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LYON/ FESTIVAL „LEBEN UND SCHICKSALE“ – Opera. „DIE ZAUBERIN“/ „DIDO AND AENEAS“

21.03.2019 | Allgemein, Oper

Lyon: Festival „LEBEN UND SCHICKSALE“ – Opéra  15.3.-3.4.

 Der Intendant der Opéra de Lyon, Serge Dorny, hat das diesjährige Frühlingsfestival unter das Motto „Leben und Schicksale“ gestellt. Obwohl man beinahe jede Oper in diesem Rahmen aufführen könnte, wurden drei Werke ausgewählt, von denen sich jedes auf seine Weise mit der Frage des Schicksals beschäftigt. Zwei der Werke („Dido and Aeneas“ und „Il Ritorno d’Ulisse in Patria“) erzählen von den Abenteuern zweier Helden aus Homers „Ilias“ (bzw. Vergils „Aeneis“), Odysseus und Aeneas, Während der eine nach dem trojanischen Krieg nach langer Irrfahrt in seine Heimat zurückfindet, ist der andere nach der Zerstörung Trojas auf der Flucht und auf der Suche nach einer neuen Heimat, die er schließlich nach kurzer Zwischenstation in Karthago in Europa, in Italien, finden wird.  Diesen beiden Geschichten steht das Schicksal der „Zauberin“ gegenüber. In einem Gasthaus mit angeschlossenem Bordell, in dem sich freigeistige Menschen, Künstler und nonkonformistische Denker treffen, erliegen sowohl der Fürst Nikita als auch dessen Sohn Juri dem Charme der Wirtin Nastasja (genannt „Kuma“). Sie wird schließlich von der Ehefrau des Fürsten und Mutter von Juri vergiftet, die in ihr eine Hexe sieht, eine Verdorbene, die ein Hindernis für ein konventionelles und geordnetes Leben darstellt. Zauberinnen und Hexen spielen auch im Leben der beiden Helden Odysseus und Aeneas eine Rolle, womit ein roter Faden zwischen diesen drei Werken existiert. Drei unterschiedliche Werke werden in ganz neuen und unerwarteten Sichtweisen präsentiert, verschiedene Aspekte von menschlichen Schicksalen in unterschiedlichen musikalischen Auffassungen von drei verschiedenen Regisseuren beleuchtet.


Foto-Copyright: Stofleth

„CHARODEYKA“ – Opéra  15.3.2019

Peter Iljitsch Tschaikowsky hat insgesamt zehn Opern vollendet. Doch wer kann sich rühmen jemals alle diese Opern gesehen zu haben? „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ zählen zum Stammrepertoire jedes größeren Opernhauses. Gelegentlich kann man auch „Mazeppa“ und dem Einakter „Jolanthe“ (letzterem vor allem dank des Einsatzes von Anna Netrebko) begegnen, ganz selten noch (wie gerade eben im Theater an der Wien) der „Jungfrau von Orléans“. Aber wer hat jemals „Der Wojewode“, „Der Opritschnik“, „Wakula der Schmied“ oder „Pantöffelchen“ (Neufassung von „Wakula der Schmied“) gesehen? (Die Partitur zur Oper „Undine“ hat Tschaikowsky vernichtet, nur einige Fragmente haben überlebt und wurden erst vor kurzem im Theater an der Wien gespielt.) Die Oper „Charodeyka“ hingegen erlebt in letzter Zeit eine Renaissance. Vor fünf Jahren war dieses Werk in einer ausgezeichneten Produktion von Christof Loy im Theater an der Wien zu erleben. Und nun wurde es im Rahmen dieses Opernfestivals erstmals in Frankreich aufgeführt.


