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LYON/ Opéra de Lyon: LA DAMNATION DE FAUST

20.10.2015 | Allgemein, Oper

Lyon: „LA DAMNATION DE FAUST“ – Opéra de Lyon, 18.10.2015

Einer zuviel im Bett - Kate Aldrich als Marguerite, Charles Workman als Faust und Laurent Naouri als Méphistophélès
Einer zuviel im Bett: Kate Aldrich (Marguerite), Charles Workman (Faust) und Laurent Naourie (Méphistofèlés). Foto: Stofleht

Der Misserfolg des „Benvenuto Cellini“ hatte Hector Berlioz äußerst vorsichtig gegenüber neuen Opernplänen gemacht. So war die erste Auseinandersetzung mit dem „Faust“-Stoff von Goethe eine Sinfonie mit dem Untertitel „Acht Faust-Szenen“, die Berlioz 1829 drucken ließ – später aber wieder zurückzog. 1845-46 wandelte er diese Komposition in sein Opus 24, „La damnation de Faust“ um, wobei er selbst das Libretto verfasste. Er bezeichnete das Werk als dramatische Legende in vier Teilen. Die Uraufführung fand in konzertanter Form am 6. Dezember 1846 im Pariser Salle Favart (Opéra-Comique) unter der Leitung des Komponisten statt. Die völlig verunglückte Aufführung endete für Berlioz in einem finanziellen Desaster und stürzte ihn sowohl in hohe Schulden als auch in eine künstlerische Krise. Resigniert musste Berlioz feststellen, dass seinem Werk nur wenig Erfolg beschieden war. Nach einer zweiten Aufführung am 12. Dezember desselben Jahres, die den Misserfolg noch steigerte, wurde das Werk in Paris zu Berlioz‘ Lebzeiten nicht wieder aufgeführt. Er selbst dirigierte jedoch das Werk oft im Ausland, bereits 1847 in Moskau, St. Petersburg und Berlin und ein Jahr später in London sowie am 16. Dezember 1866 in Wien.

Das Werk war von Berlioz nie für eine szenische Aufführung gedacht gewesen. Insbesondere der letzte Teil mit seinen surrealen, sich vielschichtig überlagernden Realitätsebenen, hätte die Bühnentechnik zu Berlioz‘ Lebzeiten noch überfordert. Erst 24 Jahre nach seinem Tod, am 18. Februar 1893 wagte der Direktor der Opéra de Monaco, Raoul Gunsbourg, eine szenische Erstaufführung im Salle Garnier (Monte Carlo), für die er mehrere Szenenumstellungen vornahm und einzelne, nicht realisierbare Teile gänzlich strich. Heute reißen sich die Regisseure geradezu um diese in der Zwischenzeit als Meisterwerk anerkannte Komposition, die eine Mischung aus Oratorium und Oper ist. Mir sind zumindest vier ganz ausgezeichnete Produktionen in guter Erinnerung: die beste Inszenierung war meiner Meinung nach jene von Olivier Py am Grand Théâtre de Genève (2003/2008), aber auch die Produktionen von La Fura dels Baus bei den Salzburger Festspielen (1999), von Thomas Langhoff in München (1993) und von Robert Lepage an der Pariser Oper (2001/2004/2006; diese Produktion wurde später auch an der Metropolitan Opera in New York gezeigt) waren beeindruckend. In Wien wurde das Werk 1969 an der Volksoper in einer Inszenierung von Adolf Rott und unter der musikalischen Leitung von Carl Melles mit Christiane Sorell als Margarethe, Frans van Daalen als Faust und Ernst Gutstein als Mephisto gezeigt. Seither hat man das Werk in Wien nur noch konzertant erleben können.

An der Opéra de Lyon konnte man „La damnation de Faust“ bereits 1973, 1978, 1987 und 1994 sehen. Nun widmete sich der junge Regisseur David Marton hier in seiner erst dritten Operninszenierung (nach „Capriccio“ von Richard Strauss und Glucks „Orpheus“) diesem Werk in einer Neuinszenierung. Bei ihm spielt die Oper weder in Ungarn noch in Deutschland, wie es das Libretto vorsieht, sondern irgendwo in Amerika. In einer Landschaft, die für den Südwesten der USA so typisch ist, steht eine unfertige Autobahn. (Ist die Autobahn noch nicht fertig und zerfällt bereits oder wurde sie zerstört? Hier gibt es auch Parallelen zur Orpheus-Inszenierung von David Marton. Dort gab es ja ein unfertiges Haus, das bereits begann im Sand zu versinken.) Offensichtlich kann die Bevölkerung die Fertigstellung kaum noch erwarten, die sie dann möglicherweise mit der großen Welt verbinden wird, denn zum berühmten Rákóczy-Marsch üben die Kinder bereits die feierliche Einweihung der Autobahn. Im ersten Teil steht links unter der Brücke ein lebendes Pferd (man hat dem braven Tier wenigstens Heu zum Fressen hingelegt), auf der rechten Seite steht ein Pick-Up, ein für den Westen Amerikas so typisches Auto. Am Ende des ersten Teiles seziert Faust (er ist ja immerhin Doktor) vor Studenten eine Leiche (oder operiert er einen Patienten?).

