Im Rahmen seines Gastspiels beim Frankfurter Opern- und Museumsorchester erhielt unser Redakteur, Dirk Schauß, die Gelegenheit, mit dem Dirigenten Mario Venzago ein intensives Gespräch zu führen. Ein spannender Blick auf ein intensives Musikerleben mit vielen Erkenntnissen und Einblicken.
Mario Venzago (Dirigent). Foto: Alberto Venzago
DS: Wie laufen die Proben? Sind Sie zufrieden?
MV: Ich bin sehr zufrieden. Wir haben viel gearbeitet. Die vierte Sinfonie von Brahms ist zwar allgemein bekannt. Allerdings habe ich dazu eine oft ausprobierte eigene Betrachtungsweise. So kann ich das Orchester, das super reagiert, gut mitnehmen. Und dabei auch noch Intonation und Zusammenspiel schärfen. Und immer wieder befragen, was hinter den Noten steht. Nämlich die grandiose Brahmssche Vision. Übrigens habe ich erst sehr spät in meinem Dirigentenleben angefangen, Brahms zu dirigieren.
DS:Tatsächlich?
MV: Ich war auf Schubert, Bruckner und Schumann konzentriert. Gerade Schumann lebt vom taktstrichfreien Musizieren. Bei Brahms sind diese Rubati viel kleiner. Brahms ist der Meister des kleinsten Übergangs. Wenn man sich zu viele Freiheiten nimmt, geht’s nicht. Wenn man nichts macht, geht es aber auch nicht.
DS: Ihre Brahms-Interpretationen sind ganz was anderes. Ich denke dabei an die Aufnahmen mit der Tapiola Sinfonietta, die auf CD erschienen sind.
MV: Ja, der Ansatz ist anders. Die Tapiola Sinfonietta ist ein kleines Orchester und man hört durch den lichteren Streicherklang die Holzbläser einmal wirklich gut heraus, diese ganz wundervollen Stimmführungen. Das Orchester ist Spitze und kann alles realisieren. Das ergibt eine wirksame Leichtigkeit.
DS: Ja, sie spielen wie ein Instrument.
MV: Mit dem großen Orchester und dem üppigeren Klang ist vieles anders und schwieriger, um Transparenz und Zusammenhang zu schaffen. Alles Massive zerstört diese Musik. Es war eine Reise vom Kleinen ins Große.
DS: Wie hat sich Ihr Interpretationsansatz mit Brahms verändert im Lauf der Jahre?
MV: Wie gesagt kam ich über Schumann zu Brahms, die ja beide im Verbund mit Clara und den Mendelssohns das damalige Musikleben prägten. Schumann ist für mich ein Klavier-Komponist, und seine Sinfonien sind Klavierstücke für Orchester. Man muss diese Musik spielen, wie es ein einziger, etwas verrückter Pianist täte. Vieles muss man aus dem Metrum heraus lösen, verzögern oder beschleunigen. Den Schumann aus der üblichen neoklassischen Hülle und Attitüde zu befreien, habe ich als große Aufgabe empfunden. Und über die letzten Jahre hinweg riskierte ich es dann endlich auch, den viel orchestraleren Brahms im Klang heller, leichter und sozusagen spiritueller zu gestalten.
DS: Warum eigentlich werden die Schumann-Sinfonien viel seltener gespielt als die von Brahms?
MV: Keine Ahnung. Vielleicht weil es bei Schumann keine so beherrschende Tradition gibt, auf die sich viele verlassen, und man Vieles neu denken muss? Schumanns Werk war für mich nie eine Nische, es war mein Feld, wo ich mich definieren konnte. Vor Brahms bin ich lange vor Ehrfurcht erstarrt. Die Perfektion seiner Partituren hatte mir den Mut genommen, mich daran zu wagen.
Aber jetzt auf Grund dessen, was ich über die Romantik, über die Beziehungen, über die Orte und Zeiten weiß und auch die vielen Halb-Zitate von Bach, Händel und Schumann erkenne, will ich es tun. Jetzt dirigiere ich alle Brahms-Werke. Für Orchester gibt es leider gar nicht so viel.
DS: Das stimmt. Aber dann sind ja noch die fabelhaften Chorwerke.
MV:Wie Schumann vom Lied kommt, so kommt Brahms vom vielstimmigen Gesang.
