Im Portrait: der Baritenor MICHAEL SPYRES
Michael Spyres. Foto: Brent Heatherly
Herbstliche Musiktage Bad Urach 8.Oktober 2011: Arien und Duette aus Shakespeare-Opern. Für Gounods „Romeo“, Nicolais „Fenton“ sowie Rossinis und Verdis „Otello“ bedarf es an diesem auch aufgrund des letzten Auftritts von Elizabeth Connell denkwürdigen Abend nur eines einzigen Tenors. Wer verbirgt sich hinter diesem Sänger, der zur selben Zeit stimmcharakterlich so unvereinbaren Partien, die unter normalen vokalen Entwicklungs-Gegebenheiten kaum zu bewältigen sind, gleichermaßen gerecht wird?
Ausgeprägtes lyrisches Feingefühl für die deutsche Romantik, stilistische Sensibilität mit Voix mixte-Qualitäten für die französische Oper, enormer Stimmumfang und Koloraturbeherrschung für den Belcanto sowie dynamische Bandbreite, eine gefestigte Mittellage und die erforderliche Kraft für Verdis spätes Musikdrama. Sicher: alles nur in Ausschnitten, aber gibt es derzeit einen Künstler, der all diese Attribute zu einem noch relativ frühen Stadium seiner Karriere aufweisen kann?
Grundlage dieser außergewöhnlichen Fähigkeiten ist das von ihm repräsentierte, selten vorkommende Stimmfach des Baritenor, der über eine markante Tiefe, einen auch hinsichtlich der Färbung flexiblen Mittellagen-Bereich und über ein ausgeprägt stabiles Höhenregister verfügt.
Michael Spyres als „Hoffmann“ in Barcelona 2013. Foto: A. Boffil
Die Anfänge
Die Wurzeln dafür liegen sicher auch in seiner Herkunft als Spross einer Familie aus Missouri (USA), deren Mitglieder allesamt künstlerisch tätig sind und von der Musik bis zur Schauspielerei ein breites Feld abdecken. Seit er sich erinnern kann, ist er mit seinen Eltern und seinen Geschwistern bei Hochzeiten und Begräbnissen aufgetreten, später auch gemeinsam in fünf Bühnen-Produktionen. Für seinen früh gestorbenen Onkel blieb der Beruf des Opernsängers ein Traum; der Neffe hat ihn, von klein auf umgeben von den Aufnahmen historischer Sänger, nun beerbt und in die Wirklichkeit umgesetzt. Auf seine gut sitzende Tiefe angesprochen, bekennt Spyres die ersten zwei bis drei Jahre als Bariton begonnen zu haben, bis ein Lehrer meinte in ihm einen Tenor zu hören. Bei aller anfänglich schweren Einschätzung seiner Stimmlage war eine gewisse Basis für dramatischen Ausdruck vorhanden – wie sonst hätte er sein tenorales Debut mit nur 21 Jahren am Opera Theatre St.Louis mit Puccinis Rodolfo feiern können!
Um bessere Chancen auf dem internationalen Markt zu haben und die für die Erfüllung von Opernpartien erforderlichen wichtigen Sprachen zu lernen, wagte er den Sprung nach Europa ans Wiener Konservatorium, sang dort nebenher im Arnold Schönberg-Chor und lernte auch dank der großzügigen Aufnahme-Hinterlassenschaft von einigen großen Vorbildern wie Fritz Wunderlich, Nicolai Gedda und Chris Merritt an seiner Technik zu feilen und sich für die verschiedenen Gesangsstile fit zu machen. Was sonst leicht nach Kopieren von anderen Sängern klingt, war bei ihm wertvolle Hilfe, um sich ein Repertoire aus völlig verschiedenen Stimmfächern aufzubauen.
Debuts und Engagements
2006 wurde er als Jaquino ans Teatro San Carlo di Napoli eingeladen, doch erst sein Debut bei „Rossini in Wildbad“ in „La gazetta“ im Jahr darauf brachte einen gewissen Durchbruch und verstärkte Aufmerksamkeit seitens anderer Theater. Ein speziell für das kleine, aber bedeutende Festival veranstaltetes Vorsingen in Stuttgart brachte ihm dieses Engagement und damit den Einstieg ins Belcanto-Fach. Ein weiteres Vorsingen an der Deutschen Oper Berlin hatte ein Fix-Engagement an diesem Haus zur Folge, wo er u.a. als Tamino und Steuermann besetzt wurde. So wichtig ein Festvertrag an einem Haus zur Gewinnung von Bühnenerfahrung ist, für seine spezielle Stimme und sein angedachtes Repertoire erschien ihm das mit vielen Auflagen verbundene Wirken in einem Ensemble eher hinderlich. Deshalb lehnte er schließlich auch ein 3Jahres-Angebot der Wiener Staatsoper ab, zumal seine internationale Karriere nun richtig ins Rollen kam. Bereits 2008 folgte die nächste Einladung nach Bad Wildbad – mit einer der herausragendsten Partien seines Spezial-Stimmfaches: Rossinis „Otello“. Dieses glanzvolle Debut wurde zum Glück auf CD festgehalten.
