Opéra de Lyon: Verdi-Festival- VERDI FESTIVAL : MACBETH, DON CARLOS, ATTILA (16.- bis 18.3.)
Seit mehr als zehn Jahren bietet die Oper von Lyon alljährlich im Frühling ein kleines Festival an, das entweder einem Komponisten (Janáček und seine Frauenfiguren, Offenbach, Kurt Weill von Berlin bis New York, Puccini und seine Zeitgenossen, Tschaikowsky und Puschkin, Mozart und Da Ponte, Benjamin Britten in drei Phasen seines Schaffens), einem Genre (Operneinakter), einem Land und seiner Kultur (Japan) oder einem bestimmten Thema (Recht und Ungerechtigkeit, Verlorene Helden, Geheimnisvolle Gärten, Menschlichkeit, Memories) gewidmet ist. Da die laufende Spielzeit unter dem Motto „Kriege und Könige“ steht, hat sich da ein Festival mit Opern von Giuseppe Verdi wohl aufgedrängt. Und aus den vielen Werken des italienischen Meisters, die für dieses Thema geeignet wären, hat Intendant Serge Dorny drei Opern ausgewählt, in denen es vor allem um Macht und Machtkämpfe geht: „Macbeth“, „Don Carlos“ und „Attila“.
„MACBETH“ – Opéra de Lyon, 16.3.
Eröffnet wurde das Festival mit der Wiederaufnahme der „Macbeth“ Produktion von Ivo van Hove aus dem Jahr 2012. Der Regisseur hat seine Inszenierung als Reaktion auf die weltweite Banken- und Finanzkrise geschaffen. Der Regisseur wollte aufzeigen, dass die Machtbesessenheit des Ehepaares Macbeth in jeden Kontext passt. Die Oper spielt hier im Finanzmilieu, in einem Wolkenkratzer an der Wall Street in New York, wo die Wirtschaft die Politik beherrscht. Die Macht liegt heute nicht mehr in den Händen der Politiker, die Finanz- und Geschäftswelt beherrscht die Politik. Die Hexen treffen sich hier nicht im Wald oder reiten auf Besen, die Hexen sitzen an den Schalthebeln der Macht (Achtung, Männer: Die Hexen unserer Zeit sind die Kolleginnen im Büro!). Und was in der Oper die Flüchtlinge und die politischen Gegner sind, das ist in dieser Produktion die „Occupy Wall Street“-Bewegung. Deren Demonstrationsplakate ersetzen die Zweige des Walds von Birnam.
Die gesamte Handlung spielt sich daher in einem neonbeleuchteten Großraumbüro, hoch oben in einem Wolkenkratzer in New York ab, dutzende Mitarbeiter in einem Raum, jeder vor seinem Bildschirm, auf dem Börsenkurse oder Ähnliches verfolgt werden. Aus dem Beobachten der Veränderung der Aktienkurse leiten die Hexen (= Finanzberaterinnen) ihre Orakelsprüche ab, die das Schicksal einzelner Personen oder ganzer Nationen entscheiden. Die obere Hälfte des Bühnenbildes von Jan Versweyveld besteht aus einer Leinwand, auf der man abwechselnd die nächtliche Silhouette von New York oder (wie im Film „The Matrix“) leuchtende Ziffernfolgen auf die Bühne einstürzen sieht, aber auch weitere Einblicke in andere Stockwerke des Wolkenkratzers erhält, wenn z.B. Duncan im Penthouse und Banquo in der Tiefgarage ermordet werden (die Mörder Banquos sind selbstverständlich Kollegen, die einen unliebsamen Konkurrenten beseitigen). Beide Morde sieht der Zuseher wie durch das Negativ eines Schwarz-Weiß-Filmes (Video: Tal Yarden). Auch die Kommunikationsunfähigkeit zwischen den Menschen und speziell zwischen Eheleuten wird hier aufs Korn genommen, wenn Macbeth seiner Lady die Neuigkeiten vom Handy aus per SMS sendet und sie diese auf dem I-Pad liest, obwohl sich beide im selben Raum befinden und dabei ansehen. Macbeth ist auch Zeuge der Nachtwandelszene und erwürgt anschließend seine Frau, während er seine Arie „Pietà, rispetto, amore“ singt. Auch die auf der Straße demonstrierenden Menschen der „Occupy Wall Street“-Bewegung werden immer wieder eingeblendet. Die schwarze Putzfrau, die in diesem Büro sicher auf der untersten Stufe der Angestelltenhierarchie steht, solidarisiert sich am Ende mit der Protestbewegung, öffnet den Demonstranten die Türen und ermöglicht es ihnen dadurch das Büro zu besetzen. Macbeth stirbt am Schluss nicht. Er sitzt geistesabwesend herum und erhält wie ein Obdachloser eine Armensuppe serviert. Übernehmen nun die Demonstranten die Macht? Wird dadurch die Welt besser? Fragen, die diese Inszenierung nicht mehr beantwortet.
