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MALTE KRASTING: Zur Dramaturgie gehört eine gewisse Vielseitigkeit

Malte Krasting: „zur Dramaturgie gehört eine gewisse Vielseitigkeit“


Malte Krasting. Foto: Wilfried Hösl

Eine der bedeutendsten Auszeichnung, die gleichfalls eine neue Inspirationsquelle für die besten Opernhäuser, Produktionen, Sänger, Regisseure, und Chöre darstellt, ist eine jährliche Kritikerumfrage der Berliner Fachzeitschrift für Musiktheater OPERNWELT – des wichtigsten weltweit und des umfangreichsten Magazins für Opernkenner. Die Gewinner bekommen dadurch eine hohe Anerkennung und werden in den verschiedenen Kategorien ausgezeichnet („Opernhaus des Jahres“, „Aufführung des Jahres“, „Sänger des Jahres“, „Chor des Jahres“ usw.). Die Kategorie „Dramaturg des Jahres“ ehrt öfters die Theaterdramaturgen. Diese Auszeichnung verdienen auch die Dramaturgen der Opernproduktionen. Ihre fachliche, intellektuelle und musikwissenschaftliche Unterstützung benötigen nicht nur die Regisseure, die oft keine Oper-Kenner sind, sondern auch die Sänger und die Musikkritiker, die nicht immer die wichtigen Kontrapunkte der innovativen Regie-Konzepte durchblicken. Die akribische Recherche der Quellen, Epistolarien, Redaktionen, historischen und psychologischen Fakten der Erstehung des Werkes, die Interpretationsgeschichte, Kommunikation mit den Experten, Zusammenstellung der fachlichen Programhefte – all das ist die großartige Hintergrund-Arbeit, ohne die keine neue Oper-Produktion möglich wäre.

Wenn ich gefragt würde, wer die Auszeichnung „Opern Dramaturg des Jahres 2017“ letztes Jahr aufrichtig verdient, hätte ich den Namen des Dramaturgen der Bayerischen Staatsoper Malte Krasting bzw. seine Dramaturgie-Führung und Mitwirkung bei den Neuproduktionen „Lady Macbeth von Mzensk“ von Schostakowitsch und „Il Trittico“ von Puccini benannt. Für dieses Jahr würde ich die gleiche Kandidatur für Dramaturgie in der Neuinszenierung „Otello“ Verdi empfehlen.

Nach ein paar Einführungen (an der Bayerischen Staatsoper beginnen diese eine Stunde vor Vorstellungsbeginn), in der Malte Krasting für das Publikum die Geheimnisse der Neuproduktionen als eine Explosion seiner eigenen Spannung und Faszination von den Werken offenbarte, kam ich zu der Idee von einem Interview mit dem Dramaturgen. Diesmal inspirierte der folgende Meinungsaustausch seine Dramaturgie bei der Neuproduktion „Otello“ Verdi.

Zum Beginn unseres Gespräches über die Interpretation der vorletzten Oper Verdi „Otello“ von Kirill Petrenko (Musikalische Leitung) und Amélie Niermeyer (Regie) erscheint spontan (wie auch immer) ein Vergleich mit Wagner. Im Konzept des Programmheftes wurden die Abbildungen Cy Twomblys zwölfteiligem Zyklus „Lepanto“ – das Schlüsselwerk des Brandhorst Museums vorgestellt. Das Dramaturgie-Team verfolgte das Ziel, den historischen Hintergrund von Shakespears Drama „Otello“ über den maurischen Helden, der nach der Seeschlacht von Lepanto nach Venedig zu seiner Gattin Desdemona zurückkehrte, zu beleuchten (am 7. Oktober 1571 besiegte Otello die mit der „Heiligen Liga“, eine Allianz aus spanischen, venezianischen und päpstlichen Truppen in einer Seeschlacht die Osmanen). Am 15. Dezember hat die Bayerische Staatsoper eine Führung über den Zyklus „Lepanto“ im Museum Brandhorst für das Opernpublikum im Angebot. Dieses Jahr dürften die Zuhörer ähnliche Erfahrungen über die Opernproduktion alias Gesamtkunstwerk mehrfach erleben. Von der Teilnahme bedeutender zeitgenössischer Künstler in der Opern-Produktionen von Yuval Charon in Bayreuth („Lohengrin“, Bühnenbild – Neo Rauch und Rosa Loy) sowie von Pier Audi in München („Parsifal“, Bühnenbild – Georg Baselitz) wurden die Regie-Konzepte beeinflusst oder sogar den Künstler-Ideen untergeordnet. Man hat sich gefragt, wer tatsächlich in diesen Fällen die Regie führte. Bekanntlich war auch Cy Twombly mit der Oper gut vertraut, als er seinen Eisernen Vorhang „Bacchus“ für die Wiener Staatsoper in der Saison 2010/2011 kreierte. Man könnte mit einer Gesamtkunstwerks-Idee über die Neuproduktionen spekulieren, z. B.; wie Amélie Niermeyer ihr Regie-Konzept entwickeln würde, wenn Cy Twombly (1928-2011) noch lebte und von der Bayerischen Staatsoper als Bühnenbildner für die Neuinszenierung von „Otello“ eingeladen worden wäre.