DS: Gerade wenn man die Lied-Literatur bei Brahms anschaut, wird man als Sänger da schon auch recht gequält. Weil man da einfach lernt, lange Bögen zu singen und Vielschichtiges begreifen muss.
MV: Schade, dass Brahms keine Oper geschrieben hat. Sein „Rinaldo“ wäre ja fast eine geworden. Aber die Oper war offenbar nicht seine Welt.
DS: Es war nicht seine Welt. Und wenn man sieht, wie viel Zeit er für die vier Sinfonien aufgewendet hat, dann ist es nicht verwunderlich, dass da für ein großes Opernprojekt kein Platz war. Schubert, Mahler, Dvorak und Bruckner z.B. haben in der Sinfonik immerhin wie Beethoven die Neun geschafft. Was fasziniert Sie an den neun Bruckner Sinfonien, wohl wissend, dass es eigentlich elf sind, die Nullte und Doppelnullte eingeschlossen?
MV: Bruckners Welt hat sich mir am einfachsten erschlossen. Ich bin katholisch erzogen worden und kenne die katholischen Rituale und Riten. Sie widerspiegeln sich immer wieder in Bruckners Musik, die man ohne entsprechende Kenntnis, glaube ich, nicht spielen kann. Seine Musik ist nicht abstrakt. Sie ist fast wie Theatermusik mit himmlischem Personal.
DS:Ja, Bruckner ist eine sehr opulente Welt. Es ist im Grunde genommen ein symphonisches Bühnentheater.
MV:Nur eben, meine ich, hat alles immer eine Adresse, an die sich der ganze Ablauf richtet. Ich bin strikt dagegen, dass man die riesigen Choräle und Tuttis, wie es oft noch der Fall ist, so gotteslästerlich laut und gepanzert spielt. Es geschieht alles zur Ehre Gottes. Würde ich, sagen wir mal, um im Bild zu bleiben, mich dem lieben Gott nähern dürfen, würde ich das im eigenen Interesse nicht so laut machen.
Alle die Hymnen, das ganze Personal, die Engel, die vorkommen, die Maria, das Allerheiligste, der innerste Kern, das Gnadenfeuer, das alles hat auch ganz wahnsinnig zarte Seiten.
DS: Das stimmt. Ich würde an einem Punkt einwerfen, dass die neunte Sinfonie da etwas herausfällt, weil sie auch Wildheit und Wut hat.
MV: Das finde ich eher in der Achten. Ist die siebte Sinfonie vielleicht der Liebe gewidmet, so beschreibt die Achte eben die ganze existentielle Verzweiflung der Gottsuche und -ferne. Die Neunte ist definitiv nicht vollendet. Im Unterschied zu Schuberts „Unvollendeter“, deren dritter und vierter Satz, was man mit Indizien leicht belegen kann, nur verloren gegangen sind, ist Bruckner mit dem letzten Satz seiner Neunten nicht mehr fertig geworden. Kann man bei Schubert die fehlenden Sätze leicht ergänzen, was ich getan habe, bin ich überzeugt, dass Bruckner bei der Fertigstellung seines Finales noch weit über seine Skizzen hinausgegangen wäre.
Zwar hätte er wohl keinen Chor mehr dazu genommen, aber vielleicht die Orgel? Bruckner hätte ja sein Lebenswerk runden müssen. Tatsächlich gibt es ganz wenig für Orgel vom virtuosen Organisten Bruckner. Und ich wünschte, in seiner letzten Sinfonie wäre sie einmal bedeutend dran gekommen. Zumindest, wenn ich ihn gekannt hätte, hätte ich ihm das suggeriert.
Das denke ich mir so aus, weil zum Dirigentenberuf ja nicht nur Können und Hören gehört, sondern eben auch ganz viel Phantasie.
DS: Ja, natürlich.
MV: Jetzt bin ich in einem Alter, wo ich der Phantasie freien Lauf lasse.
DS: Wie schön. Ja, unbedingt. Wissen Sie, es gibt viel zu viele „Verkehrspolizisten“ unter den Dirigenten.
MV: Wo dann der Taktstrich das Maß aller Dinge ist, und das ist es ja nun weiß Gott nicht.
