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LYON/ Opera de Lyon: GUILLAUME TELL

06.10.2019 | Allgemein, Oper


Copyright: Bertrand Stofleth

Lyon: „GUILLAUME TELL“– 5.10.2019

 Gioacchino Rossini beschloss im Alter von nur 36 Jahren seine Tätigkeit als Opernkomponist beenden zu wollen. Und „Guillaume Tell“, uraufgeführt am 3. August 1829 in der Académie Royale de Musique in Paris, war dann tatsächlich seine letzte Oper. Er war zu diesem Zeitpunkt finanziell unabhängig und auch musikalisch brachen neue Zeiten herein. Giacomo Meyerbeer war überaus erfolgreich auf dem Gebiet der „Grand opéra“ und so wollte Rossini dem Pariser Publikum beweisen, dass auch er in diesem Genre reüssieren kann. Seine bisherigen großen französischen Opern („Le siège de Corinthe“ und „Moise et Pharaon“) waren eigentlich nur Umarbeitungen früherer italienischer Werke („Maometto II.“ bzw. „Mosèin Egitto“). So wurde also „Guillaume Tell“ seine erste und einzige für das Pariser Publikum neukomponierte Grand opéra. Als Librettist wollte Rossini zuerst Eugène Scribe verpflichten, der für ihn schon das Textbuch für die komische Oper „Le comteOry“ verfasst hatte. Doch die beiden Stoffe, die Scribe vorschlug, sagten Rossini nicht zu („Gustave III.“ wurde dann von Daniel-Francois-Esprit Auber, später noch einmal von Giuseppe Verdi, und „La Juive“ von Jacques Fromenthal Halévy vertont). Und so entschied sich Rossini für das Libretto von Étienne de Jouy, das auf Schillers „Wilhelm Tell“ und auf Jean-Pierre Claris de Florians „Guillaume Tell ou la Suisse libre“ beruht und von Hippolyte Bis überarbeitet wurde. Es wurde Rossinis längste Oper und zweifelsfrei ein Meisterwerk. Sogar Richard Wagner bewunderte die Oper und meinte „Sie haben da eine Musik für alle Zeiten geschrieben.“

Der deutsche Regisseur Tobias Kratzer hat in den letzten Jahren die drei großen Meyerbeer-Opern inszeniert („Les Huguenots“ in Nürnberg und Nizza, „Le prophète“ in Karlsruhe und „L’Africaine“ in Frankfurt). Es lag also nahe, dass er sich auch einmal Rossinis „Guillaume Tell“ widmen wird. Nun konnte man seine Sichtweise auf diese Oper in der Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit der Opéra de Lyon erleben. Das Werk tritt vehement für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein und schließt mit einem mitreißenden Ruf nach Freiheit. Kratzer war somit nicht an den historischen Gegebenheiten interessiert. Es geht ihm vielmehr darum – losgelöst von zeitlichen oder örtlichen Vorgaben – aufzuzeigen, wie ein Kulturvolk um seine Selbstbehauptung kämpft und sich gegen Angriffe von außen durch Barbaren verteidigen muss.


Copyright: Bertrand Stofleth

Rainer Sellmaier hat dazu ein überaus eindrucksvolles Bühnenbild geschaffen. In der Mitte der Bühne ein weißes Konzertpodium, umrahmt von schwarzen Stühlen. Zu Beginn sieht man im Hintergrund eine riesige Schwarz-Weiß-Photographie einer Wolkenverhangenen Berglandschaft, die man so in der Schweiz vielleicht erwarten würde.  Immer dann, wenn entweder musikalisch (Hörner der Jagdgesellschaft) oder szenisch die barbarischen Habsburger ins Spiel kommen, beginnt auf diesem riesigen Foto von oben langsam schwarze Farbe herunter zu rinnen, wie bei einem Schüttbild von Hermann Nitsch. Einerseits wohl als Symbol für die Zerstörung der Natur gedacht, wird andererseits dadurch das Foto so raffiniert verändert, dass im 2. Akt, wenn Mathilde ihre berühmte Arie „Sombrefôret“ singt, die schwarzen Längsstreifen fast wirklich wie ein Wald von Bäumen aussieht. Bis zum Finale des 4. Aktes ist das Bild dann durchgängig schwarz: eine dunkle Aussicht für die Zukunft.

