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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: PARSIFAL

Mit einem Klang (fast) wie im Bayreuther Festspielhaus“

06.07.2018 | Allgemein, Oper


Die Szene der Gralsenthüllung im 1. Aufzug mit Christian Gerhaher (Amfortas) und dem Chor der Bayerischen Staatsoper. Bildcopyright: Ruth Walz

München: Bayerische Staatsoper: „PARSIFAL – mit einem Klang (fast) wie im Bayreuther Festspielhaus“, 05.07.2018

Wer Aufführungen des „Parsifal“ schon häufiger im Bayreuther Festspielhaus wie auch in anderen Opernhäusern erlebt hat, weiß, dass sich die aus dem gedeckelten Orchestergraben resultierende besondere Akustik des Bayreuther Festspielhauses bei diesem Werk auf den generellen Orchesterklang ganz besonders stark auswirkt. Das ist auch nicht verwunderlich, hat Richard Wagner doch sein Bühnenweihfestspiel für die Aufführung speziell (und nach seinem Willen ausschließlich) in diesem Haus geschaffen und dessen besondere akustische Verhältnisse in die Komposition des Werkes einfließen lassen. Dementsprechend wies Kirill Petrenko in der Premierenmatinée zur aktuellen Neuproduktion an der Bayerischen Staatsoper auf die Frage nach den besonderen musikalischen Herausforderungen dieses Werks darauf hin: Sein Ziel sei es, trotz des offenen Orchestergrabens mit dem Bayerischen Staatsorchester einen Klang zu erzeugen, der demjenigen im Bayreuther Festspielhaus sehr nahekomme. Verschmitzt lächelnd fügte er hinzu, dass dies auch ganz einfach sei: Um dies zu erreichen, dürften einfach die Bläser während der gesamten Aufführung nicht atmen und die Streicher keinen Strichwechsel ausführen. Diese humorvolle Antwort schien zu bestätigen, dass sich der besondere Bayreuther Festspielhaus-Klang woanders mit einem offenen Orchestergraben nun einmal nicht kopieren lässt. Erstaunlicherweise schaffte Kirill Petrenko mit seinem Orchester in der sehr viel trockeneren Akustik des Münchner Nationaltheaters am Abend des 05.07.2018 genau das: Im Parkett (Reihe 16 Mitte) entstand über weite Strecken ein orchestraler Klangeindruck (fast) wie im Bayreuther Festspielhaus, der sich ansatzweise vielleicht damit beschreiben lässt, dass man das Gefühl hat, rundum von einer schwebenden, warmen und weichen Klangwolke umhüllt zu werden, in der es bei aller Vielschichtigkeit keine Anfänge, keine Enden und nicht einmal Übergänge gibt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere gleich das wunderbare Vorspiel zum 1. Aufzug hervorzuheben, welches besonders gut gelang. Abgesehen von diesem Bayreuth-spezifischen Klangeindruck erstaunte Kirill Petrenko mit einem häufig sehr zurückgenommenen, fast gedämpften, aber höchst differenzierten Orchesterklang, der trotz der enormen Größe des Orchesters immer wieder Assoziationen an ein Kammermusik-Ensemble weckte, während er an anderen Stellen die dynamische Bandbreite bis nach oben hin voll ausreizte und mit einem gewaltigen, aber gleichwohl unverändert differenzierten Klang begeisterte. Ebenfalls besondere Hervorhebung verdient der zweite Akt, in dem der Klang erotisch aufgeladen in den vielfältigsten Farben schimmerte. Der erwähnte, zum Teil fast kammermusikalisch anmutende Klang bot eine ungewohnte, bemerkenswerte und beeindruckende Hörerfahrung. Allerdings wird sie von all denjenigen, die es genießen, sich von einem gewaltigen, emotionalen und im Falle des „Parsifal“ gerade auch weihevollen Wagner-Klang mitreißen und von den Klangfluten geradezu wegspülen zu lassen, wohl nicht favorisiert werden. Bei der Gralsenthüllung am Ende des 1. Aufzugs wurde das Weihevolle durch eine sehr nüchterne und ausgesprochen distanzierte Interpretation radikal entfernt. Übrig blieb eine fast steril anmutende Atmosphäre. Zu der entsprechenden Distanz trug außer dem zurückgenommenen, gedämpften Orchesterklang auch der Umstand bei, dass der Chor der Bayerischen Staatsoper überwiegend hinter der Bühne sang und aus großer räumlicher Distanz nur vergleichsweise leise zu vernehmen war. An anderen Stellen hingegen durfte der Chor seine ganze Stimmgewalt eindrücklich unter Beweis stellen.