DS: Und ich kriege immer die Krise beim „Verkehrspolizisten“. Wir als Zuhörer auch, wie jetzt in aller Bescheidenheit, wenn ich ein wissenderer Zuhörer bin durch meine Erfahrung, gehe ich doch immer mit einer relativen Naivität in ein Konzert und sage, ich möchte was erzählt bekommen. Ja, ich möchte hinterher sagen können: das habe ich so nicht erwartet. Ich freue mich, wenn was riskiert wird!
MV: Wir wären nicht Musiker geworden, wenn wir nicht risikobereit wären. Aber es wird im Musikmarkt nicht besonders honoriert.
DS: Das stimmt. Ich glaube, das hat grundsätzlich mit unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun, weil wir so so grauzonig geworden sind, also eben die sehr heterogenen Menschen, die sterben ja immer weg. Also das finden Sie überall, ob in der Politik oder in der Kunst. Das gleiche Problem taucht auch bei den Sängern auf. Die Sänger heute singen technisch gut, aber sie sind austauschbar.
MV: Jede Interpretation muss Alleinstellungsmerkmale aufweisen.
Nur zu wiederholen, was und wie wir es kennen, ist museal. Wir wollen unser Repertoire am Leben halten. Mit museal meine ich nicht die Mehrzahl der heutigen Kunsttempel, die uns Musikschaffenden unterdessen marketingmässig und im Angebot meist weit voraus sind. Der Zulauf gibt ihnen Recht. Ich meine mit museal, dass einfach nur reproduziert und nichts neu geschaffen und in neuen Kontext gestellt wird.
DS: Zurück zu Brahms. Sie haben gesagt, Sie sind spät zu Brahms gekommen. Er hat in Anführungszeichen nur diese vier Sinfonien geschrieben. Sind diese für Sie von der Attraktivität her und von der emotionalen Nähe her gleich? Oder gibt es einen Favoriten?
MV: Es gibt absolut keinen Favoriten, weil jede Sinfonie etwas ganz Anderes abhandelt. Da ist der jugendliche Elan der Ersten, ihre Nähe zu Beethoven. Das Lyrische, naturhaft Landschaftliche in der Zweiten, die Trauer in der Dritten, die Form, die Regel, die tradierte Kunstfertigkeit in der Vierten. Jede Sinfonie hat wirklich ein ganz eigenes Abhandlungsthema. Wenn böse Zungen behaupten, Bruckner habe neun Mal – oder wie Sie sagten, eigentlich elf Mal – die gleiche Sinfonie auf andere Weise geschrieben, so stimmt das ja auch überhaupt nicht. Nein, auch hier wird in jeder etwas ganz Spezielles thematisiert. Das muss man enthüllen!
DS: Interessant finde ich bei der bei der vierten Brahms die deutliche Weiterentwicklung der Behandlung von Schlagzeug, Pauke und Triangel.
MV: Das ist lustig, denn gerade sprach ich nach der Probe im Lift mit dem Paukisten darüber. Ja, es ist eine sehr emanzipierte Pauken-Stimme. Also nicht wie sonst, wenn das Instrument nur den Puls verstärkt. Hier ist es oft dagegengesetzt. Im langsamen Satz gibt es gar Trillerketten als Harmonietöne. Wahnsinnig interessant.
DS: Ja, und es gibt eine spannende Auffälligkeit. In allen vier Sätzen gegen Ende des jeweiligen Satzes passieren aus meiner Sicht die bemerkenswertesten Dinge in der Pauke. Der erste Satz endet mit dem Hämmern. Im zweiten Satz gibt es auch dieses Dramatische, was sozusagen die vermeintliche Idylle zerstört. Dann, am Schluss vom dritten Satz, kommt ja auch dieser sehr eigene Rhythmus der Pauke. Und dann im vierten überhöht die Pauke alles. Eine immense Unerbittlichkeit. Oder auch, wie die Pauke letztlich tanzt im dritten Satz.
MV: Brahms eröffnet ja schon seine Erste mit prominent gesetzter Pauke. In der Vierten wird viel darüber diskutiert, ob im zweitletzten Takt des ersten Satzes die Pauke ein deutliches Ritardando ausführen soll oder einfach wie bei Toscanini mit großem Effekt gerade durchzieht.
Aber schon in Schumanns zweiter Sinfonie beendet die Pauke mit zuvor nicht verwendeten Triolen triumphal den Schlusssatz.