Adelina Yefimenko: Malte, im Regie-Konzept von Amélie Niermeyer ist der Einfluss vom Zyklus „Lepanto“ nicht unbedingt zu sehen. Womöglich sollte man Cy Twomblys malerische Inspiration im Bühnenbild suchen? Was genau übernimmt das Regie-Team – Christian Schmidt (Bühnenbild), Olaf Winter (Licht), Philipp Batereau (Video) von Twomblys „Lepanto“?

Malte Krasting: Cy Twomblys Zyklus Lepanto spielt für die Inszenierung nur insofern eine Rolle, als die Schlacht von Lepanto möglicherweise eine historische Quelle für die von Shakespeare bzw. Verdi/Boito geschilderte Seeschlacht zwischen der venezianischen und der türkischen Flotte darstellt. Die großformatigen Bilder, die zudem in München in einem eigens dafür gestalteten Raum ausgestellt sind, bieten einen Eindruck von der apokalyptischen Dimension dieser Schlacht mit zehntausenden Toten und damit auch einen eindringlichen Hintergrund für die Situation, aus der Otello am Anfang der Oper die Szene betritt. Die Inszenierung ist aber nicht von Twombly ausgegangen, und es war auch nicht beabsichtigt, dass sich aus der szenischen Darstellung eine Assoziation zu Twombly ergibt. Um den Bezug zu dokumentieren, haben wir den vollständigen Zyklus im Programmbuch reproduziert.

Adelina Yefimenko: Oft wird betont, dass den Anstoß zu „Otello“ Verdi Boitos „Mefistofele“ gab und dass der Komponist sein Opus sogar „Jago“ benennen wollte. Jago und Mefistofele sind ja beide Nihilisten und beide stellen die Verkörperung des Bösen und der Zerstörungslust dar. Interessant ist dabei die Entstehungsgeschichte der Oper. Durch „Zufall“ lernen sich beide Komponisten kennen. Verdi besucht inkognito die erste Aufführung Wagners „Lohengrin“ in Bologna (19.11.1871). Boito, der gerade auch die Vorstellung erlebte, trifft Verdi auf der Rückreise. Acht Jahre später (1879) nach der langen Schaffenspause (nicht nur wegen der misslungenen Premiere von „Aida“ am 24. Dezember 1871, sondern auch als Widerstand gegen Wagners Einfluss) begeistert sich Verdi über Boitos Libretto zur künftigen Oper „Otello“, in der der italienische Meister doch nicht eine Belcanto-Oper schafft, sondern ein bahnbrechendes Drama. Der Jago von Gerald Finley verkörpert genau diese unsichtbare mysteriöse mephistophelische Kraft in den legeren Kleidern des edelmännischen Bösewichtes. Er ist der Schöpfer und nicht Täter des Todes. So eine Parallele Jago-Mefistofele ist das die Idee der Regisseurin oder ist das ein Verdienst des Sängers?

