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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: AUS EINEM TOTENHAUS

23.10.2018 | Allgemein, Oper

MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper 21. Okt. 2018 

Leoš Janácek’s „Aus einem Totenhaus“

 Musikalische Leitung: Simone Young Produktion: Frank Castorf

Bitternis in brutaler Gegenwärtigkeit                  Überragende Durchdringung von Szene und Musik

Einlassungen von Tim Theo Tinn


Bo Skovhus, Statisterie © Wilfried Hösl

Jedes Ding ist so gut, wie sein schwächstes Teil! Man findet an der Bayrischen Staatsoper in Nikolaus Bachler einen Intendanten, der seine Mission „Spitzenleistung“ als Novum in der Theaterlandschaft tatsächlich damit verbindet, nahezu jede Vorstellung in seiner Loge zu beobachten, als korrektiver Spiritus Rector seines kreativen Reiches. Auch diese mglw. profan erscheinende Philosophie begründet die von ihm geschaffene Weltgeltung seines Opernhauses. Dazu gehört auch das Engagement von Franziska Betz. Die junge Dramaturgin gab vor der Vorstellung hervorragende Informationen zum Werk, zur Aufführung und den Rahmenbedingungen.

Wuchtige Monumente von sozial-gesellschaftlicher Wahrhaftigkeit in beseeltem Ausdruck   bildender und darstellender Kunst sind

die Malerin Frieda Kahlo (1907- 1954): volkstümliche Entfaltung von Surrealismus in mystisch, religiösen Motiven, in Sexualität, Gewalt, Geburt und Tod mit Skeletten und Totenköpfe in eindringlich bunten Wesen, Flora und Fauna.


Frieda Kahlo – Selbstbildnis und Tod

und der Regisseur Sergei M. Eisenstein (1898 -1948):  Begründer der Assoziations- und Attraktionsmontage, dem Theater der Affekte und Assoziationen. Seine zukunftsweisende Montagetechnik, die Szenenverknüpfung machte ihn zu einem der größten Visionäre darstellender Kunst. Leider folgt man insbesondere am Theater i.d.R. seinem Antipoden David L. W. Griffith (1875-1948), der brav chronologisch erzählt, mit ggf. wenigen Parallelmontagen. Man findet in fast jeder Aufführung die Konzentration auf zentrale Personen, restliche Personagen werden mehr oder minder gekonnt drum herum arrangiert (s. eklatantes Negativbeispiel – Salome – Salzburg 2018).

Reminiszenzen an beide Weltenschöpfer finden sich in genialer Metamorphose der Atmosphäre und szenischen Zitaten der Inszenierung. 

  1. Kahlo: „Ich male meine eigene Wirklichkeit. Das Einzige, was ich über meine Arbeit mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich male, weil ich muss, und dass ich immer male, was mir in den Sinn kommt,……“.

So kann man die an Genialität heranreichende Arbeit Castorfs einordnen. Es gibt keine dramaturgische Ordnung, es gibt Surrealismus im Wortsinn „über Realismus (Konsenzrealität) stehend“ in unverschämten Attraktionen, Affekten und Assoziationen. Diese Öffnung einer theatralen Welt überlagert und potenziert sich ständig wie ein Perpetuum Mobile. Das beginnt schon mit der Vorlage. Von Dostojewski aufgrund eigener schlimmer Gefangenenjahre als Erzählung verdichtet, nutzt Janacek die Vorlage unter dem Motto „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“ und wird von Castorf weiter komprimiert zu etwas Singulärem. Der weite Kosmos dieser Inszenierung erinnert an Hans Sachs/Meistersinger:

„Ich fühl’s und kann’s nicht versteh’n: – kann’s nicht behalten, – doch auch nicht vergessen: und fass‘ ich es ganz, kann ich’s nicht messen!


Statisterie, Matthew Grills, Bo Skovhus, Callum Thorpe  © Wilfried Hösl

Das ist Quantenmechanik: Makro – und Mikrokosmos sind unendlich – nicht fassbar – dieses Tor können Geneigte in der Inszenierung finden.

Inhalt, Videos: Stückeinführung 8,35 Min. und Trailer 2,4 Min:                
https://www.staatsoper.de/stueckinfo/aus-einem-totenhaus.html

Die weitere kosmische Verdichtung und Entfaltung der überbordenden Eindrücke werden mit musikalischer Kreatürlichkeit weiter potenziert.

Mit Beginn der Vorstellung wurde der Rezensent unruhig, unwillig, verärgert – „Ich verstehe nichts“. Eindrücke überspringen, überschlagen, überkugeln sich. Konkret Gleichzeitiges: Übersetzungstafel, Leinwand erzählt Stummfilm oder Liveaufnahmen mit Lesetext, deren Darsteller und die Kameraleute beobachtet man auf der Hinterbühne. Andere Protagonisten werkeln in unterschiedlichen Bereichen der Bühne usw.  Szenisches Gewusel oder eine theatralische Form, die Verwirrung als Maxime einsetzt?

