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LYON/ Festival: „LES JARDINS MYSTÈRIEUX“

20.04.2015 | Allgemein, Oper

Lyon: Festival „LES JARDINS MYSTÈRIEUX“ – 20.-22.3.

 Seit zehn Jahren bietet die Oper von Lyon alljährlich im Frühling ein kleines Festival an, das entweder einem Komponisten (Janácek und seine Frauenfiguren, Offenbach, Kurt Weill von Berlin bis New York, Puccini und seine Zeitgenossen, Tschaikowsky und Puschkin, Mozart und Da Ponte, Benjamin Britten in drei Phasen seines Schaffens), einem Genre (Operneinakter), einem Land und seiner Kultur (Japan) oder einem bestimmten Thema (Recht und Ungerechtigkeit, Verlorene Helden) gewidmet ist. In diesem Jahr entführte uns das Festival in „Geheimnisvolle Gärten“. Unter diesem Motto stellte Intendant Serge Dorny drei gänzlich verschieden Werke aus drei verschiedenen Jahrhunderten gegenüber, die alle nur eines gemeinsam haben: in allen Werken spielt ein geheimnisvoller Garten eine bestimmte Rolle. Während in der Oper „Sunken Garden“ von Michel van der Aa das Publikum in einen außergewöhnlichen Garten in 3D jenseits des Lebens entführt wurde, macht sich der Orpheus von Gluck auf den Weg um seine geliebte Eurydice aus der Unterwelt zurückzuholen, die sich aber in Elysium (Insel der Seligen) eigentlich recht wohl zu fühlen scheint, während sich im dritten Werk („Die Gezeichneten“ von Franz Schreker) ein sich ausgestoßen fühlender Mensch ein künstliches Elysium erschaffen hat, das aber von anderen Menschen auf die schlimmste Weise entweiht und missbraucht wird.

 „SUNKEN GARDEN“ – Théâtre National Populaire, Villeurbanne, 20.3.2015

 Foto Sunken Garden

 Bedrohung durch ein Moskito in 3D (Foto: Michel Cavalca)

 Herzstück des kleinen Festivals war die Aufführung der Auftragsoper der Opéra de Lyon, die in Kooperation mit der English National Opera und dem Toronto Festival entstanden ist und ihre Uraufführung bereits 2013 in London erlebt hat. Es handelt sich um eine 3D-Filmoper. Es ist wohl das erste Mal überhaupt, dass in der Oper 3D-Technik verwendet wird. Das Publikum wird bei Betreten des Zuschauerraumes gebeten die Handys auszuschalten oder auf Flugmodus zu schalten, da ansonsten die empfindliche Elektronik gestört werden könnte. Gleichzeitig erhielt jeder Besucher eine 3D-Brille ausgehändigt.

Das Libretto schrieb der Romanautor David Mitchell. Es fängt an wie eine Detektivgeschichte im Stile des Film noir mit der Suche nach einem verschwundenen Mann und wird mehr und mehr zum Mystery-Thriller. Dann gibt es eine spirituelle Dimension, den „versunkenen Garten“, ein Raum zwischen Leben und Tod. Und das Ganze endet eigentlich in einer Suche nach sich selbst.

Toby Kramer, ein Multimedia-Künstler, der den Tod seiner Frau selbst noch nicht verkraftet hat, übernimmt einen Auftrag, das Verschwinden eines jungen Mannes, Simon Vines, filmisch aufzuarbeiten. Toby führt Interviews mit Freunden des Verschwundenen und im Zuge seiner Recherchen findet er heraus, dass auch dessen Freundin Amber verschwunden ist. Auf der Suche stellt Toby fest, dass die beiden entführt wurden von einer Person, die er kennt und die unsterblich werden will, indem sie Menschenseelen in einem versunkenen Garten festhält. Unter einer Brücke findet Toby den Zugang zu diesem versunkenen Garten. Mehr möchte ich über den Inhalt nicht verraten, denn ähnlich wie bei der „Mausefalle“ von Agatha Christie würde man einem späteren Besucher dieser Oper damit jegliche Spannung auf den Ausgang nehmen.

Die Oper selbst läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Da gibt es zunächst einmal einen bereits fertigen Film (die zwei Opernsänger, die die beiden Verschwundenen verkörpern, treten überhaupt nur im Film auf). Dazu treten dann einige Darsteller in Interaktion mit dem Film. Für die Szenen im „Versunkenen Garten“ müssen dann die Zuseher die 3D-Brillen aufsetzen. Und tatsächlich gab es verblüffende Effekte (u.a. musste man Angst haben von einem Riesenmoskito gestochen oder von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden).