Foto-Copyright: Stofleth

Tschaikowsky hielt „Charodeyka“ für seine beste Oper. Sie läuft im deutschen Sprachraum unter dem Titel „Die Zauberin“, was aber dem Werk nicht ganz gerecht wird, denn die Titelfigur, die Wirtin Nastasja, ist keine Hexe oder Magierin, sondern sie verzaubert die Männer mit ihrer Schönheit und ihrem Charme. (Die Bezeichnung „Die Bezaubernde“, die in einer frühen deutschen Übersetzung verwendet wurde, wäre da viel zutreffender.) Warum diesem Werk kein großer Erfolg beschieden war, darüber kann man heute nur rätseln. Vielleicht war die Schilderung des Schicksals einer selbstbewussten Frau aus der Unterschicht, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient, die sich nicht davor scheut einem Mann ihre Liebe als erste zu gestehen, die gegen die Doppelmoral der Kirche kämpft, die sich gegenüber einer patriarchalischen Gesellschaft zur Wehr setzt, zum Zeitpunkt der Uraufführung (1887 in St. Petersburg) noch nicht tragbar. Wie sehr Tschaikowsky seine selbstbewusste Titelheldin geliebt haben muss, kann man in der musikalischen Behandlung erkennen. Ihre lyrische, dem Volksliedmelos verhaftete Gesangslinie wird mit weichem Holzbläser- und Streicherklang unterlegt, während die eifersüchtige Fürstin durch schärfere, metallischere Klänge charakterisiert wird. Prinz Juri wird später in die weichen Holzbläserklänge der Titelheldin miteinbezogen, denn die beiden sind die einzigen Lichtgestalten in dieser Oper. Eine musikalische Besonderheit stellt der achtfach-geteilte A-cappella-Chor mit zehn Solostimmen im 1. Akt dar.

Serge Dorny war schon immer gut im Aufspüren von Regietalenten und so präsentierte er nun erstmals in Frankreich den auch in Österreich noch relativ unbekannten ukrainischen Regisseur Andriy Zholdak, der nicht erst seit seiner aufsehenerregenden Inszenierung von Zemlinskys „König Kandaules“ an der Flämischen Oper als Geheimtipp im Opernbusiness gehandelt wird. Und der erste Eindruck, den man von ihm nach diesem Abend gewonnen hat, ist tatsächlich überwältigend. Derzeit ist er noch eine Mischung aus Frank Castorf (Aufteilung der Handlung auf mehrere Spielflächen gleichzeitig), Stefan Herheim (überbordende Phantasie), Dmitri Tcherniakov (geniale Verknüpfung der Gegenwart mit der Vergangenheit) und Christoph Marthaler (die wiederholt auf dem Boden hereinrobbende Dienerschaft im Fürstenhause). Er macht derzeit noch viel zu viel, es ist absolut unmöglich alle gleichzeitig ablaufenden Handlungsstränge zu verfolgen. Dazu kommt noch, dass er nicht nur die Opernhandlung erzählt, sondern auch noch unzählige Assoziationen zu gesellschaftspolitischen Themen auf die Bühne bringt. So wird ganz nebenbei, der Missbrauch von Kindern in der Kirche, der Missbrauch von Kindern in der Familie, die Gewalt in der Familie, die Kommunikationsunfähigkeit der Menschen untereinander etc. auch noch in die Handlung miteingewoben.

Zu Beginn sehen wir einen perversen katholischen Priester in Lyon, der in seiner Kirche in den Augen der über dem Altar hängenden Christusstatue Kameras installiert, damit er seine Gläubigen ausspionieren und den Kindesmissbrauch in der Kirche auch noch mitfilmen kann. Gelangweilt vom Schachspielen mit sich selbst, lässt er sich mit dem Auto nach Hause fahren (und kommt dabei an der Oper vorbei, an der gerade die Oper „Die Zauberin“ auf dem Programm steht). Er setzt sich eine Virtual-Reality-Brille auf und taucht ein in eine virtuelle Geschichte um eine schöne Wirtstochter, die er sich vorher aus einem Katalog ausgesucht hat, wobei er nicht nur Zuseher ist, sondern als Intrigant und Geheimagent Mamyrow aktiver Teilnehmer in diesem virtuellen Spiel wird. (Die Kritik an der katholischen Kirche ist wohl nicht zufällig. Der Erzbischof von Lyon ist erst vor wenigen Tagen wegen Vertuschung von Kindesmissbrauch zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden.) Diese Kritik an der Kirche korreliert sehr wohl mit den Intentionen des Komponisten. Tschaikowskys Hass auf die Kirchenmoral seiner Zeit ist nicht nur moralisch-thematisch im Werk verankert, sondern auch musikalisch. Nicht nur dem Blagowest (Geläut zum Gottesdienst) wird eine Volksweise entgegengesetzt, auch der Tod der Titelheldin wird mit einer nach alten Vorbildern gesetzten Kirchenweise beklagt. Das war als Affront gegen die zeitgenössische Kirche gemeint und wurde auch so verstanden.

Der Regisseur, der zugleich auch sein eigener Bühnenbildner ist, lässt also die verschiedenen Schauplätze der Handlung nicht nacheinander, sondern meistens gleichzeitig auffahren. Die Bühnenbildelemente sind leicht beweglich und können verschiedentlich angeordnet oder zusammengestellt werden. Da gibt es zunächst das schäbige Wirtshaus der Titelheldin, den Innenraum einer Kirche, ein Schlafzimmer und das Ess- oder Wohnzimmer der Fürstenfamilie. Aber vor allem zeichnet sich Zholdak durch eine mustergültige Personenführung aus. Jede Figur, jede Geste, jedes Detail ist fein durchgearbeitet. Sämtliche Sänger wie auch die Statisten wirken wie starke Bühnenpersönlichkeiten.


