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MINDEN: TRISTAN UND ISOLDE

17.09.2012 | KRITIKEN, Oper

Minden: „TRISTAN UND ISOLDE“ – Zum Angreifen! – 16.9.2012

 „MAN MUSS WAGNER HÖREN LERNEN,

WIE MAN KARL MAY VERSCHLANG,

MIT IHM AUF DEN JAHRMARKT GEHEN,

DANN HÖREN DIE PHRASEN AUF,

WEIL SIE NOCH GRELLER WERDEN,

AUCH DAS ZÜCHTIGE VERLIEREN,

DAS SICH FEIERLICH NENNT. (Ernst Bloch)


Tristan und Isolde – Andreas Schager und Dara Hobbs – erfassen nach dem Liebestrank nun langsam, was jetzt geschehen ist…. Foto: Friedrich Luchterhandt

Nicht in einem hochdotierten Staatstheater, nicht von einem routinierten Opernorchester, nicht mit „Weltstars“ (was immer das ist), ja nicht einmal in einem Haus, das ein eigenes Musiktheaterensemble besitzt, hat dieses Wagnersche Großereignis stattgefunden, das Langzeit-Wagnerianer ebenso begeisterte wie Erstbesucher dieser Oper oder gar eines Wagner-Werkes überhaupt. Und gleichsam zum Drüberstreuen wurde eine der 7 – ausverkauften -Aufführungen nur für Schüler zwischen 14 und 19 gegeben und, wie mir die Intendantin Andrea Krauledat voller Freude berichtete, war dies das allerenthusiastischste Publikum, das die – ungekürzte, komplette Oper mit unsäglichem Jubel, Gejaule und Getrampel bedachte. Der Dirigent hatte vor jedem Akt ein paar erläuternde Worte gesprochen, ansonsten ließ man einfach das Geschehen auf die jungen Leute einwirken. Ist ja schließlich eine Liebesgeschichte. Und die verstehen Menschen jeder Altersstufe, wenn sie richtig gebracht wird.

In der Pause konnte ich kurz mit dem Regisseur Matthias von Stegmann sprechen, der seine 3 ½-jährige Tochter im Arm hielt. Das Mädchen verbrachte den Abend ganz munter mit allerlei Spielzeug hinter der Bühne, während der Papa sich um seine Inszenierung kümmerte und die Mama im Zuschauerraum saß. Die Kleine muss aber von dem Stück doch etwas mitbekommen haben, denn als ich sie fragte, was ihr daran gefallen habe, kam spontan: „Die Musik.“

 Man braucht also, wie der große Philosoph Bloch vorschlug, damit nicht auf den Markt gehen, man muss das Stück auch nicht zusammenstreichen und mit minderwertigem Klamauk ein neues Publikum anheuern. Es genügt, mit einfachen, effizienten, redlichen Mitteln die Oper als fesselndes Menschentheater zu präsentieren und sie musikalisch erstrangig darzubieten.

 Wie geht das? Die Vorsitzende des Mindener Wagner-Verbands, Dr. Jutta Hering-Winckler, samt ihrem Team von Kennern und Enthusiasten, sucht sich alle zwei Jahre eine passende Besetzung zusammen, findet Sponsoren, bietet als „Schutzheilige“ sowohl Eva Wagner-Pasquier als auch des Meisters liebenswerte Enkelin Verena Lafferenz-Wagner, wagt und – gewinnt auf allen Linien!

 Natürlich sitzt das Orchester auf der Bühne, wird aber in die Inszenierung einbezogen. Mit 78 Musikern ist fast die Normalbesetzung aufgeboten; gerade mal ein paar Streicher weniger, wie an vielen kleineren Theatern, wo im Graben nicht mehr Platz ist. Die Nordwestdeutsche Philharmonie mit Sitz in Herford, d.i. etwa eine Stunde von Minden entfernt, spielt unter der kundigen Leitung von Frank Beermann, dem Chemnitzer GMD und Chef der Robert Schumann-Philharmonie, mit jener passionierten Hingabe, mit der heute nahezu weltweit diese Musik gespielt wird. Und da stimmen von dirigentischer Seite die Tempi, die Relationen, der Aufbau, die Feinzeichnung. So sehr, dass man alles einfach als Selbstverständlichkeit hinnimmt.