Im zweiten Teil ist das Bühnenbild aus dem 1. Teil von Christian Friedländer nun mit riesigen weißen Laken verhüllt. Der Chor ist genauso wie Méphistophélès mit einem schwarzen Mantel samt Melone bekleidet (das Ganze erinnert sehr an die Melonenmänner von René Magritte). Das dürfte wohl die wichtigste Aussage der Inszenierung sein. Der Teufel oder das Böse sticht nicht aus der Menge hervor. Méphistophélès sieht aus wie jeder andere. Das Böse ist unter uns oder in jedem von uns steckt etwas Böses. Die Handlung wurde auch mehrmals unterbrochen, um gesprochene Dialoge, die sich zwischen Faust und Méphistophélès (auf Französisch) bzw. zwischen Faust und Marguerite (auf Englisch) im Auto abspielten. Bei diesen Szenen wurde man an Kinofilme der Fünfziger- oder Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts erinnert.

Der höhensichere und kräftige Tenor von Charles Workman mit seinem „weißen“ Timbre eignet sich ganz hervorragend für den Faust. Er ist auch darstellerisch in allen Stationen seines Lebens glaubhaft und überzeugend. Der dunkel timbrierte Mezzosopran von Kate Aldrich war da ein guter Kontrast dazu. Sie sang die Marguerite und vor allem ihr „D’amour l’ardente flamme“ mit betörender Sinnlichkeit. René Schirrer war als nicht mehr junger Brander zufriedenstellend. Umwerfend war Laurent Naouri als eleganter Méphistophélès, der nicht nur mit seinem mächtigen Bassbariton stimmlich glänzte. Diesem einschmeichelnden Teufel wäre wohl jeder auf den Leim gegangen. Die beste Szene war der Höllenritt, wenn er Faust auf die Ladefläche des Pick-up verfrachtet, sich hinter das Lenkrad setzt (und der Zuseher auf Riesenleinwand die Wüstenlandschaften der USA im Hintergrund vorbeiziehen sieht), er das Autoradio aufdreht und mit schelmischem Blick begeistert den himmlischen Chor mitsingt. Einmalig, unvergesslich! Méphistophélès liefert Faust in der Hölle ab, wo er zuerst wie eine Leiche in einer Leichenhalle mit einem Nummernschild an den Zehen aufgebahrt und dann „umfunktioniert“ wird. Am Ende wird der seelenlose Faust mit einem schwarzen Mantel und einer schwarzen Melone ausstaffiert und wartet, wohl um als Botschafter des Bösen in die Welt hinauszugehen, so wie viele Helferleins des Teufels schon auf der Erde unterwegs sind. Méphistophélès, der jedoch mit Faust fertig ist, verlässt die Oper. Via Großbildschirm sieht man, wie er am Inspizienten vorbeigeht, durch das Opernhaus geht, schließlich das Haus verlässt und sich unter die Menschen vor dem Rathaus im nächtlichen Lyon mischt, wohl auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.

Der Star des Abends war jedoch der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Philip White), dem wohl aus dramaturgischen Gründen auch einige Gesangspassagen anvertraut waren, die Berlioz für die Gesangssolisten komponiert hat; der Chor sang klangschön und homogen und wurde im Finale unterstützt vom Kinderchor der Opéra de Lyon.

Kazushi Ono am Pult des Orchesters der Opéra de Lyon (großartig vor allem die Holzbläser) gelang eine präzise Realisation der Partitur, nicht nur in den vielen orchestralen Teilen (Rákóczy-Marsch, Ballett der Sylphen etc.) konnte er sich richtig austoben und das Orchester zu Höchstleistungen animieren.

Wie schon beim
„Orpheus“ hat man vielleicht nicht alles verstanden, was uns David Marton da präsentiert hat. Aber schon lange hat kein Regisseur einen Aspekt des „Faust“ von Goethe uns so nahegebracht wie er: das Böse ist unter uns oder möglicherweise sogar in uns drinnen.

Walter Nowotny

 

 

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