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Michael Wolffsohn: EINE ANDERE JÜDISCHE WELTGESCHICHTE

30.06.2022 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

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Michael Wolffsohn:
EINE ANDERE JÜDISCHE WELTGESCHICHTE
368 Seiten, Verlag Herder, 2022 

Wie oft ist die Geschichte der Juden schon erzählt worden? Oft genug, aber sind sie nicht meist Kapitel in den Geschichten anderer Nationen, wo sie dann „auch“ vorkommen, wohl existent, aber nie so ganz dazu gehörend? Nun hat Michael Wolffsohn eine „andere“ jüdische Weltgeschichte erzählt, eine, die in erster Linie von Juden handelt, wirklich dreitausend Jahre umfasst und auch noch die „Welt“, nämlich, wo die Juden in der Diaspora überall gelandet sind. Darüber hinaus bietet der Autor auch noch unendlich viel grundsätzliches Wissen über das Judentum an.

Nun ist Michael Wolffsohn ein in Deutschland auch für seine kontroversen Aussagen bekannter Mann, nicht nur Universitätsprofessor, auch streitbarer Journalist, der nicht immer die gängige Meinung vertritt und auch bereit ist, dies laut und furchtlos zu sagen. Kurz, er geht keinem Problem und keiner Kontroverse aus dem Weg. Aber dieses Buch wolle Informationen statt Moralpredigten bieten, stellt er gleich zu Beginn fest.

Und sofort springt Wolffsohnin in die unlösbare Definitionsfrage – was sind die Juden? Das Wort „Rasse“ ist seit dem Dritten Reich verpönt. Sind sie eine (nicht ganz einige) Religionsgemeinschaft? Sind sie eine Schicksalsgemeinschaft? Sind sie ein Volk? Eine Nation? Immerhin haben sie das Land ihrer Väter, aus dem sie 70 n.Chr. vertrieben wurden und das Theodor Herzl neu erträumte, 1948 wieder bekommen (sie hätten es auch ohne Hitler geschafft, stellt sich der Autor der Interpretation entgegen, ohne den Holocaust gäbe es kein Israel).

Aber immer noch leben von den rund 15,2 Millionen Juden dieser Welt nur 6.9 Millionen in Israel, 5,7 Millionen in den USA, 453.000 in Frankreich, nur 113.000 in Deutschland (die Zahlen in Russland und Südamerika sind höher). Der österreichische Anteil ist mit rund 10.000 so gering, dass er in dem Buch gar nicht vorkommt.

Hat sich die Lage für die Juden dieser Welt konsolidiert? Wohl kaum, wenn man immer wieder von Angriffen und Übergriffen und einem vielfach lebendigen Antisemitismus  liest. So kann der Autor auch erklären, warum die Juden noch immer so „empfindlich“ seien. Verfolgung über Jahrtausende ist in den Genen gelandet, nachdem die Gastländer immer nur „Existenzen auf Widerruf“ geboten hätten: „Jeder Jude weiß von Kindheit an, dass sein Status nur auf Widerruf besteht, dass man ihn früher oder später jagen,  verhöhnen, schlagen oder sogar töten kann.“

Sie haben es oft genug erlebt. Ob sie sich nun durch ihre Sitten bewusst von der übrigen Welt abschlossen, ob sie sich in Weltoffenheit zu den neuen Gastvölkern bekannten, es machte letztlich keinen Unterschied. Darum ist Israel für die Juden unverzichtbar: Es ist „ihr“ Land. Darum kämpfen sie so erbittert darum.

Es gibt viel zu interpretieren, den Monotheismus (nicht ohne Christentum und Islam parallel zu betrachten), die Vorurteile, der Antisemitismus, die gepflegten Eigenheiten (Speisegesetze, Kippa). Und dazwischen folgt Wolffsohn der Geschichte der Juden in ihren Gastländern in Europa, Afrika, Asien, Amerika. Wobei er überall ein „diaspora-jüdisches Muster“ feststellt, eine Mischung aus Pragmatismus, bedingter Duldung und Verfolgung, meist politisch instrumentiert, feststellt. Wenn den Juden 1179 beim Dritten Laterankonzil so gut wie alle Berufe verboten wurden, die eine normale bürgerliche Existenz ausgemacht hätten, überließ man ihnen nur die Geldgeschäfte (damit sich die Christen damit nicht die Hände schmutzig machen mussten) und – die Medizin. Denn so weit ging die Verachtung nicht, dass man auf gute Ärzte verzichtet hätte… Für die anderen Juden blieb das, was wir heute als „Drecksarbeit“ bezeichnen würden.

Michael Wolffsohn wäre nicht er selbst, der immer kontrovers agierende Denker, fände man bei ihm nicht unübliche Meinungen. So weigert er sich beispielsweise, Kaiser Joseph II. für sein Toleranzpatent zu bewundern, ging es seiner Meinung nach schließlich nicht darum, Unrecht wieder gut zu machen, sondern nur, die Juden zu nützlichen Bürgern zu nivellieren. Diktator Franco war ein heute verachteter Faschist, aber er beteiligte sich nicht an der Judenverfolgung, er war im Gegensatz zu Hitler-Deutschland durchaus bereit, die Juden in neue Heimaten wandern zu lassen – das Problem war nur, dass es keine Gastländer gab, die sich um die Verfolgten gerissen hätten. Ja, und auch der viel geschmähte Viktor Orban sorge in Ungarn besser für die Juden als die meisten anderen europäischen Länder, wie Wolffsohn meint. Man kann sich den Widerspruch, den er für diese Interpretationen ernten wird, gut vorstellen.

Wobei er auch keine Scheu vor flapsigen Formulierungen hat. Im abschließenden Register bedeutender jüdischer Persönlichkeiten der Geschichte (wo Sigmund Freud ihm gerade drei Zeilen wert ist… Verbrecher Bernie Madoff bekommt vier) schildert er Netanjahu so: „Er führte US-Präsident Obama mit seiner Nahost-Politik am Nasenring durch die politische Arena, suchte und fand mit Nachfolger Trump einen Schulterschluß, was ihm – und Israel – international weit mehr als national schadete. Scheiterte schließlich an sich selber, seiner Selbstherrlichkeit.“

Wer sagt, dass man in ein bitterernstes Thema nicht auch Humor würzen kann?

Renate Wagner  

 

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