Wenn sich das Publikum trotzdem in erster Linie auf die Sänger konzentriert, so liegt das an deren vordergründiger Position, in fast greifbarer Nähe des Publikums, durch keinen Orchestergraben davon getrennt. Eine geradezu phänomenale Personenregie mit Sängern, die das umsetzen können, lässt uns jeden Atemzug, jeden Augenaufschlag, jeden Schritt und jede Phrase der Sänger zum ganz persönlichen Erlebnis werden.

 Eine wirklich sensationelle Entdeckung ist die Isolde von Dara Hobbs. Die Amerikanerin aus Wisconsin, Studium in Chicago, Finalistin der Met-Competition, mit Stipendium in Graz und Studien in Spoleto, steht in Krefeld-Mönchengladbach unter Vertrag. Bei einem Vorsingen von 6 Sängerinnen für Minden war sie fraglos die 1. Wahl, erfuhr ich. Eine bestens durchgebildete, klare, große Stimme, zugleich weich, warm, voll und mit Metallklang in den Höhen, wo gefordert, ist aber nur die sichere Basis für eine hochemotionale Rollengestaltung, die einen ständig den Atem anhalten lässt. Anfänglich mit geradezu hexenhaftem Gesichtsausdruck und Armbewegungen, wenn sie „der Mutter Künste“ zitiert, dann, wenn ihre wahren Gefühle hervorbrechen, von einer Herzlichkeit (etwa, wenn sie schildert, wie sie den siechen Tristan geheilt hat) und in zunehmendem Maße voll fraulicher Anmut und Liebenswürdigkeit. Aufregnd die Momente, wenn sie ihre Gefühle zu bändigen versucht nach „Herr Tristan trete nah!“ oder vor seinem Erscheinen im 2. Akt. Es kommt bis zu Tränenausbrüchen, immer wieder muss sie ihrer übermäßigen Erregtheit atemmäßig Herr werden und dabei sprechen aus ihrem Gesicht tausend widersprüchliche Empfindungen. Und wie glaubt man ihr die Kraft, sich in eine Verklärung hineinzusteigern, die diese Liebe zur unbesiegbaren Realität werden lässt. Jedes Wort, jede Phrase (ohne auch nur den mindesten Akzent) kommt mit einer Suggestivkraft, die einfach bezwingt, bis sie zuletzt ihren toten Tristan „mild und leise lächeln“ sieht, so intensiv, dass wir es auch tun! Weiß Gott, diese Frau weiß, was sie singt! Und sie tut es mit einer Leidenschaft, die genau dem entspricht, was Wagner komponiert und gedichtet hat. Während wir eben gespannt auf die erste Bühnen-Isolde von Lioba Braun warten, hat es hier schon wieder eine Offenbarung gegeben. Glücklicher Wagner!

Während Frau Hobbs die Isolde schon gesungen hatte, war es für Tristan, Andreas Schager, ein Rollendebut. Und – Sensation Nr. 2, er war dieser Partnerin gewachsen! Der große, schlanke Sänger wirkt von der Figur her so sportlich, dass man ihm die ritterlichen Tugenden, die dem Neffen König Markes zugesprochen werden, schon einmal abnimmt. Dazu passt auch seine unwahrscheinlich kraftvolle Stimme, die unforciert drei Akte lang ohne Schonung eingesetzt wird. Auf einer breiten Mittellage-Basis baut er Höhen auf, die Berge versetzen könnten, meint man. Und er ist wahrlich kein Stehtenor! Es ist immer wieder rührend, wenn er, hilflos gegenüber Isoldes Attacken, sich irgendwo hinsetzt und alles hängen lässt, die Hände vors Gesicht schlägt oder sich an einer Wand festhält, um eine Stütze für seine verborgenen Gefühle zu suchen. Aber dann wird’s echt dramatisch, wenn die Liebenden einander erstmals gegenüber stehen. Knisternde Spannung liegt in der Luft – natürlich genährt aus der Musik – , wenn die beiden nach dem Trank zuerst einander an gegenüberliegende Bühnenseiten ausweichen, sich dann langsam einander zudrehen und Isolde ganz nah an ihn herantritt, bis knapp vor einer Berührung der Lippen, sie dann aber ihren Kopf an seine Schulter lehnt und beide in zunehmender Seligkeit das neue Gefühl auskosten. Von Brangäne und Kurwenal auseinander gerissen, kommt es vor Ende des 1. Aktes zu keinem Kuss und keiner Umarmung. Umso stärker, wenn dies erstmals im 2. Akt geschieht!