Zentrum Rossini
Die meist sehr hoch liegenden und generell nach einer umfangreichen Tessitura verlangenden Tenorpartien des Meisters aus Pesaro rückten mehr und mehr in den Mittelpunkt seines Repertoires, u.a. feierte er in der Saison 2008/09 als Belfiore in „Il Viaggio à Reims“ sein Debut an der Mailänder Scala und kehrte im Oktober 2011 dorthin als Rodrigo in „La donna del lago“ zurück. Eine Partie, mit der er jüngst im Mai 2013 auch seinen Einstand an Londons Covent Garden Opera hatte und dort Berichten zufolge Juan Diego Florez mühelos Paroli bieten konnte. Zu den mittlerweile 10 Rossini-Partien kamen bis heute noch Gianetto in „La gazza ladra“ (Dresden), Ramiro in „La Cenerentola“ (Bologna) , Néoclès in „Le siège de Corinthe“ (wiederum in Bad Wildbad und soeben auf CD veröffentlicht), Baldassare in „Ciro in Babilonia“ (Pesaro 2012) und Arnold in „Guillaume Tell“ beim amerikanischen Caramoor Festival hinzu.
Melchthals Sohn in Rossinis Opern-Schwanengesang führte Spyres diesen Sommer auch wieder nach Bad Wildbad, wo es zur ersten integralen und bislang vollständigsten Aufführung dieses Werkes gekommen war. Eine solch schwere Partie voll ausfüllen zu können, bedarf es nicht nur an enormer Kondition, auch die Bedingungen rund um die Proben müssen stimmen, meint der einen Tag nach der Premiere ganz entspannt wirkende Sänger. Und genau diese sind bei „Rossini in Wildbad“ ganz speziell, hier wirken alle wie eine Familie am Entstehungsprozess mit und helfen sich gegenseitig. Auch die Begeisterung des dortigen Publikums sei enorm, da kommen wohl die sogenannten Hardcore-Fans von Rossini. Auf einen Vergleich zum größeren Bruder-Festival in Pesaro angesprochen, erwidert Spyres, in Rossinis Geburtsort sei die Atmosphäre natürlich einmalig, bisweilen hat er aber auch den Eindruck, dass manchen Besuchern das Gesehenwerden wichtiger sei.
In den Fußstapfen von Adolphe Nourrit
Stichwort Caramoor-Festival: dessen Leiter Will Crutchfield hatte Spyres zuerst zum dortigen „Guillaume Tell“ als Arnold und im Juli 2012 als Baldassare mit der kompletten Besetzung des „Ciro in Babilonia“ aus Pesaro eingeladen. Neben dem Arnold und dem bereits erwähnten Néoclès zieren zwei weitere Partien, die einst Adolphe Nourrit zu großem Ruhm geführt hatte, inzwischen sein Repertoire: Raoul in Meyerbeers „Les Huguénots“ (Summerscape Festival New York) und Masaniello in Aubers „La muette de Portici“ ( Paris und Bari ).
Die französische Oper nimmt generell einen großen, den neben Rossini gar umfangreichsten Platz bei ihm ein, lehrt sie einen doch das präzise Singen, bekennt Michael Spyres. So finden sich mit dem Berlioz-Faust, Romeo in Gounods Oper und dem für ihn in letzter Zeit wichtigsten Debut als Offenbachs Hoffmann (Barcelona) auch häufiger gespielte Stücke in seiner Vita.