Die Musik ist ein Mix aus tonaler Musik à la Britten, Filmmusik ein bisschen Techno- und auch ein wenig Popmusik. Und es kommt zu Vermischungen der Ebenen, etwa wenn das reale Orchester die Sänger in dem Film begleitet.

Michel van der Aa (Jahrgang 1970) hat nicht nur die Musik komponiert, sondern auch die Oper und den dazugehörigen Film selbst inszeniert. Die Sänger Roderick Williams als Toby Kramer, Katherine Manley als Produzentin Zenna Briggs, Claron McFadden als Iris Marinus und im Film Jonathan McGovern als Simon Vines und Kate Miller-Heidke als Amber Jacquemain waren engagiert bei der Sache. Etienne Siebens leitete das Orchester der Opéra de Lyon. Es war ein interessantes Projekt, überzeugte mich aber letztlich nicht wirklich. Ich glaube nicht, dass sich diese 3D-Filmoper durchsetzen wird.

 „ORFEO ED EURIDICE“ – Opéra de Lyon, 21.3.205

 Fot20Orfeo

 Erlösender Tod und Happy-End zugleich: Elena Galitskaya als Eurydice und Christopher Ainslie als junger Orfeo in Kreis ihrer Kinder, rechts am Boden liegend Victor von Halem als alter Orfeo (Foto: Stofleth)

 In eine ganz andere Welt entführte uns am nächsten Abend der junge Regisseur David Marton (der „Harmonia Caelestis“ nach dem Roman von Péter Esterházy am Wiener Burgtheater inszeniert hat; bei den Wiener Festwochen war auch seine Produktion von „Rheingold“ nach Wagner zu sehen) mit seiner Interpretation des Orpheus-Stoffes. Von griechischer Mythologie keine Spur. Wir sahen eine sehr heutige Sichtweise der Geschichte eines Mannes, der den Verlust seiner Frau nicht überwinden kann. Auf der Bühne (Bühnenbild: Christian Friedländer) sehen wir ein unfertiges Haus, das bereits verfällt und langsam im Sand zu versinken droht. Davor eine festliche Tafel, die sowohl einer Hochzeits- als auch einer Begräbnisgesellschaft Platz bieten kann. Und rechts im Vordergrund steht ein kleiner Tisch, an dem ein alter Mann sitzt und seine Lebenserinnerungen in die Schreibmaschine hämmert. (Der Text, der im Hintergrund eingeblendet wird, stammt aus Samuel Beckets „Le Calmant“.) Es ist der alte Orpheus, der vor seinem Tod noch seine Geschichte festhalten will. Beim Schreiben werden Erlebnisse wieder real und er sieht sich (als junger Orpheus) in verschiedenen Stationen seines Lebens.

Im Sinne dieser Inszenierung wurde die Rolle des Orpheus zweigeteilt. Der alte Orpheus wurde von einem Bass interpretiert, während der junge Orpheus von einem Counter-Tenor gesungen wurde. Es ergeben sich daraus sehr schöne und bewegende Momente, etwa wenn die in Elysium junggebliebene Eurydike beim Anblick des alten Orpheus erschrickt (das ist allerdings keine neue Idee, das sah ich schon 2007 in der unvergesslich schönen Produktion von Mats Ek an der Stockholmer Oper). Eine ganz wunderbare Idee war es jedoch die Figur des Gottes Amor auf mehrere Kinder aufzuteilen. Amor ist somit keine Gottheit, sondern Amor (= Liebe) sind die (ungeborenen?) Kinder. Und somit geriet das Finale zu einem bewegend schönen Moment, wo der sterbende alte Orpheus zu den Jubelklängen des Happy-Ends den jungen Orpheus noch einmal vereint sieht mit Eurydike und den gemeinsamen Kindern (die er nie hatte, oder vielleicht doch?) an der großen Tafel. Es ist jedenfalls ein sehr ergreifender Schluss einer wirklich interessanten Inszenierung. Es ist vielleicht nicht immer alles logisch, muss es auch nicht, aber dem Regisseur gelang ein Kunststück: das heutige Publikum war bewegt von einer Oper des 18. Jahrhunderts, und das ist sehr viel. Man sah dem Sterben eines alten Mannes zu und teilte seine Erinnerungen an schöne, vergangene Zeiten und die Träume von einer Wiedervereinigung im Paradies.

