Michael Lemster
DIE GRIMMS
Eine Familie und ihre Zeit
480 Seiten, Verlag Benevento, 2021
Seit Menschengedenken hieß es „die Brüder Grimm“ (oder altmodisich auch die „Gebrüder“), und die berühmten beiden, Jacob und Wilhelm, schmücken auch den Umschlag des jüngsten Grimm-Buches – zwei würdige Herren, hier in mittleren Jahren, die einander fraglos ähnlich sehen. Zwillinge waren sie nicht, wie man oft meint, aber unzertrennlich im Leben, Denken, Arbeiten. Und sie haben Großes geleistet.
Aber das Buch von Michael Lemster nennt sich „Die Grimms“ und verspricht im Untertitel „Eine Familie in ihrer Zeit“. Also das erweiterte Bild rund um die Wissenschafts-Brüder, die drei weitere Brüder und eine Schwester hatten. Nun hat man zumindest schon die fünf Grimm-Brüder zwischen Buchdeckeln ins Visier genommen, so neu ist die Betrachtungsweise nicht. Aber Lemster, der auch zuletzt die Familiengeschichte der „Mozarts“ genauer aufgeschlüsselt hat als jeder vor ihn, kümmert sich auch um Generationen von Vorfahren und um die Kinder und Enkel, die nach den „Gebrüdern“ kamen.
Dabei geht der Autor zurück bis ins 15. Jahrhundert und stöbert, teils erstaunlich detailreich, die Schicksale wackerer Männer auf, die den Aufstieg von Kaufleuten zu Geistlichen und Beamten in durchaus höheren Stellungen schafften. Es ist fast eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch, so ehrenwert und aufrecht haben diese Grimms gelebt und der Gemeinschaft gedient, so, wie man früher „Deutsch“ im besten Sinn empfand, bevor der Begriff obsolet geworden ist. Michael Lemster, der in der Angabe seiner Quellen nicht sonderlich genau ist, muss hier viel in alten Dokumenten und Kirchenbüchern nachgeschlagen haben, um die frühen Grimms so relativ ausführlich zu beschreiben.
Dann wird es natürlich die Geschichte von Jakob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), neben den Humboldts vermutlich das erfolgreichste Brüderpaar der deutschen Geschichte und Wissenschaft. Und es ist der seltene Fall einer durch und durch harmonischen Bruder-Beziehung – zwei Buben, die in der Kindheit aus Platznot im selben Bett schliefen, zwei alte Männer, deren Arbeitszimmer nebeneinander lagen. Sie haben ihr ganzes Leben miteinander, im selben Haushalt verbracht (für Wilhelms Gattin waren sie beide „ihre Männer“), sich nur gezwungenermaßen oder später, im Alter, für verschiedene Reisen getrennt. Ihre Intelligenz, ihre Interessen, ihr Arbeitseifer und –ethos befanden sich auf absolut gleicher Höhe.
Nun hat sich der Autor allerlei vorgenommen, vor allem, diese beiden Persönlichkeiten, die wie im einheitlichen Doppelpack durch die Vorstellung der Nachwelt schreiten, zu differenzieren. Sie waren tatsächlich verschieden – Jakob, der Ältere, auch notgedrungen der Härtere, musste er doch, nachdem die sechs Grimms erst den Vater verloren, dann die Mutter, schon mit 23 Jahren die Verantwortung für die ganze Familie auf sich nehmen. Eher der Einsamkeit zugeneigt, ein Arbeitstier ohnegleichen, unterschied er sich von Wilhelm, der viel mehr soziale Kompetenz aufwies. Das bedeutete nicht, dass die Brüder nicht immer an einem Strang gezogen hätten, wenn es um ihr Berufsleben ging. Neben ihren Gemeinschaftsleistungen hat auch jeder seine eigenen Bücher veröffentlicht.