DSWir haben interessanten Rahmen für dieses Programm. Es beginnt mit einer Passacaglia und endet damit.
MV: Man könnte sagen, es ist eine schon fast zu offensichtliche Kombination.
Die Passacaglia von Webern habe ich lange nicht mehr dirigiert. Meine Dirigentenkarriere habe ich spät erst mit 30 begonnen. 12 Jahre arbeitete ich zuvor als Pianist am Rundfunk, bevor ich mich ans Pult getraute. Und dann habe ich vornehmlich mit der Neuen Wiener Schule begonnen und diese Werke viel und leidenschaftlich gern aufgeführt. Es brauchte damals sehr viele Proben.
Die Webern-Passacaglia ist dem großen spätromantischen Orchesterklang verpflichtet, der hier bis ins Letzte in alle Richtungen, dynamisch wie harmonisch ausgereizt wird.
Wir haben bei den Proben Möglichkeiten gefunden, sich weniger an dem immer wiederkehrenden, wenn auch versteckt vorhandenen Passacaglia-Thema zu orientieren, als vielmehr an dem sich immer weiter öffnenden Raum. Es ist ein wahnsinnig gutes Stück, ein Scharnier zwischen Jugendstil und Moderne, so viel interessanter, als ich es in Erinnerung hatte. Und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester spielt es auch sehr, sehr gut. Es ist eine verloren gegangene Musik. Wir müssen sie wieder zurückerinnern.
DS: Das stimmt. Es gibt darin viele Schätze zu heben.
MV: Ja, ich meine, es hat ja sogar Operettenanklänge darin. Und auch die Operette kennen wir heute nicht mehr wirklich. Schade, Sie als Sänger müssen das besonders beklagen.
DS: Das ist so.
MV: Das war ja auch die Möglichkeit, wie sich die jüdischen Komponisten noch in den dreißiger Jahren in Deutschland noch äußern durften.
DS: Ja, da geht eins ins andere. Warum wir die Operette nicht mehr haben? Operette ist viel schwerer zu singen als viele Opern. Es braucht hier die große Sängerpersönlichkeit, das Unikatische. Da reicht nur korrektes Singen überhaupt nicht.
DS: Nochmal zu Webern, der, wie Sie sagen, heute wieder mehr gespielt werden sollte.
MV: Lange ist man der ganzen Neuen Wiener Schule vornehmlich intellektuell begegnet. Bei Schönberg zählte man die Reihen, vorwärts, rückwärts und umgekehrt. Heute fasziniert uns die visionäre Weitsicht, wie das eine aus dem anderen herauskommt, sich dreidimensional entfaltet, vierdimensional sich Zeitebenen überlagern. Plötzlich sind musikalische Ereignisse hinten, darüber oder zum Greifen nah vorne. Alles ist so plastisch, wenn man es gut spielt. Man muss sich auch sehr an die radikalen dynamischen Anweisungen halten, z.B. ein Pianissimo zu riskieren, während andere Forte spielen. Es ist sehr ausgeklügelt. Plötzlich bekommt die sehr strenge Musik etwas sinnlich Spielerisches.
DS: Allein nur schon die große Bandbreite in der Dynamik. Hier kammermusikalisch ein zartes Solo in der Violine. Und dann die riesigen Ausbrüche.
MV: Wahnsinn, aber das ist doch das Tolle. Auch wenn dabei einige Stimmen überrollt werden und nicht mehr hörbar sind. Es ist dann wie bei einer Kathedrale, bei der man ja auch nicht alle Konstruktions-Details ihrer Schönheit sieht. Ganz viele streng gefügte Teile, die unsichtbar bleiben. Wehe aber, sie sind nicht da….
DS: Ihre Alterskarriere führt Sie zwar weiterhin durch Europa, Asien und Amerika. Dennoch konzentrieren Sie sich auf ein neues Standbein und komponieren.