Musikalisch gab es einige Irritationen, so hört man gelegentlich einen laut vorbeifahrenden Eisenbahnzug oder einmal hört der alte Orpheus die himmlische Musik von Gluck aus einem Kofferradio. Das Orchester der Opéra de Lyon klang jedenfalls fabelhaft unter dem Dirigat des Barockspezialisten Enrico Onofri. Die Rolle des Orpheus teilten sich des Bassist Victor von Halem (der wenige Tage später seinen 75. Geburtstag feierte – ursprünglich war dafür der 89jährige Franz Mazura vorgesehen gewesen) mit wahrlich bewegendem Gesang und eindringlicher Darstellung und der junge südafrikanische Counter-Tenor Christopher Ainslie (mit etwas steifer Stimme aber starker Ausdruckskraft). Euridice war die junge russische Sopranistin Elena Galitskaya mit glockenreiner Stimme und beseeltem Ausdruck. Und Amor wurde von Eleven des Kinderchores des Opéra de Lyon gesungen. Ein wahrlich berührender Abend.

 „DIE GEZEICHNETEN“ – Opéra de Lyon, 22.3.2015

 Foto Gezeichneten
Carlotta (Magdalena Anna Hofmann) wird bedrängt (Foto: Stofleth)

 Der österreichische Komponist Franz Schreker, 1878 als Sohn eines jüdischen Hofphotographen aus Böhmen und einer Mutter aus einer altsteirischen Adelsfamilie in Monaco geboren, war einer der meistgespielten deutschsprachigen Komponisten seiner Zeit. Seine Opern erreichten zeitweise höhere Aufführungszahlen als diejenigen von Richard Strauss. Wie dieser ist Schreker ein Spätromantiker, zugleich weist seine musikalische Sprache aber auch expressionistische Elemente auf. Von der Psychoanalyse Sigmund Freuds beeinflusst, zeichnet Schreker als sein eigener Librettist schonungslose seelische Portraits seiner Opernprotagonisten, die teilweise sogar autobiographische Züge aufweisen. (Ursprünglich sollte Alexander von Zemlinsky dieses Textbuch vertonen, aber dann war Schreker von der Geschichte so fasziniert, dass er es selbst vertonte und Zemlinsky stattdessen „Der Zwerg“ nach Oscar Wildes „Der Geburtstag der Infantin“ komponierte.) Bereits in den späten Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war Schreker Angriffsobjekt der Kulturpolitik der Nationalsozialisten. 1932 hat er auf Grund des NS-Terrors die in Freiburg geplante Uraufführung seiner Oper „Christophorus“ selbst zurückgezogen. Er wurde auch zum Rücktritt von seinem Amt als Direktor der Berliner Musikhochschule gezwungen, die er seit 1920 geleitet hatte. Ein Jahr nach seiner zwangsweisen Versetzung in den Ruhestand als Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste starb er 1934 in Berlin an einem Herzinfarkt, dem ein Schlaganfall vorangegangen war. Damit blieb ihm wenigstens ein möglicherweise noch viel schlimmeres Schicksal erspart. Bis heute hat er jedoch nicht mehr den Stellenwert zurückerhalten, der ihm eigentlich gebühren würde. Nach dem 2. Weltkrieg hat es lange gedauert, bis zaghafte Versuche unternommen wurden seine Opern wieder in die Spielpläne der Opernhäuser zu integrieren. Umso mehr muss man die neue Opernintendanz in Graz für ihren Mut bewundern, die neue Direktionsära im September 2015 mit Schrekers „Der ferne Klang“ eröffnen zu wollen. Und Mut kann man auch Serge Dorny nicht absprechen, indem er einem größtenteils nicht deutsch sprechendem Publikum Schrekers „Die Gezeichneten“ im Rahmen dieses Festivals als französische Erstaufführung (!) präsentierte.

Die Verbindung zum Festivalmotto findet sich darin, dass in diesem Werk der adelige, bucklige Außenseiter und Schöngeist Alviano (wohl ein Verwandter Rigolettos) sich auf einer der Stadt Genua vorgelagerten kleinen Insel ein künstliches Elysium geschaffen hat, einen Ort der Schönheit und der Liebe. Er selbst betritt dieses künstlich geschaffene Paradies nicht. Skrupellose Adelige missbrauchen jedoch diese Insel, um dort entführte Frauen und Kinder sexuell zu missbrauchen und zu ermorden (nach dem Motto „Die Schönheit sei Beute des Starken!“). Die herzkranke Malerin Carlotta ist von Alviano fasziniert, gibt sich aber doch lieber dem zügellosen, triebgesteuerten Tamare hin. Während Carlotta am Ende stirbt, verfällt Alviano dem Wahnsinn.