Wolfgang Koch (Klingsor) und Nina Stemme (Kundry) im 2. Aufzug. Bildcopyright: Wilfried Hösl

In szenischer Hinsicht verantwortlich für die „Parsifal“-Neuproduktion sind Pierre Audi (Inszenierung), Georg Baselitz (Bühne), Florence von Gerkan (Kostüme) und Urs Schönebaum (Licht). In dem von der Bayerischen Staatsoper herausgegebenen Magazin Max Joseph (Jahrgang 2017/18 Heft No. 4, S. 45/46) berichtete Pierre Audi, dass diese Inszenierung nichts mit der üblichen Arbeitsweise zu tun gehabt habe, bei der man von einem Regiekonzept ausgehe und dann mit einem Bühnenbildner einen Raum dazu entwickle. Sie seien vielmehr von Georg Baselitz‘ Kunstwerken ausgegangen. Außerdem hätten Baselitz‘ Vorschläge den Rahmen der Oper gebildet. Georg Baselitz habe anfangs gesagt: „Alles muss dunkel und die Produktion extrem langweilig sein.“ Pierre Audi zufolge habe Baselitz zudem gemeint, die Erfahrung [des Besuchs dieser Opernproduktion] müsse [für das Publikum] ein wenig frustrierend sein. – Diese von Georg Baselitz vorgegebenen Ziele wurden erreicht. Wodurch?

Erreicht wurden Langeweile und Frustration nicht durch den Umstand, dass man das Bühnenbild aus Werken des Künstlers kreierte, die Kostüme in Anlehnung an dessen in den 1960er Jahren erschaffene Helden-Bilderserie schneiderte und den Speer durch einen handlichen Metallstab ersetzte, der an seinem vorderen Ende ein Kreuz darstellt und dem das zur Helden-Serie gehörende, 1965 gemalte Bild Der Hirte offensichtlich als Vorlage diente. Im Zentrum des Bühnenbildes des 1. Aufzugs steht eine beeindruckende Skulptur, die der von Georg Baselitz erschaffenen Skulptur Zero Dom nachempfunden ist und für die Gralsritter eine Altar-ähnliche Funktion einnimmt. Im Hintergrund befindet sich ein in minimalistischem Stil geschaffener Wald. Von Skulptur und Wald gehen, vor allem unterstützt durch geschickt wechselnde Lichtgestaltungen, ästhetische Wirkungen aus, die sich – wie oftmals bei bildender Kunst – nur sehr schwer oder gar nicht in Worte fassen lassen. Das Bühnenbild des 1. Aufzugs findet sich – im typischen Baselitz-Stil auf dem Kopf stehend bzw. von der Decke herunterhängend – im 3. Aufzug wieder. Dass der Wald am Ende des 1. Aufzugs nach der Szene der Gralsenthüllung in sich zusammensackt, soll vermutlich symbolisieren, dass die vom Gral ausgehende Kraft zwar die Gralsritter stärkt, aber nicht im Einklang mit der übrigen Schöpfung steht und dieser die Lebensenergie entzieht. So wird ein Gegensatz zum Karfreitagszauber im 3. Aufzug (durch eine lilafarbene Lichtgestaltung umgesetzt) dargestellt. Allerdings wirkt das Zusammensacken des Waldes allzu plakativ und teilweise unfreiwillig komisch, als dass man hierdurch emotional berührt werden könnte. Ein Tierskelett am rechten Bühnenrand, das von Kundry im 1. Aufzug als zeltähnlicher Unterschlupf genutzt wird, entpuppt sich eher als störend und nur mühsam in das Bühnengeschehen integriert. Im 2. Aufzug wird die Bühne durch ein großes Laken, das eine Mauer mit einem Durchbruch in der Mitte zeigt (wohl Klingsors Burg), auf einen schmalen Querstreifen vorne an der Rampe reduziert.