Tobias Kratzer zeigt also die Schweizer als schwarz gekleidetes, musikliebendes Kulturvolk (das Regiekonzept hat einen großen Vorteil: die Ballettszenen in der Choreographie von Demis Volpi werden dadurch in das dramaturgische Konzept eingebunden und wirken nicht – wie so oft – als Fremdkörper), während die habsburgischen Besatzer als unkultivierte Barbaren erscheinen, alle in weißer Unterwäsche mit schwarzer Melone, bewaffnet mit Baseballschlägern. Sie stören die musikalischen Veranstaltungen, zertrümmern Instrumente, erniedrigen die Menschen, schlagen auf sie ein, verschleppen sie, ermorden sie. Dem Chordirigenten Melcthal wird zuerst der Dirigentenstab zerbrochen, dann wird er misshandelt. Ihm wird ein Ohr abgeschnitten und mit dem abgebrochenen Dirigentenstab werden ihm die Augen ausgestochen, schließlich wird er ermordet. Ein Angriff gegen die Kunst als ultimatives Symbol für destruktive Barbarei. Es bleibt also dem Zuschauer überlassen, welche Assoziationen er damit verbindet. Obwohl weder braune Uniformen noch Hakenkreuze zu sehen waren, musste ich sofort an die Nazischergen der Dreißigerjahre denken, die bei Aufführungen (nicht nur, aber vor allem) jüdischer Künstler zuerst gestört und herumgepöbelt haben, sie dann mit Berufsverbot belegt haben, sie erniedrigt, vertrieben und zuletzt sogar vernichtet haben. Oder soll es eine Revolution von gewaltbereiten jungen Menschen gegen die Hochkultur der älteren Generation sein? Man kann das alles aber natürlich auch auf die Zukunft ausgerichtet sehen. Wir sind das musikliebende Kulturvolk, das jetzt von kulturlosen Zuwanderern bedroht wird. Kratzer begeht nicht den Fehler sich da festzulegen, er räumt dem Zuseher großen Interpretationsspielraum ein. Im Laufe des Abends werden die Zuschauer jedoch Zeugen, wie auch kultivierte Menschen zu Barbaren werden können, nur um ihre Freiheit und Unabhängigkeit erlangen zu können.

Bereits zu den ersten Takten der Ouvertüre sehen wir ein scheinbares Idyll: eine Cellospielerin und ein tanzendes Paar. Zu den Gewitterklängen des Mittelteils der Ouvertüre stürmt dann ein Schlägertrupp herein, der das Cello zertrümmert. Für den galoppartigen Schlussteil der Ouvertüre schließt sich wieder der Vorhang. Dann befinden wir uns zu Beginn des 1. Aktes in trauter Familienidylle im Hause Tell. Aber auch da ist nicht alles in Ordnung. Jemmy ist hier nämlich ein ca. 5-jähriger Junge, ein musikalisches Wunderkind, das schon Geige spielen kann. Den Gesangspart übernimmt seine erfundene Schwester, die aber vom Familienleben ausgeklammert wird. Eifersüchtig beobachtet sie, wie der kleine Bruder geliebt und verwöhnt wird, während sie nicht einmal am Mittagstisch sitzen darf. (Eine kleine Kritik an der Frauenfeindlichkeit der Schweizer? Das Frauenstimmrecht in der Schweiz wurde erst 1971 eingeführt. Die Schweiz war somit eines der letzten europäischen Länder, welche ihrer weiblichen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte einräumten.)

In der Rütlischwur-Szene verwandeln sich dann die musikliebenden Schweizer in Kämpfer. Die Unterwaldener erscheinen alle mit Streichinstrumenten, die Schwyzer mit Holzblasinstrumenten und die Bewohner des Kantons Uri mit Blechblasinstrumenten. Nur zusammen bilden sie ein starkes Orchester, einzeln vermögen sie nicht viel. Und so ist es auch im  Kampf gegen die Barbaren, der Einzelne vermag nichts, nur zusammen sind sie stark. Eindrucksvoll war allerdings, wie dann aus den Instrumenten Waffen geformt wurden (ein Fagott verbunden mit einer Cellozarge mutierte so zu Tells Armbrust).