Malte Krasting: Das Mephistophelische in der Figur des Jago liegt wohl bereits bei Shakespeare offen zutage. Boito verstärkt diese Züge insbesondere durch das sogenannte „Credo“, einen Text, für den es im Schauspieltext kein Vorbild gibt und den er eigens für Verdi konzipiert hat, in einer Phase, als es durch ein Missverständnis zu einer kurzzeitigen Verstimmung zwischen Verdi und ihm gekommen war; Verdi hatte erwogen, die Komposition der Oper nicht weiterzuverfolgen, und Boito wollte ihn mit diesem Text überzeugen, dass sich die Mühe lohnen würde.
Das Interesse des Regieteams lag bei der Figur des Jago vor allem in der Frage, ob die Persönlichkeit Jagos von Anfang an feststeht – wie es in der Literatur vielfach zu lesen ist –, oder ob es eine Entwicklung gibt. Dabei ist man zum Schluss gekommen, dass es reizvoll wäre, Jago als Spieler zu sehen: als jemanden, der zunächst mehrere kleine Versuchsballons steigen lässt, und der erst, als für ihn klar wird, welchen Erfolg er mit seinen destruktiven Intrigen hat, sich zu der auch für ihn neuen Erkenntnis aufschwingt, an die Negation aller Werte zu glauben. Die musikalische Ausgestaltung des „Credos“ legt unmissverständlich nahe, dass sich hier ein Mensch äußert, der nach einem neuen Sinn sucht, für den nicht alles, was er dort ausspricht, a priori klar ist, und der mindestens an dem Punkt, wo er sich über das Rechenschaft ablegen muss, was nach dem Tod kommt, auch erhebliche innere Widerstände überwinden muss, um zu seiner abschließenden Affirmation („La morte è il nulla“) zu gelangen.

Adelina Yefimenko: Kirill Petrenkos Interpretation geht noch weiter und erkennt in der Otello-Partitur die Antizipation des Expressionismus: vom ersten schreienden Dissonanten bis zum dramatischen Sprechgesang der Schussszene, die der Otello-Darsteller Jonas Kaufman im Gesang mit starker schauspielerischen Präsenz herzzerreißend meisterte. Welche Geheimnisse für Sie als Partitur-Kenner entdeckte Kirill Petrenko in seiner „Otello“-Klangdeutung? Welchen Einsatz als Dramaturg bringen Sie während der Vorbereitung der Opernproduktion für den Dirigenten? Und wie ist Ihre Meinung zu den snobistischen Kritiken dieser Interpretation „Otello“ als „nicht mehr Verdi“, oder „holzgeschnittener teutonischer Verdi“?

Malte Krasting: Kirill Petrenko geht bei allen seinen Interpretationen soweit nur möglich zu den Quellen zurück, konsultiert neben den neuesten Kritischen Editionen stets auch, wenn verfügbar, die Autographe der Komponisten selbst, studiert Sekundärquellen wie Briefe und Aufzeichnungen der Künstler und ihrer Mitarbeiter (wie beim „Ring“ oder im Falle Puccinis die Notizen von Luigi Ricci). Außerdem befasst er sich mit der Aufführungstradition, historischen Mitschnitten und bedeutenden Aufführungen der jüngeren Zeit. Im Falle von „Otello“ waren es wie auch sonst die dynamischen und agogischen Vorschriften in der Partitur, denen er besondere Beachtung geschenkt hat – und natürlich der Aspekt der Klangfarbe, der in dieser Oper eine so herausragende Rolle spielt. Da kann es schon vorkommen, dass er mit den Schlagzeugern des Orchesters für einen einzigen Beckenschlag eine Stunde lang verschiedene Instrumente, Schlegel, Dämpfungen etc. ausprobiert, bis er sich für eine Variante entscheidet. Den vielleicht höchsten Stellenwert hat schließlich die Balance zwischen Orchester und Singstimmen, denen er immer den optimalen Raum zur Entfaltung bieten will.

Adelina Yefimenko: Ein großartiger Verdienst der Dramaturgen der Bayerischen Staatsoper – die fachlich hochinteressanten Texte des Programmheftes, die Vorschau in der Presse und auf der Web-Site des Nationaltheaters. Sie schreiben selber exzellente Texte, aber laden dazu für die Mitarbeit auch prominente Experten aus der Domäne des Musiktheaters ein – nicht nur Mitglieder des Produktionsteams, sondern auch berühmte Universitätsprofessoren, Philosophen, Künstler, Dichter usw. Das Programmheft zur Neuinszenierung „Otello“ enthält die Texte von Prof. Dr. Anselm Gerhard, Prof. Dr. Albert Gier, Prof. Dr. Judith Frömmer und ihr Gespräch mit Amelie Niermeyer. Sie haben auch die Handlung für die „Otello“-Neuinszenierung- sachlich in Worte gefasst. Wie organisieren Sie solche komplexen Aufgaben wie das Schreiben, die Produktions-Team-Beratung, ihre eigene Inszenierungsreflexion, das Interesse des Publikums wecken usw.? Welche von diesen vielen Fähigkeiten sehen Sie für den Dramaturgen als die Wichtigste und was vor allem war für Sie in der Zusammenarbeit für die Otello-Produktion besonders spannend.