Italienisches und Endziele
Bei einem so außergewöhnlich vielseitig einsetzbaren und sprachlich sensiblen Sänger wäre es jedoch ein Versäumnis, sich nicht genauso der italienischen Oper zu widmen. Neben dem Rossini-Schwerpunkt war er schon als Edgardo (Lucia di Lammermoor), Fernand (La Favorite), Leicester (Maria Stuarda), Orombello (Beatrice di Tenda) und in den Anfängen auch als Alfredo und „Rigoletto“-Duca aufgetreten. Das italienische Sprachidiom ermöglicht ihm als Ausgleich eine expansivere, expressivere Form des Singens. Seine erste Arien-CD („A Fool for Love“, erschienen bei Delos) zeugt nicht nur davon, sie bietet mit einer breiten Repertoire-Auswahl auch einen Blick dorthin, was in Zukunft kommen könnte. Z.B. sind im Lamento des Federico aus Cileas „L’Arlesiana“ mit dramatischer Unterfütterung und kraftvoller Höhenentfaltung deutliche Ansätze erkennbar, dass auch der Verismo seine Rollenliste bereichern wird. Fernziele sind – um auf die beiden Jahresregenten zu kommen – zum einen Verdis „Otello“. Laut M.S. muss dieser gar nicht so heldisch veranlagt sein; eine gut verankerte Mittellage und die Fähigkeiten zum dynamisch flexiblen Piano, das oft in der Partitur verlangt wird, sind viel maßgeblicher. Das andere Endziel sieht er im Zuge seines Bestrebens noch besser Deutsch zu sprechen und zu verstehen in Wagners „Lohengrin“. Die sphärischen Töne dafür stehen ihm jetzt schon zur Verfügung, und so dürfen wir gespannt sein, wie sich die Karriere von M.S. bis dahin entwickeln wird.
Bevorstehende Debuts und Wünsche
Vorerst stehen zur Flexibilitätswahrung der Stimme die sogenannten heldischen Mozart-Partien wie Mitridate (Paris) und Arbace in „Idomeneo“ (Covent Garden London) – letztere mit beiden sonst oft gestrichenen Arien, die für ihn nach Arnold, Hoffmann und Faust wie ein Urlaubsspaziergang sind und ihm zudem die Möglichkeit geben, die auch in seinem Wunschkalender stehende Titelpartie zu lernen. Auch Händel-Opern sind in Planung, außerdem sein Operettendebut als „Fledermaus“-Alfred in Chicago. Das französische Repertoire wird um Berlioz „Benvenuto Cellini“ (English National Opera), das Rossini-Oeuvre um „Aureliano in Palmira (Pesaro 2014) und Graf Libenskoff in „Il Viaggio à Reims“ (Amsterdam 2014/15) erweitert.
Gerne würde er auch sein Konzert-Repertoire ausbauen und Beethovens „Neunter“ und „Missa solemnis“, dem Berlioz- und Verdi-Requiem sowie Rossinis „Petite Messe Solenelle“ noch einiges wie z.B. Mahlers „Lied von der Erde“ und Honeggers „König David“, aber auch Händel-Oratorien und Bach-Passionen hinzufügen. Nicht zu vergessen das Lied, für das ihm aufgrund seiner vielen Opern-Debuts in den nächsten Jahren jedoch kaum Zeit bleiben wird.
Der Sing-Schauspieler
Opern, deren Handlungen für die heutige Zeit schwer zu inszenieren sind, stellen für ihn kein Handicap dar. „Man kann für alles eine Lösung, eine Möglichkeit finden“ meint er und ergänzt noch, dass eine konzertante Version für die Geschlossenheit der Wiedergabe jedenfalls immer besser wäre als eine halbszenische Form. Wie viele seiner Kollegen/innen ist er bereit auch schauspielerisch fordernde Regien soweit mitzutragen, sie einen Sinn für ihn ergeben. Als Sohn einer Schauspiel-Pädagogin, die ihn früh gelehrt hat, eine Rolle auch zu spielen, sei er diesbezüglich sehr offen und diskussionsbereit.
Ausgleich und Entspannung findet der sympathisch lockere und herzliche Künstler während durchschnittlich drei Monaten pro Jahr mit seiner Frau, der Sopranistin Tara Stafford, auf einer Farm in seiner Heimat Missouri.
Resumée: In Anbetracht der seltenen Stimm-Spezies, der eigenständigen Vorbilder-Verbindung von Nicolai Geddas Eleganz und Sprachgefühl sowie Fritz Wunderlichs emotionaler Herzlichkeit, seiner einnehmenden szenischen Präsenz und seines bereits in jungen Jahren gewonnenen Erfahrungsschatzes in 47 verschiedenen Partien verwundert es, dass er im deutschsprachigen Raum trotz seines bisherigen internationalen Wirkens noch nicht die verdiente Bekanntheit erlangt hat.
Für die idiomatische Erfüllung eines stilistisch und technisch schwierigen, meist selten gespielten Repertoires ist M.S. von unschätzbarem Wert und sollte damit keiner Bühne von Rang vorenthalten werden.
Udo Klebes, Juli 2013