Gotha, wenn sich zu aller Entsetzen der wegen seines exzentrischen Verhaltens bewunderte und hofierte junge Lord Barrat (überzeugend als Charakterdarsteller mit beträchtlichen akrobatischen Fähigkeiten: Maximilian Mayer) als dressierter Affe entpuppt. Die in ihrer Selbstverliebtheit bislang völlig unerschütterliche Kleinstadtgesellschaft – deren Hauptvertreter in meisterhaften Charakterstudien verkörpert wurden durch Jennifer O’Loughlin und Liviu Holender (das Ehepaar Oberjustizrat Hasentreffer), Holger Ohlmann (Ökonomierat Scharf) und Juan Carlos Falcón (Professor von Mucker) – ist in ihren Grundfesten erschüttert und zutiefst entsetzt; ob dieser Zustand jedoch nachhaltige, vielleicht sogar kathartische Wirkung haben wird, bleibt freilich fraglich.
Foto: Christian POGO Zach
Angeführt wird die Gesellschaft von Hülsdorf-Gotha von ihrem Bürgermeister, verkörpert durch den Bass-Bariton Levente Páll, dessen darstellerische Leistung sich insbesondere im 2. Bild des 2. Aktes zu wahren Buffo-Qualitäten steigert, wenn er Sir Edgars Köchin Begonia (unvergleichlich mit dem Charme eines wahren „Jamaica girls“: Bonita Hyman) Avancen macht und ungeachtet ihrer Ablehnung völlig unbeirrbar sein amouröses Ziel verfolgt. Unangefochtene Königin der Gesellschaft jedoch ist die Baronin Grünwiesel (stimmgewaltig und mit weltläufiger Nonchalance in Szene gesetzt durch die ebenso schöne wie souveräne Ann-Katrin Naidu), deren Salon der Dreh- und Angelpunkt der illustren Kleinstadtwelt ist. Hier wird nicht nur alltäglicher Klatsch ausgetauscht, sondern auch die Zukunft der jüngeren Gesellschaftsmitglieder geplant und dirigiert, insbesondere die des Mündels der Baronin, Luise, die aufgrund ihres Reichtums besondere Aufmerksamkeit genießt – und dies nicht nur seitens ihrer Tante, der Baronin, und deren Freundinnen. Der Sopranistin Mária Celeng gelang mit ihrer Interpretation der Luise eine nicht nur musikalisch präzise und in jeder Hinsicht stimmschöne Darstellung, sondern sie konnte zudem die innere Entwicklung des Mädchens als einen zwar behutsam einsetzenden, doch unaufhaltsamen und für Luise selbst immer verstörendere Züge annehmenden Reifungsprozess sehr einfühlsam und überzeugend vor Augen führen: Luise ist vielleicht die einzige Person in Hülsdorf-Gotha, bei welcher der Schock über die affige Farce den entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens markieren wird; mit dem Satz „Ich habe nicht geträumt“ bricht sie endgültig und unwiderruflich aus ihrem bisherigen wohlbehüteten Leben und dessen Kleinstadtrahmen aus. Und damit ist sie am Ende der Oper meilenweit von dem backfischartig schwärmenden Mädchen des 1. Bildes des 1. Aktes entfernt, das der Freundin Ida Hasentreffer (in jeder Hinsicht ganz bezaubernd Ilia Staple) die aufkeimende Liebe zu dem biederen und leicht hölzern wirkenden Studenten Wilhelm (der lyrische Tenor von Lucian Krasznec hätte etwas mehr Selbstvertrauen und Nachdruck verdient) gesteht – eine Liebe, die sich allerdings, wie das Duett der beiden im 1. Bild des 2. Aktes zeigt, in Indolenz, Plattitüden und leeren Phrasen erschöpft und nicht das Geringste mit der in Luise später aufflammenden Leidenschaft zu tun hat. Verantwortlich dafür ist die unheimliche Anziehungskraft, die der mysteriöse Lord Barrat in all seiner animalischen Exzentrik auf Luise ausübt: ihre große Szene im 2. Bild des 2. Aktes zeigt deutlich ihre Verwirrung, aber auch eine bislang noch nie empfundene „Wildnis von Gefühlen“, nämlich das Erwachen der eigenen Erotik, analog zu dem sich auch Luises musikalische Bühnenpräsenz steigert.