Erreicht wurden Langeweile und Frustration auch nicht durch den Umstand, dass es in dieser Produktion keinen Gral gibt. Vermutlich soll durch das Verdecken der Augen bei der Verwandlung und der Gralsenthüllung verdeutlicht werden, dass es sich in dieser Interpretation beim Gral letztlich um innerpsychische Vorgänge handelt, die in jedem einzelnen vor sich gehen. Warum nicht auch einmal eine solche Interpretation?

Erreicht wurden Langeweile und Frustration auch nicht maßgeblich durch den Umstand, dass die verführerischen Blumenmädchen als ältere, körperlich unattraktive, nackte Frauen dargestellt werden und sich die Gralsritter für die Gralsenthüllung im 1. Aufzug ebenfalls nackt entkleiden. In beidem lässt sich das Stilmittel erkennen, das Publikum provozieren und zum Nachdenken anregen zu wollen, indem man das Gegenteil des typischerweise Erwarteten aufbietet. Allerdings lässt sich bei solchen Blumenmädchen die Verführungssituation für Parsifal nur sehr schwer nachvollziehen.

Ursächlich für die Langeweile und Frustration ist im Wesentlichen vielmehr die minimalistische, in weiten Teilen bis zum Nichtvorhandensein reduzierte Personenregie, die mit einer Statik oder höchstens Zeitlupenbewegungen der Personen einhergeht. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass man sich bemühte, die Werke aus der bildenden Kunst nur ja nicht durch ein intensiv gestaltendes Agieren auf der Bühne zu stören. Diese Sorge erscheint indes völlig unbegründet. Die von dieser Haltung ausgehenden fatalen Auswirkungen auf die darstellende Kunstform des MusikTHEATERS gerieten hierbei offensichtlich völlig aus dem Blick. Im bereits oben zitierten Magazin Max Joseph äußerte Pierre Audi: „Was Baselitz präsentiert, ist eine Meditation über das Mysterium des Todes.“ Das ist ein legitimer Ansatz, aber zu wenig, wenn sich die Opernaufführung letztlich darauf beschränkt. Die von Pierre Audi an obiger Stelle selbst benannte große Herausforderung, so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich zu inszenieren, hat er leider letztlich nicht erfüllt – es war viel zu wenig.


Christian Gerhaher (Amfortas) im 3. Aufzug mit dem Chor der Bayerischen Staatsoper im Hintergrund. Copyright: Ruth Walz

 

Es entstand der Eindruck, dass die Sänger bei der Ausgestaltung ihrer Figuren im Wesentlichen auf sich selbst gestellt waren. Ein emotional sehr ausdrucksstarkes, ergreifendes und komplexes Rollenporträt gelang Christian Gerhaher als Amfortas. Dieser ist zermürbt von seinen ständigen Schmerzen aufgrund der sich nicht schließen wollenden Wunde; er wird geplagt von Schuldgefühlen über sein für die Entstehung der Wunde ursächliches, und von ihm als solches empfundenes Versagen; er ist verzweifelt darüber, dass er unter Druck gesetzt wird, trotz der für ihn so schmerzhaften Folgen den Gral immer wieder aufs Neue zu enthüllen; er empfindet einerseits Wut und Verärgerung insbesondere auf seinen die Enthüllung fordernden Vater Titurel, andererseits Ohnmachtsgefühle, aus denen heraus er sich der Forderung letztlich wieder fügt. Spürbar wird im 3. Aufzug, wie sehr die vielen Jahre des Leidens an der Wunde seit dem 1. Aufzug Amfortas weiter zermürbt haben und welch unerbittliche innere Härte einerseits und innere Leere andererseits in ihm entstanden sind. Kurz vor der Erlösung durch Parsifal und seinem anschließenden Tod durchlebt Amfortas in schnellem Wechsel zum einen Gefühlskälte bis hin zur Gefühllosigkeit und zum anderen Verzweiflung, Schuldgefühle, Wut und Ärger, wieder im Wechsel mit Lebensmüdigkeit und intensiver Todessehnsucht. All dies brachte Christian Gerhaher sowohl darstellerisch als auch mit einer sehr großen stimmlichen Bandbreite intensiv zum Ausdruck. Er scheute auch nicht davor zurück, zum Zwecke des Ausdrucks vereinzelt die Grenzen des Stimmschönen zu überschreiten sowie im 3. Aufzug am Ende eine Art Sprechgesang einzusetzen. Eine sehr mutige, eigenwillige Interpretation, die vermutlich nicht ungeteilte Zustimmung finden dürfte. Erkennbar war zwar, dass sich Christian Gerhaher, für ihn typisch, dem Rollencharakter von der intellektuellen Seite angenähert hatte. Auch agierte er zum Teil nahe an der Grenze zur Überinterpretation. Jedoch gelang es ihm im Ergebnis, die komplexe innere Gefühlslage des Amfortas auch emotional durch und durch glaubwürdig zu verkörpern. Der Bariton zeigte zudem einerseits immer wieder, wie klar und rein er seine helle Stimme zu führen vermag, erstaunte andererseits bei den „Erbarmen“-Rufen im 1. Aufzug mit einem sehr großen Stimmvolumen, welches das seiner männlichen Kollegen an diesem Abend bei weitem in den Schatten stellte. Wegen seiner zahlreichen stimmschönen Elemente kamen bei ihm zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringsten Zweifel daran auf, dass etwa die von ihm vor allem im 3. Aufzug eingesetzte fahle Stimme nur ein (effektvolles) Ausdrucksmittel für die innere Befindlichkeit der von ihm dargestellten Figur war.