Stimmlich war an diesem Abend nicht alles einwandfrei, aber an den Besetzungen für Verdis „Macbeth“ (gespielt wurde, wie fast überall, die Pariser Fassung aus dem Jahr 1865) scheitern heutzutage auch größere Opernhäuser. Am besten gefiel noch Elchin Azizov (der 2012 im Theater an der Wien in Tschaikowskys „Jolantha“ zu sehen war) in der Titelpartie. Er gestaltete seine Rolle sehr klug und eindrucksvoll, sein Bariton klang jedoch sehr trocken. Susanna Branchini gefiel zwar darstellerisch als Lady Macbeth, vokal fiel sie jedoch mit ihrer messerscharfen Stimme und Intonationsproblemen sowie einem missglückten Versuch, am Ende der Nachtwandelszene das hohe D zu erreichen, sehr ab. Roberto Scandiuzzi als Banquo hatte an diesem Abend Mühe das Tremolo seiner voluminösen Bass-Stimme unter Kontrolle zu bringen, bewies aber mit seiner hohen Phrasierungskunst, dass er zu Recht zu den besten Bassisten der letzten drei Jahrzehnte zählt. Arseny Yakovlev besitzt einen sehr schön timbrierten Tenor, war aber mit seiner Arie „Ah, la paterna mano“ völlig überfordert. Großartig hingegen der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Marco Ozbic), der hier auch szenisch gefordert war.
„DON CARLOS“ – Opéra de Lyon, 17.3.
Interessant war die Neuinszenierung des „Don Carlos“ allein schon aus dem Grund, dass erstmals die komplette französische Fassung in Frankreich aufgeführt wurde. In Wien (in der Konwitschny-Produktion) wurde ja die Fassung gespielt, die am 11.3.1867 an der Pariser Oper zur Uraufführung gelangt ist. Hier in Lyon hat man sich jedoch dazu entschieden jene Fassung zu spielen, die bei der Generalprobe 1867 gespielt wurde, Verdi musste ja zwischen Generalprobe und Premiere wegen der Überlänge Striche vornehmen, Und tatsächlich ist die musikalische Qualität einiger dieser Striche so vorzüglich, dass die Wiedereingliederung gewiss gerechtfertigt ist.
Autodafe-Szene. Copyright: Jean-Louis Fernandez
Gespannt war man auf die erst vierte Operninszenierung des Filmregisseurs Christophe Honoré. Seine Produktionen von „Pelléas et Mélisande“ in Lyon und „Cosi fan tutte“ beim Festival von Aix-en-Provence zählen für mich zu den spannendsten und besten Musiktheaterinszenierungen der letzten Jahre. (Leider habe ich seine erste Operninszenierung, „Dialogues des Carmélites“ in Lyon, nicht gesehen.) Aber leider konnte er diesmal die hohen in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Dabei begann alles noch ganz gut. In dunklen Räumen mit schwarzem Hintergrund, verschiebbaren Wänden und Treppen sowie herabhängenden Vorhängen und nur mit den notwendigsten Requisiten, wie z.B. nur ein Lagerfeuer für den Fontainebleau-Akt, ein überdimensionales Gemälde des gekreuzigten Jesus (ergänzt in der letzten Szene noch durch ein überdimensionales Bild der Mutter Maria – als Symbol für den geopferten Carlos und die trauernde Elisabeth?) für das Kloster St. Just etc. (Bühnenbild: Alban Ho Van) begann die Handlung noch ganz traditionell, obwohl Honoré seine Protagonisten in einem Mix aus historisierenden und zeitgenössischen Kostümen (von Pascaline Chavanne) auftreten lässt. Die Darstellung der Einsamkeit, der Zerrissenheit und der Verzweiflung der handelnden Personen gelang recht glaubhaft. Es gab aber schon von Beginn an einige unlogische und störende Einfälle, z.B. dass die Prinzessin Eboli im Rollstuhl sitzt, aber der erste eklatante Abfall folgte dann mit dem Ballett beim Maskenball. Das wurde als Swingerparty inszeniert, wobei es zu angedeutetem Sex zwischen einem heterosexuellen und einem homosexuellen Paar kommt. Einfach nur peinlich geriet dann das Autodafé. In einem zweistöckigen Haus mussten sich Solisten und Chor auf engstem Raum zusammendrängen (das Volk im Parterre, die Solisten im 1. Stock und die Mönche im 2. Stock). Vier Delinquenten (die vier Tänzer, die zuvor Sex auf der Party hatten) wurden hochgezogen und am Ende wurde ein brennender Balken herabgelassen. Während des Vorspiels zu seiner Arie wird König Philipp von Eboli der Rücken eingeschmiert (hat sie ihn vorher ausgepeitscht oder hat er sich selbst gegeißelt?).