Dazu  Dostojewskis 1864: „Von der Weltgeschichte ließe sich vieles sagen, alles was einem noch mit der wirrsten Phantasie einfalle.  Nur eins lasse sich nicht sagen, dass sie vernünftig sei.“

Das ist der Schlüssel. Wie anders will man Authentizität schaffen, der Konsenzrealität dieser Welt entsprechen als durch diese szenische Pluralität. Das ist das plausible Panoptikum unserer Welt, die Reizüberflutung als Konsenzrealität.

Damit ist ein kognitives Missverständnis angesprochen. Der Mensch ist kein Verstandeswesen. Vom Gehirn im limbisches Systemgeleitet, wird unser Verhalten überwiegend (über 80 %) von Gefühlen, Emotionen, Intuitionen geleitet. (s. Schriften Tim Theo Tinn, Theater für den 6.Sinn https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/). Wer sich auf diese Weise von der Aufführung führen lässt, kann Großes erleben.


Ensemble der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl

Lehnen wir uns also zurück, erheben das Sachs Zitat zum Credo und lassen uns auf die beschworene Seelensprache ein. Unfassbare Vielfalt im Spiegel trüber Bitternis erreicht mehr als jeder rationale Vortrag. Das geschah nach wenigen Minuten in dieser Inszenierung und führte zu einem tief berührenden Abend. Seele, Gefühl wird angesprochen, keine nüchterne Kognition.

Man darf an diesem Abend eine tiefe Wahrhaftigkeit über triste Wirklichkeit hinausgehend fühlen: ein besseres Ich in utopischer Moral ist möglich. Trotz der aufwühlenden Bitternis ahnt man Wirkungsmöglichkeiten von Moral.

Dostojewski ließ seine Geschichte negativ ausgehen, Janacek schuf einen hoffnungsvollen Ausblick, Castorfs Sichtung ein negatives Gegenbild – „Dystopie“.

Unendliche nicht fassbare Wirkungswelten dieser Inszenierung führen hier zu Theodor W. Adorno geflügeltem Wort:  „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“  

Die Frage aus dem assoziativen Rahmen dieser Inszenierung lautet also: Ist es richtig falsch zu leben? Tatsachlich hat die Entwicklung unserer Gesellschaft zu massiven Verwerfungen von „richtig und falsch“ geführt. Der Sinn für das Richtige wird auf Führungsebenen in Politik und Wirtschaft jeder Moral untergeordnet. (s. aktuell: Kanzlerin Merkel will die zulässige Giftmenge in unserer Atemluft erhöhen, statt die KFZ-Industrie zur Regulierung von Betrügereien zu bewegen). Adornos „Traum eines Daseins ohne Schande“ wird damit geradezu karikiert, aber erscheint auch als Selbstentlarvung.

Tatsächlich haben weite führende Bevölkerungsgruppen offensichtlich jede Menschlichkeit und Moral verloren (s. „Massenmedien u.a.  haben zu Verhaltensschablonen, unmerklicher Deformation der Psyche geführt: Zombifizierung“                                                              https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/)

Besonders Leute in kognitive Ausbildung fordernden Tätigkeiten erscheinen heute deformiert. Beispiel Judikative (Zitat Totenhaus: … und der Richter, der Hurensohn…). Hoffnungslose Gefangene in einem Straflager in dieser Vorlage sind keine Fiktion. Die deutsche Konsenzrealität mit moralfreien Richtern gebiert solch Desaströses: auch in unserem Land sitzen Hunderte unschuldig im Gefängnis!  

Beispiele:                                                                                                                               Justizirrtum –Unschuldig hinter Gittern | Doku                          https://www.youtube.com/watch?v=-iRPHu0jUfQ

Unschuldig hinter Gittern – Weggesperrt und abgehakt
https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/unschuldig-hinter-gittern-102.html

Kriminelle deutsche Justiz                                                                                             

http://www.hist-chron.com/eu/D/kriminelle-dt-justiz002.html

Solche Themen ergeben sich beim wachen Zuschauer. Daraus wächst die noch naive Utopie, dass die zwar kognitiv- also faktensammelnd- Hochbegabten, die heute noch moralfrei bestimmend in der Gesellschaft agieren, zukünftig nur noch i. R. Tellerwäscher arbeiten dürfen: denn sie sind schädlich für die Menschheit. Daraus könnte eine glückliche Menschheit resultieren. Warum sollen Wesen mit deformierter Seele die Welt lenken?


