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Berio: Sinfonia // Mahler / Berio: Frühe Lieder (CD)

16.09.2016 | cd, CD/DVD/BUCH/Apps

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Berio: Sinfonia

Mahler / Berio: Frühe Lieder

BBC Symphony Orchestra / Matthias Goerne
harmonia mundi CD

Und wollen die Gedanken der Liebe sich entschlagen, so kommen meine Lieder zu mir mit Liebesklagen! So halten mich in Banden die Beiden immer wieder! Es weckt das Lied die Liebe! Die Liebe weckt die Lieder! Aus „Erinnerung“ (R. Leander)

Knallrote Lippen à la Roy Liechtenstein zieren das Cover der neuen Lucianio Berio und Gustav Mahler gewidmeten CD. Zu hören sind 10 der 11 von Berio in zwei Schüben 1986 und 1987 orchestrierten Frühen Lieder und Gesänge Gustav Mahlers, wobei sieben davon aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ entstammen. „Ich wollte den Pluralismus und die Vielgestaltigkeit der von Mahler ausgebrachten Saat deutlich machen. Es zeigen sich Züge von Wagners Walküre (Scheiden und Meiden), dann wieder ist es der Geist der Wesendonck-Lieder (Erinnerung), es tritt uns der reifere Mahler entgegen (Nicht wiedersehen), dann wieder der zukünftige (Phantasie aus “Don Juan“) oder auch der untypische (Frühlingsmorgen).“ charakterisiert Berio selbst seine Arbeit.

Der Plattenfreund kennt ja die postromantische Berio Fassung dieser Mahler Lieder wahrscheinlich schon von der exzellenten Einspielung mit Thomas Hampson aus dem Jahr 1992. Tatsächlich ist es dem italienischen Komponisten gelungen, die wunderschönen klavierbegleiteten Reime mit einem enormen orchestralen Farbenkaleidoskop auszustatten. Das verändert zwar den lyrischen Volksliedcharakter und die Anforderungen an die Interpreten. Aber wenn man den aktuell wohl weltbesten Liedsänger zur Verfügung hat, ist der dramatischere Zugriff wahrlich kein Problem.

Matthias Goerne ist auf dem Zenit seines Könnens und verfügt über einen voluminös aufgeblühten Bassbariton der Sonderklasse. Das oben genannte Zitat aus dem Lied Erinnerung scheint seinem Künstlertum gerecht zu werden. Üppiger und klanglich reicher hat (George London ausgenommen) noch kein männlicher Interpret Mahler gesungen. Als Vergleiche für den Reichtum an Stimmitteln und einzigartig timbrierter vokaler Farbenpracht vergleichbar einem Gemälde von Rembrandt fallen mir nur Christa Ludwig und Jessye Norman ein. Die expansive Tiefe, die breite Mittellage und die in allen Goldtönen abschattierten Pianohöhen machen das Anhören zu einem großen Erlebnis. Die Beschäftigung des Sängers mit großen Wagnerrollen (Fliegender Holländer, Wotan) befruchtet die Interpretation noch. Spektakulär ist auch die audiophile Aufnahmetechnik, die für wahre Lavaströme an Stimme in den Wohnzimmern sorgt.

Als zweites Werk wurde das schon 2012 aufgenommene Hauptwerk aus der Feder Luciano Berios, die Sinfonia (1968-69) für Orchester und acht Stimmen für das neue Album gewählt. Eine gute Idee, die sich beim Anhören erschließt. Das BBC Symphony Orchestra unter der lebendigen und spannungsgeladenen Leitung des erfahrenen Dirigenten Josep Pons sorgt wie schon bei Mahler, nur verstärkt durch die formdablen „The Synergy Vocals“, für eine beeindruckende, beinahe raumsprengende Wiedergabe des kuriosen Werks. Der Chor wird hier durch Mikrophone verstärkt, außer Gesang wird rhythmisiertes oder freies Sprechen und Flüstern eingesetzt. Berio inkludiert Texte von Claude Lévi-Strauss´ Le cru et le cuit oder Samuel Beckett « The Unnameable. » Mit dem dritten Satz schließt sich der Kreis zu Mahler, aus dessen zweiter Symphonie wie trunken zitiert wird. Das Tohuwabohu ist perfekt, wenn gleichzeitig Worte gesprochen und musikalische Reminiszenzen an Claude Debussy oder Arnold Schönberg geweckt werden. Der Collagencharakter der Komposition ist klar erkennbar, mir scheint das Konzept dennoch (gedanklich) überfrachtet. Der Musikfreund ist mit vielfältigsten Strukturen konfrontiert, die es zu gliedern und nachzuhören gilt. Ob man das dann als postmodern oder dekonstruktivistisch bezeichnet, ist nicht so wichtig. Alles in allem beeindruckt das Werk aber nach wie vor und die herausragende Interpretation tut das Ihrige, diesen Klassiker der Moderne entsprechend würdigen zu können. Ein inneres Augenzwinkern hilft manchmal, wie beim Lesen von James Joyce, bei sich anschleichender Überforderung sich selbst gegenüber Milde walten zu lassen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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