Initiator, aber auch Katalysator des ganzen Geschehens ist der englische Gelehrte Sir Edgar (stumme Rolle, markant verkörpert durch den Schauspieler Dieter Fernengel), ein sagenhaft reicher Exzentriker mit durchaus unsympathischen Zügen. In seiner arroganten Selbstverliebtheit und individuellen Borniertheit ist er als Einzelperson das exakte Spiegelbild der ihn mit unverhohlenem Opportunismus erwartenden Kleinstadtgesellschaft, der er sich von Anfang an hochmütig entzieht. Während die Gesellschaft mit zunehmender Wut und wachsendem Hass auf Sir Edgars wiederholte Düpierungen reagiert, die er jedoch niemals direkt, sondern stets nur durch seinen nicht minder hochnäsig auftretenden Sekretär (in jeder Hinsicht herausragend: Christoph Filler) verkünden lässt, entwickelt dieser, spontan dazu inspiriert durch einen gastierenden Wanderzirkus (angeführt von Alexandros Tsilogiannis als facettenreicher und wandlungsfähiger Direktor Amintore La Rocca), den Plan, einen dressierten Affen als seinen Neffen Lord Barrat in die Gesellschaft einzuführen und diese damit aufs Nachhaltigste zu brüskieren. Der Plan wird auch sogleich in die Tat umgesetzt und Adam, der Zirkusaffe, muss menschliches Verhalten sowie einige Sätze aus den deutschen Klassikern lernen: eine Erziehung, die nur mit ärgster Tierquälerei durchzusetzen ist, was Sir Edgar nicht sympathischer erscheinen lässt: er ist eben doch kein Dr. Higgins aus „My fair Lady“, der bei aller Besessenheit für sein ehrgeiziges Erziehungsprojekt zumindest ansatzweise menschlicher Gefühle fähig ist, sondern ein skrupel- und gewissensloser Zyniker, dem es bei seinem Experiment ausschließlich um eigennützige Zwecke geht, nämlich um sein persönliches Vergnügen, das er darin sieht, die Gesellschaft zu brüskieren.
Die Dressur des Affen Adam als ein extrem schmerzhafter Entwicklungsprozess symbolisiert vielleicht bis zu einem gewissen Grade, quasi als Zerrspiegel, den oftmals ebenso qualvollen Entstehungsprozess eines Kunstwerkes: so entstand Ingeborg Bachmanns Libretto zu Hans Werner Henzes Opera buffa quasi in Kerkerhaft, indem der Komponist, um die rechtzeitige Vollendung des Librettos sicherzustellen, seine Textdichterin quasi inhaftierte und erst nach einer sechswöchigen intensiven Arbeitsphase, an deren Ende das vollendete Libretto stand, wieder freiließ. Ergebnis dieser ununterbrochen intensiven und kongenialen Zusammenarbeit zweier derart markanter Künstlerpersönlichkeiten ist ein Werk, das viel mehr als eine Opera buffa ist: als messerscharfe Gesellschaftssatire, ins Werk gesetzt von einem zynischen und stumm im Hintergrund agierenden „Spielleiter“ schildert es zugleich auch die persönliche Charakterbildung und erotische Erweckung der Protagonistin Luise (gerade dies ein ganz genuin „bachmann’sches“ Sujet), aber auch die Leiden der gepeinigten Kreatur als Spielball menschlicher Willkür. Das durchaus präsente Thema der Fremdenfeindlichkeit, in unserer heutigen Gegenwart brisanter denn nie zuvor, bleibt hier jedoch, wie Hans Werner Henze bereits 1996 in einer Stellungnahme zu seinem Werk betonte, latent bedrohlicher Nebenschauplatz, der sich nur einmal in aller Deutlichkeit in der Attacke der von ihren Eltern aufgehetzten Kinder gegen den Mohren Jeremy (Deman Benifer), den Bediensteten Sir Edgars, Bahn bricht. Im jungen Lord stellt sich nicht, wie in Richard Strauss‘ Capriccio, die Frage nach dem Vorrang von Wort oder Ton, sondern beides ist eine unauflösliche Einheit, von Henze selbst als „Sprachmusik“ bezeichnet. Und dies wiederum hat zur Folge, dass Musik und Text, bar jeglicher einem solch bizarren Sujet impliziter Peinlichkeit, dem hörenden Betrachter sowohl vergnügliche, wie auch nachdenkliche Momente bescheren.
