MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper 21. Okt. 2018
Leoš Janácek’s „Aus einem Totenhaus“
Musikalische Leitung: Simone Young Produktion: Frank Castorf
Bitternis in brutaler Gegenwärtigkeit Überragende Durchdringung von Szene und Musik
Einlassungen von Tim Theo Tinn
Bo Skovhus, Statisterie © Wilfried Hösl
Jedes Ding ist so gut, wie sein schwächstes Teil! Man findet an der Bayrischen Staatsoper in Nikolaus Bachler einen Intendanten, der seine Mission „Spitzenleistung“ als Novum in der Theaterlandschaft tatsächlich damit verbindet, nahezu jede Vorstellung in seiner Loge zu beobachten, als korrektiver Spiritus Rector seines kreativen Reiches. Auch diese mglw. profan erscheinende Philosophie begründet die von ihm geschaffene Weltgeltung seines Opernhauses. Dazu gehört auch das Engagement von Franziska Betz. Die junge Dramaturgin gab vor der Vorstellung hervorragende Informationen zum Werk, zur Aufführung und den Rahmenbedingungen.
Wuchtige Monumente von sozial-gesellschaftlicher Wahrhaftigkeit in beseeltem Ausdruck bildender und darstellender Kunst sind
die Malerin Frieda Kahlo (1907- 1954): volkstümliche Entfaltung von Surrealismus in mystisch, religiösen Motiven, in Sexualität, Gewalt, Geburt und Tod mit Skeletten und Totenköpfe in eindringlich bunten Wesen, Flora und Fauna.
Frieda Kahlo – Selbstbildnis und Tod
und der Regisseur Sergei M. Eisenstein (1898 -1948): Begründer der Assoziations- und Attraktionsmontage, dem Theater der Affekte und Assoziationen. Seine zukunftsweisende Montagetechnik, die Szenenverknüpfung machte ihn zu einem der größten Visionäre darstellender Kunst. Leider folgt man insbesondere am Theater i.d.R. seinem Antipoden David L. W. Griffith (1875-1948), der brav chronologisch erzählt, mit ggf. wenigen Parallelmontagen. Man findet in fast jeder Aufführung die Konzentration auf zentrale Personen, restliche Personagen werden mehr oder minder gekonnt drum herum arrangiert (s. eklatantes Negativbeispiel – Salome – Salzburg 2018).
Reminiszenzen an beide Weltenschöpfer finden sich in genialer Metamorphose der Atmosphäre und szenischen Zitaten der Inszenierung.
- Kahlo: „Ich male meine eigene Wirklichkeit. Das Einzige, was ich über meine Arbeit mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich male, weil ich muss, und dass ich immer male, was mir in den Sinn kommt,……“.
So kann man die an Genialität heranreichende Arbeit Castorfs einordnen. Es gibt keine dramaturgische Ordnung, es gibt Surrealismus im Wortsinn „über Realismus (Konsenzrealität) stehend“ in unverschämten Attraktionen, Affekten und Assoziationen. Diese Öffnung einer theatralen Welt überlagert und potenziert sich ständig wie ein Perpetuum Mobile. Das beginnt schon mit der Vorlage. Von Dostojewski aufgrund eigener schlimmer Gefangenenjahre als Erzählung verdichtet, nutzt Janacek die Vorlage unter dem Motto „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“ und wird von Castorf weiter komprimiert zu etwas Singulärem. Der weite Kosmos dieser Inszenierung erinnert an Hans Sachs/Meistersinger:
„Ich fühl’s und kann’s nicht versteh’n: – kann’s nicht behalten, – doch auch nicht vergessen: und fass‘ ich es ganz, kann ich’s nicht messen!
Statisterie, Matthew Grills, Bo Skovhus, Callum Thorpe © Wilfried Hösl
Das ist Quantenmechanik: Makro – und Mikrokosmos sind unendlich – nicht fassbar – dieses Tor können Geneigte in der Inszenierung finden.
Inhalt, Videos: Stückeinführung 8,35 Min. und Trailer 2,4 Min:
https://www.staatsoper.de/stueckinfo/aus-einem-totenhaus.html
Die weitere kosmische Verdichtung und Entfaltung der überbordenden Eindrücke werden mit musikalischer Kreatürlichkeit weiter potenziert.
Mit Beginn der Vorstellung wurde der Rezensent unruhig, unwillig, verärgert – „Ich verstehe nichts“. Eindrücke überspringen, überschlagen, überkugeln sich. Konkret Gleichzeitiges: Übersetzungstafel, Leinwand erzählt Stummfilm oder Liveaufnahmen mit Lesetext, deren Darsteller und die Kameraleute beobachtet man auf der Hinterbühne. Andere Protagonisten werkeln in unterschiedlichen Bereichen der Bühne usw. Szenisches Gewusel oder eine theatralische Form, die Verwirrung als Maxime einsetzt?
