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LYON/ Opéra: GerMANIA

02.06.2018 | Allgemein, Oper


Copyright: Stofleth

Lyon: „GerMANIA“– Opéra  30.5.2018

 „Wir bemühen uns jedes Jahr ein neues Werk herauszubringen …  Man kann nicht nur von der Vergangenheit leben. Man muss die Vergangenheit nutzen und gleichzeitig die Tore für die Zukunft öffnen. Man kann also nicht nur die Opern der Vergangenheit spielen sondern muss auch Aufträge für neue Werke erteilen. Seit Monteverdis „L’Orfeo“ wurden ca. 50.000 bis 60.000 Opern geschrieben. Einen Großteil dieser Opern verdanken wir dem Mut, den einige Personen hatten um diese Opern in Auftrag zu geben. Wenn die Menschen der Zukunft in unsere Zeit zurückblicken werden, dann sollen sie feststellen, dass auch 2014 oder 2015 eine interessante Zeit war, in der große Werke hervorgebracht wurden. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen in der Vergangenheit ein größeres Bewusstsein hatten für nachhaltige Entwicklungen als heute, dass man an die Zukunft gedacht hat. Und ich habe den Eindruck, dass wir diese Zukunftsorientierung verloren haben. Ich glaube, dass wir so egoistisch geworden sind und nicht mehr an zukünftige Generationen denken. Man muss etwas zurückgeben, nicht nur nehmen. Es wird einen Moment geben, wo man nicht mehr nehmen kann, weil wir schon alles genommen haben. Das ist jedoch das Phantastische an der Kunst, man kann immer mehr geben als man nimmt.“

Das hat Serge Dorny, der Intendant der Opéra de Lyon, in einem Interview im Dezember 2014 zu mir gesagt. Und tatsächlich: kaum ein anderes Opernhaus in Europa bringt so viele neue Opern heraus, sei es als Uraufführung oder auch nachgespielt nach der Uraufführung in einem anderen Opernhaus. 2014 war in Lyon eine der erfolgreichsten Opern des 21. Jahrhunderts zu sehen: „A Dog’s Heart“, die zweite Oper des in Frankreich lebenden russischen Komponisten Alexander Raskatov. Diese Oper war nach ihrer Uraufführung 2010 an der Niederländischen Oper Amsterdam u.a. auch an der English National Opera in London sowie an der Mailänder Scala und2017 nochmals an der Niederländische Oper Amsterdam zu sehen. Nach dem großen Erfolg dieser Oper beauftragte Dorny Raskatov für die Opéra de Lyon eine neue Oper zu schreiben. Und man bewies großen Mut: das Libretto wurde aus zwei Theaterstücken von Heiner Müller erstellt. Aus den Stücken „Germania Tod in Berlin“ und „Germania 3 Gespenster am toten Mann“ wurden zehn Szenen für die Vertonung ausgewählt. Zehn Szenen, die sich mit der europäischen und speziell mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Eine Oper, in der Hitler und Stalin, Thälmann und Ulbricht, Goebbels und Eva Braun auftreten, gesungen in deutscher und russischer Sprache, und das in einem französischen Opernhaus? In wohl keinem anderen französischen Opernhaus hätte so ein Vorhaben gelingen können. Aber in Lyon, wo Serge Dorny das Opernpublikum wirklich zur Neugierde erzogen hat, wurde eine solche Opernnovität zum Publikumserfolg.


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Es ist schon seltsam, dass der 1995 verstorbene deutsche Dramatiker Heiner Müller, einer der bedeutendsten Schriftstellerpersönlichkeiten der DRR, heute in Frankreich mehr wahrgenommen wird als in Deutschland. Mit seinen beiden Theaterstücken, die dem Libretto zugrunde liegen, hat Müller einen Bilderbogen zur deutschen Geschichte geschaffen, der konkrete historische Ereignisse neben phantastische Parodien und anachronistische Begegnungen setzt. Zehn Szenen wurden für die Oper ausgewählt:

An der Berliner Mauer räsonieren in einer fiktiven Begegnung der 1944 im KZ Buchenwald erschossene Kommunistenführer Ernst Thälmann und der DDR-Staatschef Walter Ulbricht neben den Leichen von erschossenen Maueropfern über ihr politisches Scheitern. In Russland will Stalin die Utopie des „neuen“ Menschen in die Tat umsetzen. Das geht allerdings nur, indem man massenweise die „alten“ Menschen liquidiert. Während Stalin vom Wodka illuminiert über Leichenberge stolpert, sterben in Stalingrad die Soldaten auf beiden Seiten. Es folgen Szenen, sowohl auf der russischen Seite als auch auf deutscher Seite dieses Kriegsschauplatzes, wo die Soldaten krepieren und aus Hunger zu Kannibalen werden.  Zu Hause in Deutschland lassen sich drei Kriegerwitwen von einem SS-Mann als Gegenleistung für Zivilkleidung töten, da sie den Untergang des Dritten Reiches nicht miterleben wollen. Noch im Tode singen sie koloraturgewaltig „Heil Hitler!“  Nachdem Goebbels seinem Führer die Leichen seiner Kinder präsentiert hat, will Adolf Hitler mit Eva Braun nach Walhall einziehen und begeht Selbstmord. Ein Deutscher kommt aus dem Konzentrationslager nach Hause und wird Zeuge wie seine Frau von einem russischen Soldaten vergewaltigt wird. Er erschlägt den Soldaten und wird dafür in einen russischen Gulag verschleppt. Nach einem Dialog über getötete Juden folgt eine wahrhaft komische Szene über das Begräbnis von Bertolt Brecht. Der Sarg, entworfen vom Bildhauer Fritz Cremer, ist zu kurz geraten für die Leiche, weil Cremer nicht nachgemessen hat. Nach einem Monolog des Serienmörders Wolfgang Schmidt („Rosa Riese“) folgt zum Schluss noch das Auschwitz-Requiem (Kaddish in hebräischer Sprache). Mit dem dunkelstem Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts wollte Raskatov seine Oper jedoch nicht beenden. Eine dunkle Aussicht auf die Gegenwart oder die Zukunft folgte in Form des durch das Weltall fliegenden Juri Gagarin. Seine berühmten Worte „Dunkel ist der Weltraum. Sehr dunkel!“ beenden diese neue Oper sehr pessimistisch.

