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Michael Kraus: DIE MUSIKALISCHE MODERNE AN DEN STAATSOPERN VON BERLIN UND WIEN 1945–1989

20.12.2017 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

BuchCover Kraus  Musikalische Moderne

Michael Kraus:
DIE MUSIKALISCHE MODERNE AN DEN STAATSOPERN VON BERLIN UND WIEN 1945–1989
Paradigmen nationaler Kulturidentitäten im Kalten Krieg
537 Seiten, J.B. Metzler, 2017

Autor Michael Kraus (Jahrgang 1957) ist ein nicht nur in Wien, sondern international bekannter Opernsänger, der auch als Regisseur, Übersetzer von Libretti und Historiker tätig ist. Komparatistisch die Staatsopern von Berlin und Wien nebeneinander stellend, befasst er sich mit ihrem „modernen Repertoire“ und Uraufführungen. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie um die theaterwissenschaftlich akkurate Schilderung des künstlerischen Impakts einer Aufführung.

In diesem Werk, das er als seine Dissertation vorlegte, will er vielmehr erzählen, wie es zu den jeweiligen Produktionen kam und was sie erreichten. Das Jahr 1945 nahm er als Ausgangspunkt, weil es für Berlin wie Wien (für Deutschland wie Österreich) einen notwendigen Neubeginn bedeutete – mit dem Unterschied, dass die Berliner in einer bis 1989 geteilten Stadt lebten, die Wiener „nur“ in einer bis 1955 besetzten. Für die Background-Recherche gewährten beide Opernhäuser Kraus Einblick in ihre Archive (wo er teilweise ordnende Arbeiten unternahm).

Es geht also, im weitesten Sinn, um die „Moderne“, wobei Kraus richtig betont, dass Werke, die heute als moderne Klassiker gelten (er nennt Hindemith oder Strawinsky) in der Nachkriegszeit teilweise noch heftig umstritten waren. Der Beweis soll angetreten werden, dass Oper keine abgehobene Kunstform ist, sondern in Konnex mit der jeweiligen politischen Situation eines Staates steht.

Für Berlin (auch Kraus endet interessanterweise 1991) werden die Intendanzen von Ernst Legal, Heinrich Allmerroth, Max Burghardt (nicht mit Wiens Burgtheater-Direktor Max Burckhard zu verwechsel), Hans Pischner und Günter Rimkus (also bis zum Ende der DDR) behandelt. In Wien (auch hier geht Kraus nur bis 1990) hießen die Direktoren nach dem Zweiten Weltkrieg Franz Salmhofer, Hermann Juch, Karl Böhm, Herbert von Karajan, Egon Hilbert, Heinrich Reif-Gintl, Rudolf Gamsjäger, zweimal Egon Seefehlner, Lorin Maazel (dazwischen) und Claus Helmut Drese, wobei in Wien auch die Ballettdirektoren parallel geführt werden.

An sich behandelt Michael Kraus nicht nur Uraufführungen, sondern auch die Erstaufführung an den Häusern (und leider macht er im Inhaltsverzeichnis die „echten“ Uraufführungen im Vergleich zu den Erstaufführungen nicht kenntlich). So haben die Berliner nach dem Krieg etwa 1949 „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem (uraufgeführt 1947 bei den Salzburger Festspielen) vorgesetzt bekommen, wohl in der Absicht, hier ein antibürgerliches Revolutionswerk zu zeigen – abgesehen von dem privat-historischen Konnex, dass Einems musikalischer Werdegang an der Lindenoper begonnen hatte, wo er von 1938 bis 1942 als Korrepetitor tätig war. Aber die Texte waren zuerst den Ostberliner Behörden „zu politisch“ (womit sie einige Einsicht bewiesen), und als das Publikum bei der Generalprobe Sequenzen gegen die Tyrannei beklatschte, war das ein heikler Affront gegen die russischen Besatzer. So fächert sich die ganze politische Problematik, die an einem solchen Werk hängen kann, an Einem mühelos auf. (Die DDR wurde übrigens erst nach der „Danton“-Aufführung gegründet.)

Die ideologisch (vielleicht auch künstlerisch) wichtigsten Uraufführungen an der Lindenoper dieser Jahrzehnte waren die „Lukullus“-Opern (1951) und der „Puntila“ (1966) aus der künstlerischen Zusammenarbeit Paul Dessau / Bert Brecht.

Interessanterweise steht, vergleicht man die „Moderne“ in den Spielplänen numerisch, Wien hinter Berlin kaum nach. Ein „Uraufführungshaus“ war man nie, dergleichen war selten: Karl Böhm hat die von ihm geplante Uraufführung von Frank Martins „Der Sturm“ fast versäumt, weil er schon wieder von seiner Direktion absprang. Danach handelte man „patriotisch“, wobei Gottfried von Einem, dessen „Besuch der alten Dame“(1971) und „Kabale und Liebe“ (1976) ihre Uraufführungen an der Staatsoper erlebten, ein starkes Netzwerk besaß. Pendereckis „Die schwarze Maske“ kam 1986 unter Claus Helmut Drese als halbe Uraufführung (die Salzburger Festspiele hatten das Recht der ersten Nacht) heraus, und damit endet das Buch.

Sollte der Autor je die Lust auf Ergänzung verspüren – „Gesualdo“ (Schnittke), „Der Riese vom Steinfeld“ (Cerha) und „Medea“ (Reimann) wären dann noch nachzutragen. Dass „politische“ Erwägungen welcher Art auch immer hinter jedem Opernrepertoire stehen, zumal, wenn es um die Moderne geht, das ist eigentlich klar – kann aber hier an vielen Details sehr schön bewiesen werden.

Renate Wagner

 

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