Wer „Grimm“ sagt, denkt an die Märchensammlung („Es war einmal…“ – auf Englisch würde das „Once upon a time“ heißen, und nicht wie im Buch übersetzt „There once was“). Was sie in unermüdlicher Arbeit aus schriftlicher und mündlicher Überlieferung zusammen getragen haben, hat sie schlechtweg weltberühmt gemacht. Und im deutschen Sprachraum denkt man sicher auch an das „Deutsche Wörterbuch“, an dem die Brüder die letzten eineinhalb Jahrzehnte ihres Lebens gearbeitet haben, das sie nicht fertig stellen konnten, das aber viele Germanisten-Kollegen (Jakob Grimm gilt als der „Erfinder der Germanistik“) fertig gestellt haben. Sehr intensiv schildert der Autor in diesem Buch nicht nur die doch verschiedenen Brüder privat, sondern auch ihre Arbeitsprozesse.
Wäre es nur das, wäre es die übliche Biographie, aber da waren noch die jüngeren Geschwister, die den Nachteil hatten, dass die Mutter zwar das Geld für die höhere Bildung ihrer Älteren aufgebracht hatte, aber nicht für die anderen Kinder. Diese waren allerdings mit einer Ausnahme nicht wirklich begabt. Carl lebte ein braves Durchschnittsleben als Kaufmann, Ferdinand war das „schwarze Schaf“ der Familie, der den Brüdern mit seinen verdächtigen Geldgeschäften (und vielleicht auch durch sexuelle Belästigungen) so viel Schande machte, dass sie ihn verstießen – zumal als der zu kurz Gekommene einen Schlüsselroman über sie veröffentlichte. Von Jakob und Wilhelm, die sonst Familienmenschen waren, mit einer minimalen Pension nach Wolfenbüttel geschickt, starb er im Elend.
Mehr Glück hatte Bruder Ludwig Emil, „Lui“ genannt, ein hoch begabter Graphiker, wenn er es auch nie in die vorderste Reihe schaffte. Seine „Memoiren“ kann man vereinzelt noch in Antiquariaten finden. Und schließlich war da noch die Schwester Lotte, die Jüngste, von den Brüdern gnadenlos in die Haushaltsführung für alle gepresst, die spät heiratete, zahlreiche Kinder bekam und als Erste aus der Schar starb. Jakob, der Älteste, überlebte alle Geschwister.
Immer wieder fügt der Autor in das seltsam bewegte Leben der Brüder Jakob und Wilhelm, die von einem Ort zum anderen, von einer Anstellung zur anderen zogen, bis sie in Berlin endlich im Alter Geld und Ehren fanden, die parallelen Schicksale der Geschwister ein.
Von den Nachkommen ist vor allem einer zwiespältig interessant: Wilhelms Sohn Herman (mit einem „n“, in der dankenswerten Stammtafel am Nachsatz des Buches falsch geschrieben) war mit Goethes Mit-Dichterin Marianne von Willemer befreundet – ihm hat sie ihren Anteil am „West- östlichen Divan“ gestanden, er hat ihr Geheimnis bewahrt, Germanisten (!) haben es ja doch heraus gefunden.
Weniger rühmlich ist Hermans Anteil am Berliner Antisemitismus-Streit von 1879, wo er sich als Judenhasser bekannte. Bei dieser Gelegenheit erwähnt der Autor einige antisemitische Äußerungen der Brüder, die vermutlich „nicht so gemeint“ waren. Dass die Nationalsozialisten die „Kinder- und Hausmärchen“ (weltbekannt als „Grimms Märchen“) als deutsches Kulturgut missbrauchten, kann man den sicherlich ehrenwerten Brüdern nicht anlasten.
Es ist ein voluminöses Buch, das sich fabelhaft leicht und gut liest, nur selten ausufert, letztendlich immer übersichtlich bleibt (und am Ende den moralischen Schwenk in die Gegenwart und zu den Lesern nicht gebraucht hätte).
Dass die Brüder Jakob und Wilhelm keine Wissenschaftsmaschinen waren, sondern einem als ganz lebendige und bei all ihren Fehlern sehr sympathische Menschen entgegen kommen, verdankt man Michael Lemster.
Renate Wagner