Bereits während des Orchestervorspiels sehen wir unzählige Vermissten-Plakate von verschwundenen Frauen und Kindern. Der Regisseur David Bösch (hierzulande bisher nur als Schauspielregisseur bekannt, vor allem am Burgtheater, u.a. „Romeo und Julia“, „Der Talisman“, „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Parzival“ und „Das Käthchen von Heilbronn“) und sein Bühnenbildner Falko Herold siedeln die Handlung in der Gegenwart in einer düsteren und unfreundlichen Endzeitlandschaft an. Dazu kommen im Hintergrund Projektionen, die mitunter atemberaubend sind (z.B. blaue und rote Hände sowie Röntgenhände wenn Carlotta Alviano erzählt, sie könne Seelen malen und in Wirklichkeit malt sie doch nur Hände).

Es gibt auch Zitate aus Filmen: die Szene, in der Robert Wörle als Menaldo einen kleinen Jungen von der Bühne lockt und nach Vergewaltigung und/oder Ermordung des Kindes mit dessen Luftballon und Lutscher allein zurückkommt, erinnert natürlich an den Film „Es geschah am hellichten Tag“ mit Gerd Fröbe, und wenn der Chor mit Masken auftritt muss man natürlich sofort an „Eyes Wide Shut“ von Stanley Kubrick denken.

Charles Workman war ein in jeder Hinsicht außerordentlich beeindruckender Alviano. Wie er diesen „Gezeichneten“ überzeugend dargestellt und dazu noch stimmlich mit seinem hellen Tenor charakterisiert hat, war einfach umwerfend. Magdalena Anna Hofmann war als Carlotta darstellerisch zwar sehr intensiv, ihre Gesangsleistung ließ jedoch viele Wünsche offen. Der Wechsel vom Mezzosopran zum Sopran gelang hörbar nicht ohne Blessuren. Sie klingt in der Höhe sehr angestrengt und die Stimme weist ein sehr unangenehmes Vibrato auf. Simon Neal war ein viriler, sehr glaubhafter, auch stimmlich idealer Tamare (und insgesamt viel besser als wenige Monate zuvor in Lyon als Fliegender Holländer). Markus Marquardt war ein wortdeutlicher und überzeugender Herzog Adorno. Auch die übrigen Mitwirkenden (darunter Michael Eder als Podestà) sowie der Chor der Opéra de Lyon trugen zum großen Erfolg des Abends bei. Dem jungen argentinischen Dirigenten Alejo Pérez gelang es, dem Orchester der Opéra de Lyon die ganze Klangschönheit der (leider stark gekürzten) Partitur zu entlocken.

Eine szenisch und musikalisch gelungene Aufführung, obwohl ich schon gestehen muss, dass mich die Inszenierung nicht so beeindruckt hat wie seinerzeit die Inszenierung von Günter Krämer (Deutsche Oper am Rhein 1989) oder die großartige Produktion von Martin Kusej (Stuttgart 2002 und Amsterdam 2007).

 

Es ist erstaunlich, wie neugierig und begeistert das Publikum der Opéra de Lyon diese drei so unterschiedlichen Werke aufgenommen hat. Und das jeden Abend bei vollem Haus! Im nächsten Jahr gibt es ein „Festival für die Menschlichkeit“. In einer Zeit, in der Karikaturisten ermordet werden oder beinahe täglich Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, kann es wohl kein aktuelleres Thema geben. Im März 2016 wird daher eine Neuproduktion von Halévys „La Juive“ zwei Opern von Komponisten gegenübergestellt, die beide in Auschwitz ermordet wurden: „Brundibár“ von Hans Krása und „Der Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann. Dazu kommt dann noch die Uraufführung der Oper „Benjamin, dernière nuit“ des Schweizer Dirigenten und Komponisten Michel Tabachnik, die sich mit dem Schicksal des deutschen Philosophen Walter Benjamin befasst, der sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 das Leben nahm. Eine mutige Programmzusammenstellung. Aber ich bin sicher, dass auch dieses Programm in Lyon auf großes Interesse stoßen wird.

 Walter Nowotny

 

 

 

 

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