Foto-Copyright: Stofleth

Der polnische Bassist Piotr Micinski spielte den perversen Pfaffen, der sich in den Intriganten Mamyrow verwandelt, mit viel Witz und Bösartigkeit und sang ihn mit prägnantem, dunklem Charakterbass. Elena Guseva, die wir ihn Wien schon als Polina in Prokofjews „Der Spieler“ und als Madame Butterfly kennengelernt haben, brillierte mit ihrem blühenden, dunkel getönten aber höhensicheren Sopran in der Titelpartie. Der weißrussische Tenor Migran Agadzhanyan, der auch Dirigent und Pianist ist, beeindruckte mit seiner kraftvollen, metallisch gefärbten Stimme als Prinz Juri. Die Russin Ksenia Vyaznikova war mit ihrem dunkel getönten, satten, dramatischen Mezzosopran eine Idealbesetzung der eifersüchtigen und schließlich zur Mörderin werdenden Fürstin. Der aus Aserbaidschan stammende und in Mannheim engagierte Evez Abdulla beeindruckte sowohl stimmlich mit seinem wuchtigen Heldenbariton als auch darstellerisch in der Partie des virilen Fürsten Nikita. Man kann der Opéra de Lyon zu der Besetzung nur gratulieren, denn auch für die weiteren zwölf wichtigen Nebenrollen waren erstklassige, größtenteils aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Sängern aufgeboten. Stellvertretend für alle möchte ich nur noch Mairam Sokolova mit ihrer herrlichen Altstimme als Nenila herausheben.

Der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Christoph Heil), der hinter der Bühne positioniert war, erfüllte seinen Aufgaben ebenso präzise wie das farbenprächtig aufspielende Orchester der Lyon unter der Leitung des Chefdirigenten Daniele Rustioni.

Am Ende, wenn das Liebespaar tot und der Fürst in Wahnsinn verfallen ist, ist der perverse Priester zufrieden mit seinen Intrigen und widmet sich im knallgrünen Trainingsanzug dem Tennisspiel. Nach vier Stunden Aufführungsdauer, in der keine Sekunde lang Langeweile aufkam, wurden alle Beteiligten mit großem Jubel bedacht. In den Applaus für den Regisseur mischten sich allerdings auch etliche Buhrufe von den oberen Rängen.

 

„DIDO AND AENEAS, REMEMBERED“ – Opéra  16.3.2019

 Nach dem großartigen Auftakt am Vorabend folgte am nächsten Abend leider die Ernüchterung. Henry Purcells Oper „Dido and Aeneas“ dauert zwar nur eine Stunde, ist aber ein in sich abgeschlossenes Meisterwerk. Für Bühnenaufführungen stellt sich daher immer die Frage: spielt man es allein, dann ist das für einen Opernabend doch arg kurz. Kombiniert man es mit einem anderen Werk, dann folgt die quälende Frage, mit welchem? (Die Wiener Staatsoper koppelte im Jahr 1961 diese Oper mit Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“.) Ein durchaus gangbarer Weg ist es auch, dem Werk einen Prolog voranzustellen (so geschehen 2009 bei den Wiener Festwochen in der großartigen Produktion von Deborah Warner, als Fiona Shaw aus Ovids „Metamorphosen“ rezitierte).

Für das Festival in Lyon wurde nun das Experiment unternommen die einstündige Oper auf ein mehr als zweistündiges Werk aufzublasen, indem der finnische Jazz-Gitarrist und Improvisationsmusiker Kalle Kalima die Oper bearbeitete und ergänzte. Dazu wurden Texte aus Vergils „Aeneis“ hinzugefügt. Kalima überlagert die Barockmusik Purcells mit Verfremdungen, greift musikalische Motive des Originals auf und entwickelt sie im Geiste der Gegenwart weiter, wobei einige Teile fix komponiert zu sein schienen, andere wiederum nur improvisiert  Erstaunlicherweise stören die musikalischen  Ergänzungen nicht so sehr, wenn sie auch völlig unnötig sind. Vielmehr gestört hat allerdings die Tatsache, dass dem Regisseur David Marton, der in Lyon schon einige aufsehenerregende Inszenierungen abgeliefert hat, so gut wie nichts zu den Fragen „Was wird einst von uns bleiben? Wie wird man sich an uns erinnern?“ eingefallen ist.