Malte Krasting: Die Möglichkeit, ausführliche Programmhefte zu gestalten, ist einer der vielen erfreulichen Aspekte bei der Arbeit an der Bayerischen Staatsoper. Dabei ist übrigens einer der zeitaufwendigsten Bestandteile die Redaktion der Libretti. Man könnte meinen, es wäre mit einem simplen Abdruck eines ja schon existierenden Textbuchs getan, das ist aber nicht der Fall. Einmal, weil viele Publikationen immer wieder überraschende Fehler bringen und es außerdem in den Textvorlagen oft Divergenzen zwischen verschiedenen Fassungen gibt, zum anderen, weil wir den tatsächlich gesungenen Text dokumentieren wollen, der oft von den zum Lesen gedachten oder als Vorlage für die Komposition dienenden Operntexten abweicht, zum dritten, weil wir oft neue deutsche Übersetzungen in Auftrag geben, die mit dem Original in Einklang zu bringen und zeilensynchron abzudrucken sind, zum vierten, weil fallweise auch Annotationen erforderlich scheinen. Die Bayerische Staatsoper ist glücklicherweise eine so renommierte Institution, dass viele namhafte Wissenschaftler und Künstler gerne für unsere Publikationen schreiben und es vor allem auf eine rechtzeitige Beauftragung ankommt; es macht große Freude, gemeinsam mit diesen Autoren Themen zu formulieren, neue Blickwinkel auf die Werke zu finden und in der Feinabstimmung an den Texten zu feilen. Dass zur Dramaturgie auch eine gewisse Vielseitigkeit und die Fähigkeit zum Moderieren verschiedener Standpunkte gehören, dürfte dabei auf der Hand liegen.

Adelina Yefimenko:
Zu den Texten Ihres Programmheftes zu „Otello“. Im hochinteressanten Text von Prof. Dr. Anselm Gerhard „Zum Sterben süß“ gibt es paar Zeilen, die meine Reflexion auf die Inszenierung von Amélie Niermeyer wiederspiegelten. Vor allem seine Aufmerksamkeit auf Anweisungen in der Partitur und der von Verdi durchgesehenen Disposizione scenica: „Die Bühne leert sich“, „Otello und Desdemona bleiben zurück“, „Desdemona macht nur zwei oder drei Schritte in Otellos Richtung, dann hält sie ein, indem sie ihn verliebt betrachtet“. Dann auch seine Klangdeutung: „das Orchester zeichnet in einem längeren Zwischenspiel die Beruhigung der Situation. Nach dem Solo eines Violoncellos stimmen vier gedämpfte Violoncelli in höchster Lage eine verzückt-entrückte Melodie an“. Und all das betrachtet der Musikwissenschaftler als „verblüffende klangliche Parallele zur ersten Begegnung von Siegmund und Sieglinde ganz am Anfang von Wagners die Walküre“? War für die Regisseurin von Bedeutung, dass sich Verdi „in seinem Spätwerk mit versteckten Anspielungen auf das Werk seines Gegenspieles vergnügte“?

Malte Krasting: Wichtig war die Beschäftigung damit, wie Verdi althergebrachte Formen wie Arien, verschiedene Arten von Rezitativen, Ensembles etc. weiterhin einsetzt, aber auf innovative Weise auch in ihrer Nummernhaftigkeit aufhebt und in jedem der vier Akte einen durchgehenden dramatischen Bogen schlägt. Dass das Orchester mit seiner bis dahin unerhörten dynamischen Spannweite und dem Reichtum an Klangmischungen stets die Figuren begleitet, ihre Gedanken zum Klingen bringt, ihre Motivationen offenlegt, hat die szenische Arbeit bereichert.

Adelina Yefimenko: Nicht zufällig wird die Bühne in zwei gleichartige Räume geteilt. Sind diese Räume ein Symbol für kontroverse Welten Desdemona und Otello? Können sie auch die helle Vergangenheit und dunkle Gegenwart versinnbildlichen? Oder sind sie Anspielungen des Realitäts- und Unterbewusstseins der Protagonisten? Ist das eine spannende Verwicklung des Denkens beiden Unwissenden, die von der Jago-Mefistophele-Wirkung gezwungen sind, mit seinem zweiten „Ich“ zu zanken und in der Musik ihr Abklang zu finden?