Raskatov, der übrigens am 9. März 1953 in Moskau geboren wurde – an dem Tag, an dem Stalin auf dem Roten Platz beigesetzt wurde –schuf dafür eine Musik, die nicht leicht einzuordnen ist. Der Einfluss von Mussorgsky, Prokofjew und Schostakowitsch ist unüberhörbar, aber auch die Musiksprache Alfred Schnittkes, Alban Bergs und Anton Weberns klingt durch. Sehr raffiniert baut Raskatov andere Musikelemente in seine Musik ein. Wenn Hitler von Walhall träumt,dann spielen die Posaunen natürlich das Walhall-Motiv aus Wagners Ring, in Stalingrad wird zu einer verfremdeten Version von „Ich hatt‘ einen Kameraden“ gestorben und Stalin steigt zu den Klängen der „Internationale“ über Leichenberge. Aber insgesamt schuf Raskatov eine auch für Laien leicht fassliche Musik, die sich den jeweiligen Gegebenheiten anpasste. In der Brecht-Szene klingt seine Musik à la Kurt Weill, auch Jazzelemente dürfen nicht fehlen. Sogar Maschinengewehrsalven wurden durch stakkatoartige Bläsereinsätze komponiert.


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Das Bühnenbild von Magda Willi auf der Drehbühne besteht aus einem riesigen Kleider- und Leichenberg, wie man es von Fotos und Filmen über Auschwitz kennt. In düsteren Bildern hat John Fulljames diesen Horrortrip durch die Geschichte der letzten hundert Jahre in Szene gesetzt. Dirigent Alejo Pérez hat das bestens einstudierte Orchester der Opéra de Lyon, den Chor der Opéra de Lyon  und die 16 Sänger, die ungefähr 40Rollen zu bewältigen hatten, wie ein Feldherr sicher zusammengehalten. Aus dem Sängerensemble sind vor allem Sophie Desmars, Elena Vassilieva und Mairam Sokolova hervorzuheben, die koloraturgewaltig vor allem in den Partien der drei Soldatenwitwen beeindruckt haben. Aber auch Karl Laquit als Rosa Riese sowie jeweils in mehreren Partien Andrew Watts, Alexandre Pradier, Michael Gniffke, Boram Kim, Ville Rusanen, Piotr Micinski, Timothy Murphy, Didier Roussel, Brian Bruce und Gaetan Guilmin trugen zum Erfolg dieser Aufführung bei. Die wohl beeindruckendsteLeistung gelang Gennadi Bezzubenkov als Stalin. Mit seinem wohlklingenden basso cantante durfte er die tiefsten Basstiefen ausloten, war aber auch in für Bassisten ungewohnt hohen Registern gefordert. Dazu gelang ihm eine wirklich herrliche Karikatur des alkoholkranken Stalin, der wie ein gemütlicher Saufkumpan daherkommt, aber in Summe wahrscheinlich sogar noch mehr Menschen auf dem Gewissen hat als Hitler. Ich weiß nicht, ob jemals zuvor in einer Oper Hitler auf die Bühne gebracht worden ist. Raskatov hat sich wohl lange Gedanken darüber gemacht, mit welcher Stimmlage man Hitler wohl am besten charakterisieren kann. Da dieser Diktator wohl einzigartig war, hat Raskatov für ihn einen neuen Stimmtypus gefunden: den hysterischen Buffotenor. Und tatsächlich: diese Art von Gesang passte sehr gut zu Hitlers Rhetorik. James Kryshak, der 2013 – 2015 zum Ensemble der Wiener Staatsoper gehörte, gelang es in ausgezeichneter Weise Hitlers Wahnsinn stimmlich und darstellerisch überzeugend darzustellen. Aber auch ein namentlich nicht erwähnter Darsteller darf nicht unerwähnt bleiben: ein Schäferhund, der gleich in mehrere Rollen aufzutreten hatte. Egal ob er einen Wachhund an der Berliner Mauer oder Hitlers Lieblingshund Blondi oder den Hund, der vor Brechts Sarg lag, zu mimen hatte, er machte seine Sache sehr gut und wurde dafür am Ende beim Solovorhang mit mehr Applaus bedacht als so mancher Sänger. Und vom Dirigenten erhielt er als Belohnung ein paar Leckerlis.

Nach dem großen Erfolg der Uraufführung in Lyon darf man gespannt sein, welches Opernhaus im deutschsprachigen Raum als erstes den Mut aufbringen wird diese Oper nachzuspielen. Eine Wiederbegegnung wäre gerade in düsteren Zeiten wie diesen, wo sogar in Europa bereits wieder autokratische Staatsmänner an die Macht kommen, notwendig. Wie singt doch Hitler zu Stalin in der 5. Szene: „Wenn sie die Leichen zählen, deine und meine. Willkommen in der Hölle, Bolschewik. Sie werden wissen, was sie an uns hatten, wenn überall der Mensch den Menschen frisst!“

 

Walter Nowotny

 

 

 

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