MV: Durch die Pandemie habe ich endlich Zeit gehabt, wieder zu komponieren. Dem heutigen Komponisten stehen sämtliche Stile und Techniken zur Verfügung. Aus innerem Auftrag knüpfe ich gerne bei der europäischen Musik um 1933 an, als sie hier verstummte. Es ist ja interessant, dass die Amerikaner für das Wort verfemt „silenced“ sagen, also zum Schweigen gebracht. Das finde ich fast noch eindrücklicher. Und immer habe ich das Gefühl, man muss dieser Musik, die zum Schweigen gebracht worden ist, noch eine zweite Chance geben. Auch als Interpret. Klar. Gerne führe ich Musik aus dieser Zeit auf, also auch bis hin zur Liturgischen Sinfonie von Arthur Honegger 1945. Sehr vieles allerdings können wir nicht mehr spielen, weil die Noten verbrannt oder verloren sind. Oder niemand sie mehr spielen will, zumal ja nach dem 2.Weltkrieg ganz andere Musiken aktuell wurden. Und man das noch Erhaltene weitgehend vergaß. Tragisch.
MV: Viele Komponisten sind auch ausgewandert und konnten da, wo sie hingelangt sind, auch nicht mehr ihre ureigene Musik machen. Meist aus wirtschaftlichen Gründen. Denken Sie an Korngold, der Filmmusiken schrieb oder Schönberg, der versuchte, wieder tonal zu komponieren.
Wie gesagt, empfinde ich es wie einen inneren Auftrag, mich diesen auf zerstörtem Grund liegenden Tönen und Werken wieder zuzuwenden. Dirigenten sind im Prinzip keine Komponisten, die etwas noch nie Dagewesenes erfinden. Wir haben so viel gehört und eingesammelt. Das muss raus. In der Pandemie habe ich gemerkt, ich werde verrückt, wenn ich mir nicht ein neues Ventil schaffe. Ich hatte fast keine Konzerte mehr, nur noch Kleinzeug, fünf, zwölf Leute, vier Leute, acht Leute. So war das. Man hat sich irgendwie durchgehangelt. Aber der Kopf ist zersprungen, und es war die Zeit, wieder Papier zu nehmen und zu schreiben. Es flutschte nur so heraus. Ich kam fast mit dem Aufschreiben nicht nach. Ja, und vorgestern bin ich mit meiner zweiten Oper fertig geworden.
DS: Was ist das für ein Thema?
MV: Es ist eine Kurzgeschichte von Raymond Chandler und spielt in den Dreißigerjahren in einem schäbigen amerikanischen Hotel. In dem Hotel haben die Zimmer keine Nummern, sondern Tonarten. Es ist nicht so, dass ich tonal schreibe, aber ich kann auf Tonales Bezug nehmen, ich kann Tonarten zitieren und die Personen auf Grund ihres Klanges charakterisieren. Dennoch muss ich aufpassen, nun nicht als Reaktionär eingestuft zu werden. Es hängt doch immer noch ein Damoklesschwert über den Komponisten: du musst zwölftönig, seriell und heute digital schreiben. Zumindest aktuell, was immer das heißt.
Ich habe extra die Form der Oper gewählt, die in der Regel Texte musikalisiert. Ich will, dass dieser Text verständlich wird und nicht nur irgendwelche Laute oder Textfragmente transportiert. Ich meine, wir sind z. B. mit Nonos grandioser „Intolleranza“ oder noch mehr seinem „Canto sospeso“ an die Grenze der Verständlichkeit gekommen.
Wenn ich einen Text nehme, den ich überhöhen will, muss er zu verstehen sein. Ich muss verständlich schreiben, ohne dass es banal wird. Für mich als alten Dirigenten wäre es ziemlich das Schlimmste, nun als Komponist die Marke „reaktionär“ angeheftet zu bekommen. Wenn man sich im Leben stets exponiert hat, um wahrhaftig zu sein und am Ende die Beurteilung „gestrig“ bekäme, das wäre furchtbar.
Gerade als alter Mensch musst du mutig sein. Darum arbeite ich so gerne mit jungen Menschen. Denen gehört die Welt, die sind neugierig. Wir älteren Menschen müssen mitziehen und uns beteiligen.
DS: Ja, also ich würde bei einem Punkt, den Sie sagen, würde ich eine andere These vertreten, mit der Befürchtung des Reaktionären. Ich sage jetzt mal ganz provokativ: Sie haben ein langes, erfolgreiches Künstler- und Musikerleben mit einer hervorragenden Bilanz vorzuweisen. Und da ist es völlig egal, welches Etikett man Ihnen anheftet! Sie sind d e r Mario Venzago. Den gibt es nur einmal auf der Welt. Und der Mario Venzago war nie gefällig. Und die Menschen, die in der Lage sind, das zu beurteilen, die wissen selbst, wenn der Mario Venzago sich mal erlaubte, reaktionär zu sein, bleibt er trotzdem stets d e r Mario Venzago.