Der kongenialen Zusammenarbeit zwischen Komponist und Textdichterin entspricht hier in München, am Gärtnerplatztheater, nun eine ebenso kongeniale Zusammenarbeit zwischen der in jeder Hinsicht grandiosen und auf langjähriger eigener Bühnenerfahrung basierenden Regie von Kammersängerin Brigitte Fassbaender und dem gesamtem Regieteam, dem Orchester unter Leitung des feinsinnigen und für jedes musikalische Detail hochsensiblen Anthony Bramall, den beiden Chören (Erwachsenenchor einstudiert von Felix Meybier und Kinderchor einstudiert von Verena Sarré) sowie sämtlichen Sängern und Bühnendarstellern, die Brigitte Fassbaenders Personenregie exakt, präzise und in jeder Hinsicht professionell zu führen und zu lenken verstand – was sich in deren darstellerischer Begeisterung, die für das Publikum in hohem Maße spürbar war, niederschlug. Eine tiefe Empathie für Henze und sein musikalisches Kunstwerk teilt Brigitte Fassbaenders Regie mit Anthony Bramalls feinsinniger und hoch pointierter musikalischer Leitung, die sowohl den Einzelszenen gerecht wurde wie auch ganz besonders den zahlreichen hochkomplizierten Ensembleszenen sicheren Halt, unverwechselbares Kolorit und zugleich Transparenz und Detailgenauigkeit verlieh. Anthony Bramall vermochte es nicht nur, die Aufmerksamkeit der Zuhörer kontinuierlich zu fesseln, sondern sie ebenso auf Besonderheiten von Henzes Instrumentierung wie auch auf die dem Komponisten laut eigener Aussage so wichtigen musikalischen Vorbilder (zuvörderst Mozart und Rossini, doch gerade im letzten Teil, der Ballszene auch ganz deutlich Strawinsky) zu konzentrieren.
In perfektem Einklang mit Brigitte Fassbaenders umsichtiger Regie standen Dietrich von Grebners Bühnenbild und Ausstattung sowie Alessio Attanasios meisterhafte Choreographie, die ein bis ins kleinste Detail liebevoll gezeichnetes Spießbürgeridyll mit der farbenfroh-exotischen und abenteuerlichen Welt Sir Edgars und seiner Entourage in wirkungsvollen Kontrast setzte: so werden die zwar wohlmeinend, doch in äusserst falschem Englisch verfassten Willkommensschilder der Hülsdorf-Gothaschen Bürger in ebendenselben Himmel gereckt, aus dem besagter „Gentlemen“ dann schließlich in Begleitung seines Sekretärs in einem Ballon in die Mitte der staunenden Kleinstadtgesellschaft einschwebt, und die Farbe grün, die in einer Vielzahl von Schattierungen nicht nur den Salon der Baronin Grünwiesel, sondern auch die Kleidung der Damenwelt beherrscht und damit der Baronin unbestrittene Führungsposition symbolisiert, wird im Ballsaal Sir Edgars zu einem bloßen Hintergrund für das exotische Interieur degradiert, und damit gleichzeitig zum farblichen Widerschein des Bühnengeschehens und seiner fatalen Entwicklung. Einzig Luise durchbricht in der Ballszene am Ende des 2. Aktes das grüne (Pseudo-)Idyll, indem sie, bewusst in Schattierungen von rot gekleidet, mit einem roten Lippenstift den Status ihrer bereits weit fortgeschrittenen emotionalen Entwicklung noch zusätzlich untermalt. Die beklemmende Enge der Kleinstadt und ihrer honorigen Gesellschaft wird dem Zuschauer durch die in variierenden Zoomeinstellungen auf den Zwischenvorhang projizierte enggassige Stadtsilhouette im wahrsten Sinne nahe-gebracht (Video: Raphael Kurig und Thomas Mahnecke); ein Szenario, vor dem der Mohr Jeremy regelmäßig den kleinen Hund Sir Edgars (ein ganz entzückender Einfall der Ausstattung) spazierenführt, das aber auch einen angemessenen Hintergrund für die von Brigitte Fassbaender selbst gelesenen und in einer Aufnahme übertragenen Regieanweisungen zwischen den einzelnen Bildern bietet: die beklemmende Enge der Kleinstadt als Rahmen eines sämtliche Grenzen sprengenden Geschehens. Große Anerkennung gebührt weiterhin der Lichtregie Wieland Müller-Haslingers, deren wechselnde Fokussierung das Bühnengeschehen dramatisch in Szene setzet sowie das äußerst informative und materialreiche Programmheft des Dramaturgen David Treffinger.
Der aufrichtig begeisterte, einhellige und von ganzem Herzen kommende Schlussapplaus würdigte die Produktion als hochrangiges Gesamtkunstwerk, das in seiner Stimmigkeit bis ins kleinste Detail wohl nur selten Seinesgleichen finden wird. Und wenn Staatsintendant Josef E. Köpplinger bei der anschließenden Premierenfeier das Gärtnerplatztheater liebevoll als „Münchens zweites Haus“ bezeichnete, so ist festzuhalten, dass insbesondere diese Produktion einem Vergleich mit den führenden Opernhäusern in jeder Hinsicht standhält.
Isabel Grimm-Stadelmann