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MÖRBISCH: ANATEVKA – ungewohnte Kost für „Operetten Feinspitze“

11.07.2014 | KRITIKEN, Operette/Musical

UNGEWOHNTE KOST FÜR OPERETTEN-FEINSPITZE. „Anatevka“-Premiere in Mörbisch (10.07.2014)

 Ein Wagnis war es sicher, im von Harald Serafin hinterlassenen Operetten-Mekka das Musical „Anatevka“ auf den Spielplan zu setzen – und man muss Intendantin DAGMAR SCHELLENBERGER zu ihrem Mut gratulieren.

Klug hat sie erkannt, dass sich Stücke, deren Handlung überwiegend im Freien angesiedelt ist, besser für Open Air-Aufführungen eignen, als jene, die – wie etwa „Die Fledermaus“ – in geschlossenen Räumen spielen.

Bühnenbildner WALTER VOGELWEIDER hat ein realistisches Dorf, fernab jeder Chagall-Idylle, geschaffen, das rechts und links von Kasernen und Fabrikbauten eingefasst wird und über dessen Dächer die Eisenbahn (wirkungsvoller Effekt!) hinwegbraust.

So wird deutlich, dass das Ende des Dörfchens Anatevka nicht allein im Antisemitismus des Zarenregimes begründet ist, sondern in der sich ausbreitenden Industrialisierung und Militarisierung vor dem 1. Weltkrieg. Diesen Aspekt greift KARL ABSENGERs ansonsten solide, weitgehend kitschfreie Inszenierung, welche die Möglichkeiten der Mörbischer Seebühne souverän nutzt, bedauerlicherweise nicht auf.

Absenger hat mit seinen Darstellern sorgfältig am Dialog gearbeitet und diese zu ehrlichem Schauspiel ohne Outrage angehalten.

Das ist Vorteil und – angesichts der riesigen Ausmaße von Spielraum und Tribünen – gleichzeitig auch Nachteil der Inszenierung. Manches gerät allzu dezent wie z.B. das auf Zarenbefehl durchgeführte Pogrom, das sich im Umkippen von Wirtshausbänken erschöpft und – ausgerechnet – die Hauptfigur des Milchmanns Tevje.

 Es ist GERHARD ERNST hoch anzurechnen, sich in seiner Rollengestaltung vor der Überzeichnung der Figur durch viele seiner Vorgänger zu hüten. Er ist authentisch und ergreifend in seiner väterlichen Güte wie in seiner Härte. Aber eben manchmal eher an der Intimität von Kamera-Arbeit orientiert als an Freilichttheater-Maßstäben. Stimmlich ist er eine Luxus-Besetzung. Selten hat man das berühmte „Wenn ich einmal reich wär'“ so kultiviert gesungen gehört.

DAGMAR SCHELLENBERGER ist auf den ersten Blick von ihrer schlanken Erscheinung her keine Bilderbuch-Golde. Nach der Geburt ihrer fünf Kinder muß sie jedesmal strenge Diät gehalten haben. Doch ist sie resolut und insbesondere im Zusammenspiel (und -gesang) mir ihrem Bühnen-Ehemann berührend.

Von ihren drei erwachsenen Töchtern (BELE KUMBERGER, ELISABETH EBNER, IRIS GRAF) und deren Geliebten (ERWIN BELAKOWITSCH, GEORG LESKOVICH, ANDREAS SAUERZAPF) kommen nicht alle gut mit dem Musical-Duktus ihrer Lieder und Duette zurecht. Was generell die Frage aufwirft, warum so viele Rollen mit Opernsängerinnen und -sängern besetzt sind, anstatt mit Musical-Darstellern, die mit solchen Nummern besser zurecht kämen. Songs, die für Belt-Stimmen geschrieben wurden, erweisen sich grundsätzlich für klassische Soprane als zu tief.

Keine Angst vor kräftigen Tönen in Stimme und Darstellung haben das Berliner Theater-Urgestein MARIA MALLE als Jente, FRANZISKA STANNER als Oma Zeitel und der Mörbisch-erfahrene STEFAN PARYLA-RAKY als Lazar Wolf. Ihre Bühnenfiguren besitzen das prallste Leben und den stärksten komödiantischen „Saft“ innerhalb des personenreichen Ensembles.

Hervorzuheben für ihre sprachliche Präzision und Differenzierung sind OLAF PLASSA als Wachtmeister und HELMUT THIELE als Buchhändler.

 Der (ebenso wie das Orchester) von einem Probenraum zugespielte Chor (Einstudierung: THOMAS BÖTTCHER) ist klein, klingt aber viel zu opernhaft, um als Dorfbevölkerung glaubwürdig zu wirken.

VLADIMIR SNIZEK hat sein aus prägnanten Typen zusammengesetztes Tanzensemble mit raumgreifenden Choreographien ausgestattet und meidet erfreulicherweise das Abgleiten ins Simpel-Folkloristische.

Dirigent DANIEL LEVI arbeitet aus der (abgesehen vom Hauptschlager) dürftigen Partitur, deren kommerziell ausgerichtetes Streicherarragement die gewinnorientierte Produktionsweise des Broadways nicht verleugnen kann, mit kammermusikalischer Sorgfalt jede Stimme und jedes aus der jüdischen Volksmusik kommende Motiv deutlich heraus. Er setzt auf melacholische Stimmungen und elegische Tempi. Der Versuch das Musical in den Ensemble-Nummern und Finali auf Spieloper zu trimmen, geht allerdings nach hinten los: Komponist Jerry Bock ist weder ein Smetana, noch ein Lortzing.

So wird offenbar, daß die Ästhetik der Musical-Klassiker der 60er Dekade des 20. Jahrhunderts mittlerweile deutlich in die Jahre gekommen ist. Was damals neu und innovativ war, erscheint – gemessen am Zuschnitt der Musicals seit den 1990er Jahren – betulich und angestaubt.

Gegen diese Langatmigkeit wären in Mörbisch straffere Tempi (auch der Regie) und Kürzungen von Vorteil gewesen. Allein der erste Teil vor der Pause dauerte 1 Stunde und 45 Minuten. Und so kam die typische Mörbisch-Stimmung erst nach Ende der Vorstellung beim obligatorischen Premieren-Feuerwerk auf, das mit seiner operettigen Knalligkeit nicht so recht zum tragischen Ausgang der Handlung passen wollte.

 Langanhaltender, wenn auch nicht eben tosender Applaus belohnte das Mörbischer Musical-Wagnis, von dem man sich noch bis zum 23. August ein Bild machen kann, bevor nach dem Ende der Spielserie die Vorbereitungen für 2015 („Eine Nacht in Venedig“) beginnen.

Manuela Miebach

 

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