MV: Das ist sehr lieb. Das ist das größte Kompliment, das man mir machen kann. Und ich glaube, wenn wir auf den Brahms zurückkommen, ich glaube, meine Lesart ist anders, ohne anders sein zu wollen.
Was mich aber verwirrt, ist der Umstand, dass ich mich aus der Oper verabschiedet habe. Aus Trauer und Enttäuschung. Und nun Opern schreibe. Das muss für Sie als Psychologe ein Fressen sein. Ich konnte einfach gewisse Dinge im Opernalltag nicht mehr mittragen.
DS: Wegen der Inszenierung?
MV: Nein, wegen der Konzepte. Wenn mir zum Beispiel ein berühmter Regisseur im „Fidelio“ sagt: „Ach, dieser scheiß Gefangenenchor! Können wir den nicht streichen?“, dann sollte dieser Künstler doch einfach das Stück nicht machen. Jahre- oder monatelang haben die Eingekerkerten kein Tageslicht gesehen. Nun kommen sie plötzlich in die Sonne und sind sicherlich schmerzhaft geblendet. Das ist ein Höhepunkt. Und wenn du den nicht inszenieren kannst, dann darfst du das Werk nicht machen.
Ich habe öfters Opern auch konzertant aufgeführt, vor allem solche, die schwer auf der Bühne zu realisieren gewesen wären, z.B. Werke von Othmar Schoeck.
Dann hat man zumindest ein Dokument und weiß, wie es klingt. Die Musik hat in der konzertanten Aufführung die absolute Priorität. Auch wenn das Visuelle schmerzhaft fehlt. Das Publikum ist da besonders gefragt, mit seiner Phantasie die Szene zu ergänzen. Ich denke aber, der Komponist wird sich schon gut überlegt haben, warum er kein Oratorium, sondern eine Oper schrieb.
Wenn ich meine Oper schreibe, stelle ich sie mir inszeniert auf der Opernbühne vor. Natürlich schreibe ich genaue Regieanweisungen hinein, erwarte allerdings, dass diese als Anregungen genommen und nicht exakt umgesetzt werden. Der Regisseur soll den doppelten Boden und den szenischen Mehrwert finden und darstellen.
Aber es gibt Grenzen der Auslegung. Die Geschmäcker sind verschieden. Aber Geschmacklosigkeit ist keine Frage des Geschmacks. Da müsste man schon einen Riegel schieben. Und das hat nichts mit reaktionär zu tun, sondern mit Wahrheit und Vision. Ich glaube an das, was ich mache. Und wenn ich es nicht umsetzen kann, muss ich es bleiben lassen. Und nicht ein Werk verbiegen. Es gibt so viele Stücke, die darauf warten, inszeniert zu werden, auch Werke, die nie gemacht werden.
Ich habe vor vielen Jahren in Frankreich eine „Traviata“ gemacht. Da wurde im zarten Vorspiel eine Vergewaltigung gezeigt. Der Regisseur meinte, Traviata sei ja die vom Weg Abgekommene. Also wurde sie im Gebüsch neben dem Weg vergewaltigt. Das ist geschmacklos.
DS: Gibt es denn eine Oper, die Sie unbedingt noch machen wollen?
MV: Meine beiden Opern möchte ich natürlich gerne hören.
DS: Ich fände es auch sehr spannend, von Ihnen einmal Gustav Mahler zu hören!
MV: Komisch, dass Sie das sagen, weil ich natürlich den Bruckner in- und auswendig kenne. Den Mahler muss ich mir stets neu erobern.
DS: Mahler ist einer meiner Herzenskomponisten, den ich sehr gut kenne. Es gibt die Musik hinter der Musik, die spielt bei Mahler eine viel größere Rolle. Und das war sein großes Dilemma, dass er das nicht niederschreiben konnte. Deswegen hat er so viel in die Partitur reingeschrieben. Aber wir dürfen nicht vergessen, Mahler hat ja permanent verändert.
MV: Schönberg sagte, dass die genaueste Notation im Grunde die ungenaueste ist.