Aber nicht alles kann als gelungen bezeichnet werden. In der berühmten Apfelschuss-Szene wird Jemmy von seiner Schwester weggestoßen, noch bevor Tell schießen kann. Allerdings wird dann der von einem Pfeil durchbohrte Apfel bewundert. Also diese Szene haben wir in vielen Produktionen schon besser gelöst erlebt.

Wenn am Ende nach dem Massaker an der Habsburgischen Schlägertruppe Familie Tell versucht das  idyllische Leben am Mittagstisch fortzusetzen, ist es doch nicht mehr so wie es früher war. Während fast alle die triumphale Hymne auf die Freiheit („Liberté“) anstimmen, läuft die Habsburgerin Mathilde davon. Der traumatisierte kleine Jemmy setzt sich die schwarze Melone des getöteten Gessler auf und blickttrotzig in Richtung  Zuschauerraum. Da muss man sich für die Zukunft und die nächste Generation fürchten. Gewalt gebiert Gewalt.


Copyright: Bertrand Stofleth

Uneingeschränkt zum Triumph wurde die Aufführung in musikalischer Hinsicht dank des Chefdirigenten Daniele Rustioni, der das Orchester der Opéra de Lyon bestens einstudiert und einen musikalischen Spannungsbogen aufgebaut hat, der nie zu erlahmen drohte. Die dynamischen Abstufungen waren für die Sänger perfekt, sodass keiner zum Forcieren gezwungen wurde. Gemeinsam mit dem homogenen und stimmstarken Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Johannes Knecht), dem auch szenisch einiges abverlangt wurde, gelang eine großartige Realisierung der letzten,nur wenig gekürzten, Opernpartitur Rossinis.

Nicola Alaimo ist allein von seiner Statur her schon ein eindrucksvoller Titelheld. Mit seinem samtweichen Bariton und schönem Legato beeindruckt er sehr; leider bereiteten ihm aber so manche Höhen Schwierigkeiten. John Osborn war wie bereits vor einem Jahr im Theater an der Wien auch hier mit kraftvollem Tenor, prächtiger Mittellage und sicheren Höhen eine Traumbesetzung des Arnold. Jane Archibald war wie im Theater an der Wienmit ihrem warmen Sopran eine ideale Mathilde, die mühelos die Koloraturen, die Verzierungen und die schnellen Läufe bewältigt. Sehr erfreulich war die Wiederbegegnung mit Enkelejda Shkosa, die vor 19 Jahren an der Wiener Staatsoper die Sara in der Premiere von Donizettis „Roberto Devereux“ gesungen hatte. An diesem Abend bestätigte sich, dass die zwar nicht lange, aber wichtige Partie der Hedwige nicht von einer Comprimaria-Sängerin, sondern von einem dramatischen Mezzosopran gesungen werden sollte. Und die albanische Sängerin verfügt noch immer über einen dunklen, vollen Mezzo. Während der ausgezeichnet spielende Knirps als Jemmyleider ungenannt blieb, verlieh Jennifer Courcier ihre glockenreine Stimme dem Double. Jean Teitgen als fieser Gesler, Tomislav Lavoie mit sonorem Bass als Melcthal, Grégoire Mour als brutaler Rodolphe, Patrick Bolleire als Walter Furst, Philippe Talbot als Ruodi mit hellem, höhensicherem Tenor und ein Solist aus dem Chor (Antoine Saint-Espes) als Leuthold komplettierten die Besetzung zufriedenstellend.

Trotz einiger Einwände und einiger Leerläufe, in denen sich Langeweile breit machte, gelang dem Regisseur eine eindrucksvolle Parabel über Gut und Böse, Zivilisation und Barbarei, Freiheit und Unterdrückung. Aber vielleicht waren die Erwartungshaltungen nach seinem sensationellen „Tannhäuser“ in Bayreuth etwas zu hoch gesteckt?

Walter Nowotny

 Diese Produktion steht bis 17. Oktober auf dem Spielplan der Opéra de Lyon und wird in der nächsten Spielzeit am Staatstheater Karlsruhe zu sehen sein.

 

 

 

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