Chor und Statisterie© Wilfried Hösl

Heutiger kann eine Musiktheater Inszenierung in diesem Panoptikum der Hölle nicht sein. Das Ganze ist keine dramaturgisch strukturierte Handlung mit  Konfliktlösung (Katharsis), sondern eine Endlosschleife fortgesetzten Elends mit 3 Momenten konkreter Schicksalsbetrachtung (s. Handlung) und begeistert.

Typische Castorf – Ingredienzen: lebenden Karnickel, Voodoopriester, Totenköpfe, Theaterblut, Tätowierungen, Kinoplakate, lebende Skelette, Cola-Lichtreklame, Feuervogel aus russischen Märchen, Unterhosen, Lenin-Büste, Einkauftüte,  Pope, Schwertfisch (der wirkt sogar lebendig und wackelt elastisch), Fußfetischismus usw.

Eine episodisch durchkomponierte tonale Musik als ständige dramaturgische Klammer und Verdichtung der Szene aber auch eigenständiger gesangsfreier Momente, in der der Focus auf der Musik liegt und szenisch aufreizende Pantomimen liefert. Kurze volkstümliche Ansätze, expressionistische Anklänge, Janacek hat soziales Beben eruptiv komponiert. Gesteigerte Brisanz wird durch ungewöhnliche Instrumentierung geweckt: Glocken, Schwerter, Ketten, Säge, Pickel, Schaufel, Rassel, dröhnende Werkzeuge und Amboss-Schläge. 

Die Dirigentin Simone Young hat die Ausdruckswut der Komposition beeindruckend eingerichtet. Die Musik ist das Klangbett der Handlung, der akustische Rahmen sprengt den Alltag um in die Bitternis der Geschichte einzutauchen und diese akustisch zu illustrieren. Die Durchdringung von Szene und Musik schafft betrübte Erkenntnis weidwunder Welt. Trotzdem bleiben Dezibel so geformt, dass kein Sänger beeinträchtigt wird.

Sicher gibt es kleinere und größere Aufgaben für die Sänger, sicher gibt es herausragende Leistungen (z. B. Bo Skovhus und Charles Workman) Man kann aber nur die Gesamtleistung eines Ensembles würdigen, dass unter Aufgabe jeden kulinarischen Wollens sängerische Dramatik umsetzt, die in der Rezeptionsgeschichte der Bayrischen Staatsoper als epochal zu bezeichnen ist.

Tief in Welten-Bitternis eintauchend, endet der Abend in langem begeistertem Applaus.

Nebenbei: Rechts und links vom Rezensenten saßen 2 ältere Herren, Typ leitendende Beamte, pensionierte Richter, die versteinert jeden Applaus verweigerten.  Ist man da jemandem auf die Schliche gekommen?


Mädchen in Totenmaske», 1939: Frieda Kahlo

 Frieda Kahlo


Vier Bewohner Mexikos», 1938 – Frieda Kahlo

 

Musikalische Leitung                                    Simone Young

Inszenierung                                                  Frank Castorf

Bühne                                                            Aleksandar Denić

Kostüme                                                        Adriana Braga Peretzki

Dramaturgie                                                   Miron Hakenbeck

Chor                                                               Sören Eckhoff

 

Aleksandr Petrovič Gorjančikov                   Peter Rose

Aljeja, ein junger Tartar                                 Evgeniya Sotnikova

Luka (Filka Morozov)                                   Aleš Briscein

Skuratov                                                        Charles Workman

Šiškov                                                            Bo Skovhus

Großer Sträfling + mit dem Adler                 Manuel Günther

Kleiner Sträfling / Verbitterter Sträfling       Tim Kuypers

Platzkommandant                                          Christian Rieger

Der alte Sträfling                                           Ulrich Reß

Čekunov                                                        Milan Siljanov

Betrunkener Sträfling                                    Galeano Salas

Koch (Sträfling)                                            Oğulcan Yilmaz

Schmied (Sträfling)                                       Alexander Milev

Pope                                                               Peter Lobert

Dirne                                                              Niamh O’Sullivan

Don Juan (Brahmane)                                               Callum Thorpe

Kedril / Schauspieler / Junger Sträfling         Matthew Grills

Šapkin / Fröhlicher Sträfling                          Kevin Conners

Čerevin / Stimme aus kirgisischer Steppe      Dean Power

Wache                                                            Long Long

Bayerisches Staatsorchester – Chor der Bayerischen Staatsoper

München, 22. Okt. 2018

Tim Theo Tinn berichtet aus der Bayerischen Staatsoper 

Profil TTT:   Rd. 15 Jahre Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Über 20 Jahre wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freie Tätigkeit Journalist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik u. Quantentheorie für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden).

                                                                                                                                         

 

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