Martin Czapka:
WIEN 1900
Ein lexikales Sammelsurium rund um das Wien der Jahrhundertwende
288 Seiten, Amalthea Signum Verlag, 2024
Ein Buch als Abenteuer
Will man ein Thema, das oft und oft behandelt wurde, neu aufbereiten, bedarf es eines neuen Ansatzes. Martin Czapka hat ihn für Wien um 1900 gefunden, und was er als „lexikalisches Sammelsurium“ bezeichnet, ist ein Buch der besonderen Art geworden. Der Autor, an sich Grafiker, Designer und Illustrator, ist auch noch unter die Autoren gegangen und hat das Thema so vielfältig wie sonst kaum jemand befragt. Dabei geht es nicht um Wissenschaft, sondern schlicht und einfach um – Wissen.
Wer von A-Z vorgeht, muss nicht große Zusammenhänge zeichnen, sondern kann den Blick auf das wichtige, typische, aussagestarke oder auch nur scheinbar nebensächliche Detail richten – wobei der Leser immer wieder überrascht wird. Denn wer würde schon auf die Idee kommen (um gleich bei A zu bleiben), nach „abgeschafften Individuen“ zu fragen (abgesehen davon, dass man mit dem Begriff nichts anzufangen wüsste). So erfährt man, dass es eine eigene polizeiliche Abteilung gab, die sich nur mit Menschen befasste, die abgeschoben wurden, und dass deren „amtsdeutsche“ Bezeichnung so lautete – und schon da bedauert man, dass die lexikalische Kürze einen so interessanten Tatbestand nicht genauer schildert.
Das Verblüffende an dem Buch ist in der Folge der Reichtum der Fragen, die dem Autor eingefallen sind, um sie Wien um 1900 zu stellen. Natürlich kommen die wichtigen Personen der Epoche vor, Politiker, Künstler (Dichter, Maler, Schauspieler), Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Das Alphabet stellt dabei seltsame Zusammenhänge her, Antisemitismus steht neben dem Apfelstrudel.
Vom Alltag erfährt man, was man nie wusste, etwa dass man das bis heute berühmte Wiener Hochquellenwasser damals „Alpenchampagner“ nannte. Wienerische Ausdrücke, von denen es einige gar nicht mehr gibt (andere schon), werden „übersetzt“. Ringstraßengebäude stehen neben Werbeplakaten, Mode neben Zeitschriften, ein Plan zeigt, wie viele Bahnhöfe Wien einst (im Gegensatz zu heute) hatte…
Dieses Buch ist eine Abenteuerreise und wäre nicht, was es ist, hätte der Autor sich nicht die Mühe gemacht, es auch zu – zeichnen. Es gibt, wie glaubwürdig versichert wird, an die 800 handgezeichnete Illustrationen in Farbe, wobei das, was als Fotografie (die oft als Vorlage diente) vielleicht steif gewirkt hat, hier besonderen Schwung gewinnt und das Blättern zum lustvollen Vergnügen macht, ein bißchen ein Überraschungsei auf Papier.
Es ist ein Buch zum Schmökern, dessen Informations- und Unterhaltungswert sich die Waage halten. Dergleichen begegnet man nicht alle Tage.
Renate Wagner