Wesentlich besser war es diesmal jedoch um die stimmliche Komponente bestellt. Michele Pertusi sang den König Philipp mit seiner schön timbrierten Bass-Stimme und beeindruckenden Tiefen, blieb aber der Figur so einiges an Ausdruck und Persönlichkeit schuldig. Der russische Tenor Sergey Romanovsky machte auch mit nacktem Oberkörper gute Figur und konnte sich nach einem schwachen Start mit seiner hell timbrierten, mehr lyrischen als dramatischen Stimme doch noch zu einer beachtlichen Interpretation des Titelhelden steigern. Sensationell geriet das Rollendebüt von Stéphane Degout als Marquis Posa. Seit mehr als 20 Jahren habe ich keinen so schönstimmigen, so schön phrasierenden, so schön gestaltenden Posa mehr erlebt. Zu Recht erhielt er am Schluss den größten Jubel. (Ich fürchte aber, dass sein Stimmvolumen nicht ausreichen wird diese Partie auch an größeren Häusern singen zu können.) Seine schwache Gesangsleistung vom Vorabend vergessen machen konnte Roberto Scandiuzzi an diesem Abend als Großinquisitor. Er war mit seinem schwarzen Bass ein guter Kontrast zum eher hellstimmigen Pertusi und als Figur zeigte er dem König, in wessen Händen die Macht liegt, nämlich in den seinen. Das Duett der Bässe geriet zu einem der Höhepunkte des Abends. Sally Matthews kämpfte als Elisabeth de Valois zu Beginn des Abends mit einem starken Vibrato in ihrer Stimme, das sie jedoch im Laufe des Abends in den Griff bekommen hat. Somit konnte auch sie sich noch zu einer eindrucksvollen Leistung steigern. Und noch von einer zweiten Sensation ist zu berichten, nämlich von der fulminanten Eboli der Eve-Maud Hubeaux. Wann hört man heute ein Eboli, die beide Arien perfekt singen kann, noch dazu mit so einer schön timbrierten Stimme. Im Schleierlied perlten die Koloraturen perfekt und auch im „O don fatale“ hatte sie keinerlei Schwierigkeiten. Mit perfekt verblendeten Registern, genügend Stimmvolumen in allen Lagen und einem strahlenden Spitzenton am Schluss erntete sie zu Recht am Schluss einen Jubelorkan. Von den Nebenpartien ist vor allem Jeanne Mendoche als schönstimmiger Thibault hervorzuheben. Großartig wie bereits am Vorabend war der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Denis Comtet).
„ATTILA“ – Auditorium de Lyon, 18.3.2018
Zu einem wahren Stimmfest geriet die konzertante Aufführung der neunten Verdi-Oper, die am 17. März 1846 im Teatro Le Fenice in Venedig uraufgeführt wurde. In dieser Oper geht es um den Widerstand der Römer gegen die einfallenden Hunnen, und natürlich verstand das Publikum die politische Aussage des Stückes, war doch zum Zeitpunkt der Uraufführung Venedig von den Österreichern besetzt. Als der römische Feldherr Ezio zu Attila sang: „Avrai tu l’universo, resti l’Italia a me.“ („Du magst das Universum haben, doch überlass Italien mir.“) kam es während der Vorstellung zu Kundgebungen.