Wie aufregend kann das lange Liebesduett sein, wenn Worte und Musik wie spontan von den beiden erdichtet und komponiert wirken. Wenn er „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ intoniert hat, raunt sie ihm denselben Text ins Ohr wie eine große Neuigkeit, die er erfahren muss…So geht das den ganzen Abend hindurch – neu und frisch ist alles Erleben, als wohnte man einer Uraufführung des Werkes bei.

Schager schafft auch Spontanreaktionen, wie sie einem gelernten Ritter zustehen. So etwa, wenn er Melots Herausforderung annimmt, kurz mit ihm ringt und sich dann ruckartig das Schwert in die Seite stößt und zusammenbricht. Dass der Akt damit endet, dass alle reglos in verschiedenen Erschreckenspositionen verharren, wenn das Licht plötzlich ausgeht, bedingt erst eine Atempause beim Publikum, eh es zu klatschen anhebt. Andreas Schager setzt auch, wenn passend, seine Stimme einmal klanglos ein, wie nach seinem Erwachen im 3. Akt. Doch ist er nicht der Tristan-Typ, der in Trauer vergeht; seine ursprüngliche Körper- und Seelenkraft bricht sich immer wieder Bahn, bis hinein in die Wahnsinnsekstasen, und seine Vision der nahenden Isolde und dann das Erschauen des „Lichts“, das Isolde heißt – das ist eine eminente, permanente Steigerung an vokalem Einsatz und mimisch-physischer Entäußerung. Tristan und Isolde bleiben Sieger in diesem Drama! Ein Sieg, der gekrönt wird von Isoldes Abgang in eine undefinierbare, unsäglich schöne blaue Nachtwelt, begleitet von einem weißen Strahlenbündel aus der linken oberen Bühnenecke, das ihr mit zunehmender Leuchtkraft den Weg weist…

Und das alles zu dieser Musik!

Kein König Marke braucht um sein Profil zu fürchten, wenn er ganz an die Rampe vortreten darf, um hier zu beklagen, dass „dies wundervolle Weib“, dem er „nie zu nahen wagte“, ihm verloren sei, und wenn diese Frau plötzlich erfasst, was sie ihm angetan hat, und sich neben ihn setzt, zum Beweis ihres Mitgefühls. James Moellenhoff, als Leipziger Ensemblemitglied ein stets verlässlicher Sänger, durfte sich hier als unsäglich berührender, unter Tränen ganz nah an den „unerforschlich tief geheimnisvollen Grund“ herankommender König Marke offenbaren – mit entsprechend sonorer, sehr menschlicher Bassstimme. Der sehr ernsten, ungemein besorgten, um alle von ihr so geliebten Menschen bangenden, von Schuldbewusstsein gemarterten Brangäne von Ruth Maria Nicolay (Schülerin von Judith Beckmann in Hamburg) mit einem kräftigen, klaren, ausdrucksstarken Mezzo stand der sehr sympathische Kurwenal von Roman Trekel gegenüber. Auch er, wie sein Schutzbefohlener, einerseits von ritterlicher Noblesse, in der wunderbar ebenmäßigen, schön timbrierten Baritonstimme voller Saft und Kraft und in Haltung und Bewegungen, andererseits ein schlauer Kämpe, der Isoldes Zornausbrüche belächelt und genau weiß, was da gespielt wird, und auch seinem Herrn zunächst gern seine kumpelhafte Unterstützung gegen die Frauen anbietet. Und wie ergreifend traurig, wenn er zu Beginn des 3. Akts die blutigen Tücher, mit denen Tristans Wunde bedeckt war, ins Wasser taucht und auswindet. Großartig, wie dann die beiden Männer auch körperlich um Fassung und Haltung ringen und doch immer wieder Zusammenbrüche erdulden müssen. Ja, das war Theater, was man da auf den weltbedeutenden Brettern von Minden sah!