Dazu Dostojewskis 1864: „Von der Weltgeschichte ließe sich vieles sagen, alles was einem noch mit der wirrsten Phantasie einfalle. Nur eins lasse sich nicht sagen, dass sie vernünftig sei.“
Das ist der Schlüssel. Wie anders will man Authentizität schaffen, der Konsenzrealität dieser Welt entsprechen als durch diese szenische Pluralität. Das ist das plausible Panoptikum unserer Welt, die Reizüberflutung als Konsenzrealität.
Damit ist ein kognitives Missverständnis angesprochen. Der Mensch ist kein Verstandeswesen. Vom Gehirn im „limbisches System“ geleitet, wird unser Verhalten überwiegend (über 80 %) von Gefühlen, Emotionen, Intuitionen geleitet. (s. Schriften Tim Theo Tinn, Theater für den 6.Sinn https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/). Wer sich auf diese Weise von der Aufführung führen lässt, kann Großes erleben.
Ensemble der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl
Lehnen wir uns also zurück, erheben das Sachs Zitat zum Credo und lassen uns auf die beschworene Seelensprache ein. Unfassbare Vielfalt im Spiegel trüber Bitternis erreicht mehr als jeder rationale Vortrag. Das geschah nach wenigen Minuten in dieser Inszenierung und führte zu einem tief berührenden Abend. Seele, Gefühl wird angesprochen, keine nüchterne Kognition.
Man darf an diesem Abend eine tiefe Wahrhaftigkeit über triste Wirklichkeit hinausgehend fühlen: ein besseres Ich in utopischer Moral ist möglich. Trotz der aufwühlenden Bitternis ahnt man Wirkungsmöglichkeiten von Moral.
Dostojewski ließ seine Geschichte negativ ausgehen, Janacek schuf einen hoffnungsvollen Ausblick, Castorfs Sichtung ein negatives Gegenbild – „Dystopie“.
Unendliche nicht fassbare Wirkungswelten dieser Inszenierung führen hier zu Theodor W. Adorno geflügeltem Wort: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“
Die Frage aus dem assoziativen Rahmen dieser Inszenierung lautet also: Ist es richtig falsch zu leben? Tatsachlich hat die Entwicklung unserer Gesellschaft zu massiven Verwerfungen von „richtig und falsch“ geführt. Der Sinn für das Richtige wird auf Führungsebenen in Politik und Wirtschaft jeder Moral untergeordnet. (s. aktuell: Kanzlerin Merkel will die zulässige Giftmenge in unserer Atemluft erhöhen, statt die KFZ-Industrie zur Regulierung von Betrügereien zu bewegen). Adornos „Traum eines Daseins ohne Schande“ wird damit geradezu karikiert, aber erscheint auch als Selbstentlarvung.
Tatsächlich haben weite führende Bevölkerungsgruppen offensichtlich jede Menschlichkeit und Moral verloren (s. „Massenmedien u.a. haben zu Verhaltensschablonen, unmerklicher Deformation der Psyche geführt: Zombifizierung“ https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/)
Besonders Leute in kognitive Ausbildung fordernden Tätigkeiten erscheinen heute deformiert. Beispiel Judikative (Zitat Totenhaus: … und der Richter, der Hurensohn…). Hoffnungslose Gefangene in einem Straflager in dieser Vorlage sind keine Fiktion. Die deutsche Konsenzrealität mit moralfreien Richtern gebiert solch Desaströses: auch in unserem Land sitzen Hunderte unschuldig im Gefängnis!
Beispiele: Justizirrtum –Unschuldig hinter Gittern | Doku https://www.youtube.com/watch?v=-iRPHu0jUfQ
Unschuldig hinter Gittern – Weggesperrt und abgehakt
https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/unschuldig-hinter-gittern-102.html
Kriminelle deutsche Justiz
http://www.hist-chron.com/eu/D/kriminelle-dt-justiz002.html
Solche Themen ergeben sich beim wachen Zuschauer. Daraus wächst die noch naive Utopie, dass die zwar kognitiv- also faktensammelnd- Hochbegabten, die heute noch moralfrei bestimmend in der Gesellschaft agieren, zukünftig nur noch i. R. Tellerwäscher arbeiten dürfen: denn sie sind schädlich für die Menschheit. Daraus könnte eine glückliche Menschheit resultieren. Warum sollen Wesen mit deformierter Seele die Welt lenken?