„Macbeth“. Copyright: Stofleth
Man kann heute nur noch erahnen, welch großartige Sänger Verdi damals zur Verfügung gestanden sein mussten wie z.B. Sophie Loewe, eine Nichte des Komponisten Carl Loewe. Diese Sopranistin sang nicht nur die Elvira in der Uraufführung von Verdis „Ernani“, sondern auch die Odabella in der Uraufführung des „Attila“. (Verdi komponierte auch noch eine Zusatzarie für seine Oper „Giovanna d’Arco“ speziell für sie.) Ihr Tonumfang sowie ihre zwischen Belcanto und Dramatik geforderte Virtuosität muss einzigartig gewesen sein. Deshalb ist es in unserer Zeit auch sehr schwer geeignete Sängerinnen für diese Partien zu finden, doch die Oper von Lyon hat eine ideale Interpretin für die Odabella gefunden: Tatiana Serjan kann die zartesten Töne anstimmen, aber auch bei den dramatischsten Stellen oder in den exponiertesten Lagen wird ihre Stimme nie scharf oder schrill, in allen Lagen singt sie mit warmen und leicht abgedunkeltem Ton und auch die gefürchteten Intervallsprünge bereiten ihr keine Schwierigkeiten. Wenn man ihr so zuhört, könnte man meinen diese Partie wäre überhaupt nicht schwierig. Bravo! An ihrer Seite konnte der russische Bassist Dmitry Ulyanov als angriffslustiger Attila unter Beweis stellen, dass er nicht nur im russischen Fach (zuletzt konnte man ihn als Boris in „Lady Macbeth von Mzensk“ bei den Salzburger Festspielen und als General in Prokofjews „Der Spieler“ an der Wiener Staatsoper bewundern), sondern auch im italienischen Fach mit seiner schönen Stimme reüssieren kann. Dritter im Bunde war der italienische Tenor Massimo Giordano als Foresto, der sich im Gegensatz zu manch Abenden an der Wiener Staatsoper hier in ausgeruhter Stimmverfassung präsentierte und bereits von Anfang an mit klarem Ton, schöner Phrasierung, guter Atemtechnik und starkem Ausdruck überraschte. Alexey Markov verfügt zwar über einen sehr schön timbrierten, lyrischen Bariton, allerdings klingt die Stimme in der Höhe etwas flach. Und wenn man, so wie ich, 14 Vorstellungen dieser Oper mit Piero Cappuccilli gesehen hat, der mit Aplomb den Ezio gesungen und am Ende der Cabaletta immer auf das hohe B gesungen hat und durch den nicht enden wollenden Jubel gezwungen war, die Cabaletta auch noch zu wiederholen, dann war die sehr ordentliche stimmliche Leistung des russischen Baritons natürlich zu wenig. Sehr homogen war wieder der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Barbara Kler).
Daniele Rustioni: Blandine Soulage Rocca
Unangefochtener Star aller drei Abende war aber der erst 34-jährige Mailänder Daniele Rustioni. Sehr souverän, sehr temperamentvoll, sehr stilsicher lenkte er das von ihm bestens einstudierte Orchester der Opéra de Lyon durch die drei Opern. Er arbeitete die feinen Farben der jeweiligen Partitur heraus, steigerte die Tempi in aufregender Weise. Spannung und Leidenschaft – so lassen sich vielleicht seine Dirigate mit nur zwei Worten am besten charakterisieren. Nicht einmal bei den dramatischsten Momenten deckte er die Sänger zu, hob liebevoll schön ausgeführte Orchestersoli hervor, war jederzeit in der Lage Chor, Solisten und Orchester bestens zu koordinieren. Dieses Verdi-Festival war bestimmt auch ein Einstandsgeschenk von Serge Dorny an Rustioni, der seit Beginn dieser Spielzeit der neue musikalische Leiter der Opéra de Lyon ist (als Nachfolger von Kazushi Ono). Jedes Opernhaus der Welt müsste sich glücklich schätzen einen solchen Verdi-Dirigenten an der Hand zu haben. Es würde mich nicht wundern, wenn Serge Dorny ihn 2022 nach München engagieren würde, wenn dieser dann das Amt des Intendanten der Bayerischen Staatsoper als Nachfolger von Nikolaus Bachler antreten wird.
Mit dieser fulminanten „Attila“-Aufführung wurde das diesjährige Verdi-Festival abgeschlossen. Im nächsten Jahr wartet das Festival wieder mit einem etwas anspruchsvollerem Programm auf: Unter dem Titel „Leben und Schicksale“ soll das Leben und das Schicksal von drei unterschiedlichen Frauen gegenübergestellt werden. Der ukrainische Regisseur Andrij Scholdak inszeniert Tschaikowskys „Die Zauberin“ (zugleich die französische Erstaufführung dieser Oper), David Marton inszeniert unter dem Titel „Ein Dido und Aeneas“ Henry Purcells Oper über das Schicksal der karthagischen Königin (mit musikalischen Ergänzungen des Jazzgitarristen Kalle Kalima) und William Kentridge wird mit Einsatz von Marionetten Penelopes Schicksal in Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“ in Szene setzen. Und ich bin sicher, dass das weltoffene und neugierige Publikum in Lyon (52% der Besucher sind unter 45 und 25% der Besucher sind sogar unter 26 Jahren!) auch dieses Festival stürmen wird.
Walter Nowotny