Auch Melot (Thomas de Vries), der Seemann und Hirte (André Riemer) und der Steuermann (Sebastian Eger) konnten sich mit schönen Stimmen als mitfühlende Menschen profilieren. Ein „Wagner-Chor Minden“, einstudiert von Thomas Wirtz, stellte die Matrosen.

 Und der szenische Rahmen? Zuerst und zuletzt war da einmal die Lichtregie einer jungen Dame namens Mariella von Vequel-Westernach. Das Orchester war zumeist in mystisch blau-graue Nebel getaucht, aus denen einzelne größere Instrumente herausragten. Der Dirigent war fürs Publikum fast nicht, für die Sänger nur über Monitoren zu sehen, wie es ja auch in Erl gehandhabt wird.

Karajans berühmte „schwarze Scheinwerfer“ wurden ausgespart – die Sänger waren immer deutlich zu sehen, bis auf wenige Augenblicke, wo für diese Personen im wahrsten Sinn „das Licht erlischt“ – nach dem Trank etwa. Ungemein eindrucksvoll auch die Szenen, in denen, wie meist zu Aktbeginn, nur die regungslosen Silhouetten der handelnden Personen vor unterschiedlich beleuchtetem Hintergrund sichtbar sind – Figuren, ihrem Schicksal ausgeliefert, aber tapfer durchhaltend. Das fatale Wieland-Wagner-Grün als Hintergrund im 1. Akt, ein rotes Tuch als Fackel im 2. Akt in geheimnisträchtigem blau-violetten Raum, der beim Liebesduett zu einem Sternenhimmel wird, und die roten Bühnenränder für Tristans blutende Wunde und ein einsam grell leuchtendes Standlicht im dritten. Dazu immer wieder die wunderbare Herausleuchtung der Gesichter und Figuren.

Boote auf der schrägen Bühne symbolisieren den Zustand der Menschen, die alle auf Reisen sind – zu einem nicht definierbaren Ziel. Im 2. Akt hängen sie in der Luft, im 3. stehen sie in desolatem Zustand wieder auf dem Boden. Ein alter eisenbeschlagener Reisekoffer dient als Sitzgelegenheit und enthält im 2. Akt eine dicke rote Decke, die Isolde für sich und Tristan auf dem Boden auszubreiten gedenkt.

Das sind nur ein paar Beispiele, wie Matthias von Stegmann mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Frank Philipp Schlößmann gearbeitet hat. Die Kleidung der einzelnen Personen ist zeitlos-ästhetisch und zu ihrem Charakter passend.

 Entscheidend ist, dass alles, was zu sehen war, genau dem entsprach, was man hörte. Nur so kann das Musikdrama seine volle Wirkung erzielen.

Diese Produktion gehört auf DVD gebannt zum ewigen Angedenken, wie man mit wenig Geld großartige Kunst machen kann!

 Dass diese „Tristan“-Produktion mir als passionierter Sammlerin von Aufführungen dieser Oper wieder völlig neue Perspektiven des Wagnerschen Wunderwerks gezeigt hat, versteht sich von selbst. Das ist wohl auch ein Kriterium für ihre Qualität.

Eine herzhafte Merker-Gratulation zu solcher Errungenschaft, die nicht einmal einer „fein mit Kreide weich“ vorgebrachten Kritik bedurfte, geschweige denn eines kritischen „Hammerstreichs“!

Sieglinde Pfabigan

Weitere Aufführungen: 21., 23., 26. und 29.9. 2012

 

 

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