Malte Krasting: Das sind alles durchaus mögliche Sichtweisen auf das Bühnenbild dieser Inszenierung. Man könnte auch an einen Raum von Desdemonas Lebensplan in zwei Ausprägungen denken: den utopischen, von Hoffnungen durchdrungenen weißen Raum, der ihrer Gedankenwelt vorbehalten ist, und den dystopischen, mit Ängsten angefüllten, verkohlt-schwarzen Raum, der von allen, auch zerstörerischen Kräften bevölkert ist.

Adelina Yefimenko: Einige äußere Effekte sowie Raum-Drehungen und Video-Projektionen spielen in der Inszenierung eine stark betonte psychologische Rolle. Auch die Desdemona-Dopplung am Kamin, die dann ihre Hand abbrennt während der Chor das „Fuoco di gioia“ singt, dann die erschütternde Vorwegnahme des Desdemona Todes (Szene ihrer Verehrung im Blümen-Grab) stellen klare Symbole dar. Welche Widerspiegelungen dieser äußeren Doppelbödigkeit findet man im Orchesterklang?

Malte Krasting: Man kann festhalten, dass die Chorszene „Fuoco di gioa“ genau wie die Huldigungsszene in Shakespeares Schauspiel nicht vorkommen, Boito und Verdi sie also dem Drama hinzugefügt haben, wodurch die Passagen einen besonderen Stellenwert erhalten. Der Text des Chors in „Fuoco di gioia“ liest sich, besonders am Schluss, wie eine Vorahnung vom Verlöschen und Erkalten der Liebe zwischen Desdemona und Otello, dabei beginnt er doch eigentlich als Freudenfeuer. Die Ambivalenz wird hier mit größter Deutlichkeit dargelegt. Dass Desdemona trotz allem eine extrem mutige Frau ist, geht aus der Vorgeschichte hervor; sie scheut nicht vor Gefahren zurück und sucht eher die Konfrontation, als dass sie eine vermeintliche Ungerechtigkeit auf sich beruhen lässt, und vor allem will sie keine Sprachlosigkeit zwischen sich und Otello ertragen. Die Verehrung, die ihr fast alle Menschen entgegenbringen, grenzt an Heiligenverehrung. Sie ist rational kaum erklärbar und bietet gerade darum eine so große Fallhöhe. Die musikalische Komplexität dieser Szene findet in unserer Inszenierung eine Entsprechung, indem Jago die Szene kapert und die als Huldigung gedachten Blumengaben in eine unheimliche Todesvorahnung verkehrt.

Adelina Yefimenko: In der Inszenierung von Amélie Niermeyer geht es mehr um die Desdemona-Welt, als um Otello. Hat es damit zu tun, dass eine Frau Regie führte? Dass eine Frau sich auf die Liebe, Reflexen, Leid, Zwiespalt der anderen Frau mehr konzentrierte, als auf die Reaktionen des Mannes? Dazu muss man sagen, dass die Regisseurin für diese neue Gestalt Desdemonas Anja Harteros als ideale Besetzung zur Verfügung hatte. Nicht wahr?

Malte Krasting: Die Inszenierung will Desdemona nicht als Opfer einer grausamen Männerwelt zeigen, sondern als starke, unkonventionelle Frau. Dafür gibt es im Text so viele Hinweise, dass ich bezweifle, ob man dafür eine Regisseurin braucht oder ob nicht jeder inszenierende Mensch diesem Aspekt die gebührende Beachtung schenken könnte. Nichtsdestoweniger ist Amélie Niermeyer in diesem Punkt unerbittlich und sucht in Sprache, Musik und Darstellung nach Möglichkeiten, der Figur der Desdemona die größtmögliche Tiefenschärfe zu verleihen, und selbstverständlich ist eine Sängerin wie Anja Harteros mit ihrer unübertrefflichen szenischen Präsenz ein Geschenk für jede „Otello“-Aufführung.

Das Gespräch führte Adelina Yefimenko im Februar 2019

 

Fotos zu „Otello:

Bildergebnis für bayerische staatsoper otello
Jonas Kaufmann, Anja Harteros. Foto: Wilfried Hösl
Zu sehen ist Anja Harteros mit einer dramatischen Geste (© Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)
 Anja Harteros. Foto: Wilfried Hösl

 

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