Mit ihrem runden, vollen, warmen, klangschönen Sopran ohne Schärfen beeindruckte Nina Stemme als Kundry vor allem in ihrer Verführungsszene mit Parsifal. Mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit konnte man emotional nachempfinden und verstehen, wie Kundry psychologisch geschickt Parsifals „Wunde“, seine Mutter, für ihn als solche erkenn- und spürbar macht und damit – im Sinne der Lehre Sigmund Freuds – deren Heilung verursacht, so dass er schließlich durch den Kuss Erkenntnis erlangt und „durch Mitleid wissend“ wird. Obwohl sich sein Auftritt regiebedingt ganz überwiegend als statisches Rampensingen ohne Blickkontakt mit Kundry darstellte, gelang es Wolfgang Koch durch ausdrucksstarke stimmliche Gestaltung mit seinem elegant geführten, wohlklingenden Bariton als Klingsor zu glänzen. René Pape, der erkennbar auf eine immense Bühnenerfahrung als Gurnemanz zurückgreifen kann, zeigte immer wieder, welche gestalterischen Möglichkeiten diese Partie bietet, die ansonsten für das Publikum durchaus langatmig werden kann. Er nutzte den oben erwähnten sehr zurückgenommenen, fast gedämpften Klangteppich des Orchesters in einem ungewöhnlich starken Maße aus und sang über weite Strecken auffällig verhalten und relativ leise, auch wenn er immer wieder scheinbar mühelos zu sehr schönen Steigerungen in der Lage war. Jonas Kaufmann ging die Titelpartie des Parsifal stimmlich in der für ihn charakteristischen Art und Weise an und wurde von seinen Fans hierfür am Ende bejubelt. Darstellerisch konnte man den Eindruck gewinnen, dass er in besonderem Maße von einer stärker ausgearbeiteten Personenregie hätte profitieren können. Bemerkenswert war, dass Kaufmanns Stimme bisweilen dunkler klang als Papes recht helle Bassstimme, weshalb diese Besetzungskombination geeignet war, insbesondere bei denjenigen im Publikum, die schon auf viele Parsifal-Aufführungen zurückblicken können, gewisse Irritationen im Hörerlebnis hervorzurufen. Alle übrigen Solisten rundeten das sehr gute Gesamtbild ab: Bálint Szabó (Titurel), Rachael Wilson (Stimme aus der Höhe und Klingsors Zaubermädchen), Tara Erraught (Zweiter Knappe und Klingsors Zaubermädchen), Paula Iancic (Erster Knappe und Klingsors Zaubermädchen), Kevin Conners und Callum Thorpe (Erster und Zweiter Gralsritter), Manuel Günther und Matthew Grills (Dritter und Vierter Knappe) sowie Golda Schultz, Selene Zanetti und Noluvuyiso Mpofu (Klingsors Zaubermädchen).

Am Ende großer und langanhaltender Jubel für alle Beteiligten. Mit dem größten Jubel wurden verdientermaßen Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorchester bedacht.

Martina Bogner

 

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