Chor und Statisterie© Wilfried Hösl
Heutiger kann eine Musiktheater Inszenierung in diesem Panoptikum der Hölle nicht sein. Das Ganze ist keine dramaturgisch strukturierte Handlung mit Konfliktlösung (Katharsis), sondern eine Endlosschleife fortgesetzten Elends mit 3 Momenten konkreter Schicksalsbetrachtung (s. Handlung) und begeistert.
Typische Castorf – Ingredienzen: lebenden Karnickel, Voodoopriester, Totenköpfe, Theaterblut, Tätowierungen, Kinoplakate, lebende Skelette, Cola-Lichtreklame, Feuervogel aus russischen Märchen, Unterhosen, Lenin-Büste, Einkauftüte, Pope, Schwertfisch (der wirkt sogar lebendig und wackelt elastisch), Fußfetischismus usw.
Eine episodisch durchkomponierte tonale Musik als ständige dramaturgische Klammer und Verdichtung der Szene aber auch eigenständiger gesangsfreier Momente, in der der Focus auf der Musik liegt und szenisch aufreizende Pantomimen liefert. Kurze volkstümliche Ansätze, expressionistische Anklänge, Janacek hat soziales Beben eruptiv komponiert. Gesteigerte Brisanz wird durch ungewöhnliche Instrumentierung geweckt: Glocken, Schwerter, Ketten, Säge, Pickel, Schaufel, Rassel, dröhnende Werkzeuge und Amboss-Schläge.
Die Dirigentin Simone Young hat die Ausdruckswut der Komposition beeindruckend eingerichtet. Die Musik ist das Klangbett der Handlung, der akustische Rahmen sprengt den Alltag um in die Bitternis der Geschichte einzutauchen und diese akustisch zu illustrieren. Die Durchdringung von Szene und Musik schafft betrübte Erkenntnis weidwunder Welt. Trotzdem bleiben Dezibel so geformt, dass kein Sänger beeinträchtigt wird.
Sicher gibt es kleinere und größere Aufgaben für die Sänger, sicher gibt es herausragende Leistungen (z. B. Bo Skovhus und Charles Workman) Man kann aber nur die Gesamtleistung eines Ensembles würdigen, dass unter Aufgabe jeden kulinarischen Wollens sängerische Dramatik umsetzt, die in der Rezeptionsgeschichte der Bayrischen Staatsoper als epochal zu bezeichnen ist.
Tief in Welten-Bitternis eintauchend, endet der Abend in langem begeistertem Applaus.
Nebenbei: Rechts und links vom Rezensenten saßen 2 ältere Herren, Typ leitendende Beamte, pensionierte Richter, die versteinert jeden Applaus verweigerten. Ist man da jemandem auf die Schliche gekommen?
Mädchen in Totenmaske», 1939: Frieda Kahlo
Frieda Kahlo
Vier Bewohner Mexikos», 1938 – Frieda Kahlo
Musikalische Leitung Simone Young
Inszenierung Frank Castorf
Bühne Aleksandar Denić
Kostüme Adriana Braga Peretzki
Dramaturgie Miron Hakenbeck
Chor Sören Eckhoff
Aleksandr Petrovič Gorjančikov Peter Rose
Aljeja, ein junger Tartar Evgeniya Sotnikova
Luka (Filka Morozov) Aleš Briscein
Skuratov Charles Workman
Šiškov Bo Skovhus
Großer Sträfling + mit dem Adler Manuel Günther
Kleiner Sträfling / Verbitterter Sträfling Tim Kuypers
Platzkommandant Christian Rieger
Der alte Sträfling Ulrich Reß
Čekunov Milan Siljanov
Betrunkener Sträfling Galeano Salas
Koch (Sträfling) Oğulcan Yilmaz
Schmied (Sträfling) Alexander Milev
Pope Peter Lobert
Dirne Niamh O’Sullivan
Don Juan (Brahmane) Callum Thorpe
Kedril / Schauspieler / Junger Sträfling Matthew Grills
Šapkin / Fröhlicher Sträfling Kevin Conners
Čerevin / Stimme aus kirgisischer Steppe Dean Power
Wache Long Long
Bayerisches Staatsorchester – Chor der Bayerischen Staatsoper
München, 22. Okt. 2018
Tim Theo Tinn berichtet aus der Bayerischen Staatsoper
Profil TTT: Rd. 15 Jahre Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Über 20 Jahre wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freie Tätigkeit Journalist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik u. Quantentheorie für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden).