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LYON/ Opéra de: SHIRINE von Thierry Escaich

Opéra de Lyon: „SHIRINE“ – Opéra  2.5.2022

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Copyright: Jean Louis Fernandez

 „Wir bemühen uns jedes Jahr ein neues Werk herauszubringen …  Man kann nicht nur von der Vergangenheit leben. Man muss die Vergangenheit nutzen und gleichzeitig die Tore für die Zukunft öffnen. Man kann also nicht nur die Opern der Vergangenheit spielen sondern muss auch Aufträge für neue Werke erteilen. Seit Monteverdis „L’Orfeo“ wurden ca. 50.000 bis 60.000 Opern geschrieben. Einen Großteil dieser Opern verdanken wir dem Mut, den einige Personen hatten um diese Opern in Auftrag zu geben. Wenn die Menschen der Zukunft in unsere Zeit zurückblicken werden, dann sollen sie feststellen, dass auch 2014 oder 2015 eine interessante Zeit war, in der große Werke hervorgebracht wurden. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen in der Vergangenheit ein größeres Bewusstsein hatten für nachhaltige Entwicklungen als heute, dass man an die Zukunft gedacht hat. Und ich habe den Eindruck, dass wir diese Zukunftsorientierung verloren haben. Ich glaube, dass wir so egoistisch geworden sind und nicht mehr an zukünftige Generationen denken. Man muss etwas zurückgeben, nicht nur nehmen. Es wird einen Moment geben, wo man nicht mehr nehmen kann, weil wir schon alles genommen haben. Das ist jedoch das Phantastische an der Kunst, man kann immer mehr geben als man nimmt.“

Das hat Serge Dorny, der ehemalige Intendant der Opéra de Lyon und nunmehrige Generalintendant der Bayerischen Staatsoper München, in einem Interview im Dezember 2014 zu mir gesagt. Und tatsächlich: kaum ein anderes Opernhaus in Europa bringt so viele neue Opern heraus, sei es als Uraufführung oder auch nachgespielt nach der Uraufführung in einem anderen Opernhaus. Eines der größten Erfolge auf diesem Gebiet war 2013 die Uraufführung der ersten Oper des französischen Komponisten Thierry Escaich. Die Oper „Claude“ wurde trotz eines sehr problembehafteten Inhalts (Homosexualität und Gewalt in einem Männergefängnis, Schikanen der Gefangenen durch die Wächter, Vollzug der Todesstrafe) zu einem großen Publikumserfolg. Das Libretto stammte von dem ehemaligen französischen Justizminister Robert Badinter, der 1981 die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich durchgesetzt und zudem die dortige gesetzliche Diskriminierung von Homosexuellen beendet hatte. Die Handlung basierte auf Victor Hugos 1834 erschienener Erzählung „Claude Gueux“, in der der Autor die Todesstrafe anprangert, die zu dieser Zeit vor allem sozial Benachteiligte getroffen hat, und den Gerichtsakten des historischen Falles, auf den sich Hugo stützte. (Eine Aufzeichnung dieser Aufführung ist übrigens bei Bel Aires Classiques als DVD erschienen.)

Der 1965 geborene Thierry Escaich hat inzwischen eine bedeutende Stellung im französischen und internationalen Musikleben, als Organist der Kirche St. Etienne du Mont, als Improvisator und selbstverständlich als Komponist. Insbesondere seine drei Orgelkonzerte wurden auf der ganzen Welt aufgeführt. In Österreich ist er noch recht unbekannt, das wird sich aber sicher bald ändern, wird doch bei den Salzburger Osterfestspielen 2023 sein neues Werk für Violoncello und Orchester aufgeführt werden. Die Idee, eine zweite Oper zu komponieren, hatte Thierry Escaich während der Proben zu „Claude“. Er schuf dabei ein Werk, das einen Kontrast zu „Claude“ bildet: Nach der realistischen Gefängniswelt sollte es nun eine Märchen- und Sagenwelt sein: Chosrau und Schirin, eine von vielen Dichtern bearbeitete Liebesgeschichte, die ihre Vollendung im um 1200 entstandenen bekannten Epos des persischen Dichters Nezami fand, und die der französisch-afghanische Schriftsteller und Kinomacher Atiq Rahimi übersetzt und zum Libretto umgearbeitet hatte. Die Oper „Shirine“ erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen dem Perserkönig Chosrau und Schirin, einer christlichen Prinzessin aus Armenien: Ein Epos mit sehr starken Bildern, das sich über drei Generationen erstreckt, unzählige Begebenheiten und überraschende Wendungen enthält und unter dem Zeichen von Verwünschung und Tod steht.

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Foto: Jean-Louis Fernandez

Die Uraufführung sollte im Mai 2020 in einer Inszenierung von Richard Brunel an der Opéra de Lyon stattfinden. Doch dann kam die Pandemie… In der Zwischenzeit hat Dorny nach München gewechselt und Richard Brunel folgte Dorny als Intendant der Opéra de Lyon nach. Es ehrt den neuen Intendanten, dass er die Auftragsoper seines Vorgängers nun doch mit zweijähriger Verspätung zur Uraufführung gebracht hat und dabei auch noch selbst Regie geführt hat.

Die Musik von Thierry Escaich ist kraftvoll und wirkt unmittelbar. Man kann in „Shirine“ eine ganz neue Dimension der Kunst von Escaich erkennen: Überirdische Melodien, Farben, die von der traditionellen und neu entwickelten iranischen Musik inspiriert wurden. Dazu hat der Komponist das traditionelle Opernorchester um einige orientalische Instrumente erweitert, wie z.B. eine Nay (eine persische Rohrflöte), eine Duduk (das armenische Nationalinstrument, ein Holzblasinstrument mit einem extrem großen Doppelrohrblatt) und ein Kanun (eine orientalische griffbrettlose Kastenzither).

Zu Beginn stehen der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Denis Comtet) und die Solisten in farbenprächtigen persischen Gewändern der Gegenwart (Kostüme: Wojciech Dziedzic) in einer Reihe aufgestellt. Langsam treten sieben Frauen vor, deren Münder zugenäht sind. Auch im Hintergrund sieht man in Großaufnahme den zugenähten Mund einer Frau. Shirine ist eine selbstbewusste, moderne Frau, die über ihr Leben, auch über ihr Liebesleben selbst bestimmt. Es ist von Anfang an klar, dass Regisseur Brunel uns hier nicht eine „Romeo und Julia“-Geschichte aus 1001 Nacht im Zeffirelli-Stil präsentieren wird. Er hat die Geschichte der Feministin Schirin in die Gegenwart geholt. Und zweifelsfrei ist es sogar in unserer Zeit im Iran wohl noch immer kaum möglich als Frau ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Den islamischen Machthabern im heutigen Iran ist die Geschichte von der selbstbewussten Prinzessin Schirin derart ein Dorn im Auge, dass sie vor ein paar Jahren sogar die Wiederveröffentlichung des Epos‘ aus dem 12. Jahrhundert verboten haben! (Die Geschichte spielt in der vorislamischen Zeit in Persien, König Chosrau II. war der letzte Großkönig der Sassaniden; er regierte von 590 bis zu seiner Ermordung im Jahr 628.)

Das Bühnenbild auf der Drehbühne von Étienne Pluss wirkt wie ein aufgeschlagenes Buch, das im Verlauf des Abends mit Projektionen gefüllt wird. In zwölf Bildern wird die Handlung erzählt und kommentiert.

Jeanne Gérard war mit ihrem klaren Sopran eine überzeugende Shirine, die sich aufgrund eines gemalten Porträts in den persischen Prinzen (und späteren König) Khosrow verliebt.

Julien Behr sang mit seinem schmelzreichen Tenor Khosrow, der erst nach dem Tod im Grab mit Shirine vereint wurde. Der introvertierte Maler Chapour, der jenes Porträt schuf (in dieser Inszenierung ist er jedoch ein Photograph), sich aber dann auch in Shirine verliebte, wurde von dem sehr ausdrucksstarkem Bariton Jean-Sébastien Bou verkörpert, der bereits 2013 in der Uraufführung der Oper „Claude“ von Escaich in der  Titelrolle beeindruckt hatte.  Majdouline Zerari sang mit sattem Mezzosopran die armenische Königin Chamira. Der Counter-Tenor Théophile Alexandre als das Tal der Unsterblichkeit suchende Nakissâ und der Bass-Bariton Laurent Alvaro (auch er gehörte zur Besetzung der Uraufführung von Escaichs „Claude“) als den Ozean der Ewigkeit suchende Bârbad beginnen im Prolog die Geschichte zu erzählen. Florent Karrer war mit seinem virilen Bariton der Bildhauer Farhâd, dem sich Shirine hingibt. Als es endlich ein Happy-End geben könnte und Khosrow und Shirine zusammenfinden, löst Khosrows Sohn Chiroya (gesungen von Stephen Mills) die Katastrophe aus. Da auch er sich in Shirine verliebt hat, tötet er den eigenen Vater, worauf Shirine Selbstmord begeht.

Der Dirigent Franck Ollu hat das Orchester der Opéra de Lyon bestens einstudiert und ließ die Partitur farbenprächtig erblühen.

Das Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben der Frauen ist beim Publikum angekommen. Langanhaltender Applaus und viel Jubel für den Komponisten, das Leading Team und die Solisten.

Walter Nowotny

 

 

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