Die Bühne stellt eine Ausgrabungsstätte dar, die mit einem Holz- und Glasbau überdacht ist. Auf den beiden Bühnenseiten werden Fundstücke fein sortiert in Stellagen gelagert. Im Bühnenhintergrund sind Videoprojektionen zu sehen: in Großaufnahme, was die Archäologen gerade ausgraben, Szenen von Bombenabwürfen und Kriegsschauplätzen, vom Elend dieser Welt. 

Die Götter Juno und Jupiter betätigen sich als Archäologen und graben (in der Zukunft?) aus dem Sand Gegenstände der Gegenwart (Smartphone, Computermaus, Time-Magazine mit Viktor Orbán auf dem Titelblatt) aus. Im Zuge dieser Arbeiten enthüllt sich auch eine Liebesgeschichte. Dido, eine syrische Prinzessin, musste aus ihrer Heimat fliehen und hat in Nordafrika eine neue Heimat gefunden. Da erscheinen Flüchtlinge, Aeneas und seine Mannen, die auf der Suche nach einer neuen Heimat sind, die diese in Europa, in Italien finden wollen. Wie sich doch alles in der Geschichte wiederholt. Auch heute wollen die Menschen von der nordafrikanischen Küste nach Europa übersetzen und landen, wenn sie Glück haben,  an den italienischen Stränden. Die kurz aufflammende Liebe zwischen Dido und Aeneas ist somit von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Nach der Abfahrt des trojanischen Helden begeht Dido mit einer der schönsten Arien der Musikgeschichte („When I am laid in earth“) Selbstmord.

Nach zwei überlangen Stunden, die sich wie sechs Stunden angefühlt haben, buddeln die beiden Götter den Elektroschrott der Gegenwart wieder im Sand ein. Offensichtlich ist gegenwärtig nichts wert, konserviert zu werden, soll nichts an uns erinnern.

Auch musikalisch schleppte sich der Abend uninteressant dahin. Noch nie war man von Didos Arie, in der sie Abschied von der Welt nimmt, so ungerührt wie an diesem Abend. Das war bestimmt nicht die Schuld der Mezzosopranistin Alix Le Saux, die die Dido sang, Das lang einfach an den Umständen dieser völlig missglückten Produktion. Auch Guillaume Andrieux als Aeneas, Claron McFadden als Belinda, der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Denis Comtet) und das Orchester der Opéra de Lyon unter dem Dirigenten Pierre Bleuse  konnten da nichts retten. Dazu kam noch die Jazz-Sängerin und Improvisationskünstlerin Erika Stucky, die mit ihrer phantastisch akrobatischen Stimme nicht nur die Hexen interpretierte, sondern auch noch eingefügte Vergil-Zitate stakkatoartig vortrug. Man würde ihr gerne in einem anderen Rahmen wiederbegegnen, aber hier war sie völlig fehl am Platz.

Das Ganze war vielleicht gut gemeint, muss aber als völlig gescheitertes Experiment angesehen werden. Ein Meisterwerk kann man nicht verbessern. Bei einer Bearbeitung kann man sich nur die Finger verbrennen. Und um zur Kernfrage des Abends zurückzukommen: an diese Aufführung wird man sich mit Sicherheit nicht erinnern wollen. Ein Buhorkan und nur kurzer Beifall beendeten diesen misslungenen Versuch ein Meisterwerk der Gattung Barockoper in einem neuen musikalischen Gewand zur Diskussion stellen zu wollen.

Es ist schade, dass gerade diese quälend langweilige Produktion auf Gastspielreisen geht. Die Opéra de Lyon hat in den letzten Jahren so viele großartige Produktionen herausgebracht, die es wert gewesen wären auch andernorts gezeigt zu werden. Nun werden sich in den nächsten Monaten auch noch die Zuseher an der Flämischen Oper und an der Stuttgarter Oper sowie bei der Ruhrtriennale mit dieser Aufführung herumquälen müssen.

 Zu diesen beiden Premierenproduktionen gesellt sich ab 28. März noch die Erfolgsproduktion von Monteverdis „Il Ritorno d’Ulisse in Patria“, die William Kentridge mit der Handspring Puppet Company realisierte und die sich seit 1998 (!) auf Welttournee befindet. Die Aufführungen finden im Maison de la Dance in Lyon statt. Das Festival „Leben und Schicksale“ dauert noch bis 3. April.

 

Walter Nowotny

 

 

 

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