DS: Mahler hatte sich leicht verunsichern lassen, wie Bruckner auch.
MV: Bei Bruckner ist es ja krankhaft.
Ich wäre gerne sein Freund gewesen. Wie oft hätte ich ihm dann gesagt, dass er sein Werk nicht mehr bearbeiten soll.
DS: Aber eine Mahler-Sinfonie mit Ihnen fände ich toll.
MV:Ja, meinen Sie?
DS: Sie müssten die Rätselhafteste wählen, an die sich so wenige ran trauen.
MV: Das ist die siebte Sinfonie. Sie ist meine Liebste.
DS: Ja, die passt zu Ihnen! Worauf warten Sie?
MV: Ja, ja. Bis jetzt ist sie mir stets nur teilweise gelungen. Aber ich würde gerne wieder in die Oper zurückgehen, um ein großes, bekanntes Werk neu einzustudieren.
DS: Dann müssen Sie den „Parsifal“ machen!
MV: Sie sprechen meine Gedanken aus! Diese Partitur liegt immer noch geöffnet auf dem Tisch. Es wäre meine letzte Produktion vor der Pandemie gewesen, bzw. die ganze Produktion wurde wegen Corona ersatzlos gestrichen.
Vermutlich hätte man mich stark kritisiert, weil ich – im Widerspruch zum vorhin Gesagten – Kürzungen und Textänderungen vornehme und vieles alla breve, d.h. zum Teil im doppelten Tempo angelegt hatte.
DS: Aber da ist man inzwischen viel toleranter geworden.
MV: Dennoch war ich froh, dass dieser Kelch damals an mir vorbeiging.
DS: Holen Sie sich ihn wieder zurück. Nicht vorbeiziehen lassen!
MV: Zumal er ja Wagner und Bruckner verbindet. Damit könnte ich dann die Digitalisierung meiner eigenen Opern finanzieren, falls ein Opernhaus dazu bereit ist.
DS: Parsifal und die siebte Sinfonie von Gustav Mahler. Mögen sich diese Herzenswünsche erfüllen, lieber Herr Venzago!
Eine letzte Frage stelle ich immer am Schluss. Sie haben so viel in Ihrem Leben schon gemacht. Stand das, was Sie gemacht haben, für Sie unter einem Credo?
MV: Ich wollte immer dirigieren. Mit Fünf spielte ich Klavier und bildete mich darin professionell aus. Aber nur, um später dirigieren zu können. Ich beschloss, zunächst als Pianist zu arbeiten und erst, wenn ich bei den Luzerner Festwochen als Solist gespielt hätte, den Traumberuf anzusteuern. Ich hätte mich niemals getraut, von Musikern etwas zu fordern, wenn ich es nicht selbst erfahren hätte. Und noch heute würde mich nie als Privatmensch vor ein Orchester stellen. Aber mit dem Stab in der Hand habe ich sozusagen ein Legitimationszeichen, dass ich hier als Befugter stehe. Ich habe das Recht, das zu tun. Und so konnte ich auch Misserfolge, Scheitern, Missverstandenwerden annehmen. Oder als Chefdirigent schwere Entscheidungen treffen. Das hätte ich privat nicht gekonnt. Nur unter dem Aspekt, dass ich einen Auftrag habe, den ich erfüllen möchte, so gut es überhaupt nur geht, war das alles möglich und irgendwie erfolgreich. Und so verkrafte ich auch das lange Reisen, und dass ich die Familie vernachlässigte und den zum Teil immensen Verzicht auf Normalität und Beschaulichkeit.
Letztlich ist es ein Beruf, der in gewisser Weise nur… hmmm: religiös? geleistet werden kann. Also an den Auftrag und das Mediale muss man glauben. Mit dem unbedingten Glauben an die Musik als höhere Gewalt. Gewalt ist ein schlechtes Wort, Erkenntnis?
DS: Die Macht! Musik ist ja eine Macht.
DS: Lieber Herr Venzago, ich danke Ihnen sehr für dieses schöne Gespräch. Von Herzen alles Gute für Sie!
MV: Und ich danke Ihnen, dass Sie nicht auf einem Interview bestanden haben, sondern dieses lange frei assoziierende Gespräch ermöglichten.
Dirk Schauß am 10.2.2023