Operettenrarität in Lüttich:
„La fille de Madame Angot“ von Charles Lecocq (Vorstellung: 29. 12. 2011)
(Foto: Opéra Royal de Wallonie)
Kurz vor Weihnachten hatte im Palais Opéra de Liège, der Ausweichspielstätte der Opéra Royal de Wallonie während der Renovierung des Opernhauses in Lüttich, die Opéra comique „La fille de Madame Angot“ („Die Tochter von Madame Angot“) von Charles Lecocq Premiere. Die Uraufführung erlebte das Werk, dessen Libretto von Clairville, Paul Siraudin und Victor Koning stammt, im Jahr 1872 in Brüssel. Im nächsten Jahr verzeichnete es nicht weniger als 411 Aufführungen in Paris, wurde danach in ganz Frankreich, aber auch in London und New York gespielt.
Charles Lecocq – er wurde 1832 in Paris geboren, wo er 1918 starb – teilte sich 1857 mit Bizet den von Offenbach ausgesetzten Operettenkompositionspreis. Er schrieb rund 50 Operetten, wobei La fille de Madame Angot und Giroflé-Girofla zu den Höhepunkten des Genres in Frankreich zählen.
In Lüttich wurde die Operette zuletzt im Jahr 1991 gespielt, ehe sie nun im Palais Opéra de Liège, einem großen Zelt in einem Außenbezirk der Stadt, als Koproduktion mit der Opéra de Lausanne auf den Spielplan kam. Sie spielt in Frankreich kurz nach der Revolution von 1793, wobei in der typisch operettenhaften Handlung fiktive Personen mit historischen Protagonisten vermischt sind. Die Heldin ist Clairette, die Tochter der berühmten Madame Angot. Sie soll den Perückenmacher Pomponnet heiraten, ist aber in den königstreuen Chansonnier Ange Pitou verliebt, der sie jedoch mit der Schauspielerin Mademoiselle Lange betrügt, die wiederum die Gespielin des Direktors Barras sowie die Geliebte des Bankiers Larivaudière ist. Nach zahlreichen Wendungen, bei der auch politische Wirrungen in Form von Verschwörern die Handlung beeinflussen, heiratet Clairette schließlich doch Pomponnet.
Verbrämt wurde die Handlung von zwei Tänzern – Justine Arm und Giuliano Cardone –, die schon zur musikalisch reizvollen Ouvertüre wie auch zwischen den Akten mit kreativen und witzigen Einlagen das Publikum begeisterten. Das Orchester der Opéra Royal de Wallonie, von Emmanuel Joel-Hornak gestenreich geleitet, ließ sich auch durch den Orkan, der an diesem Abend über Belgien wütete und von schweren Regengüssen begleitet war, nicht aus der Konzentration bringen und brachte die anmutigen musikalischen Köstlichkeiten wunderbar zur Geltung, obwohl der Sturm gehörig am Zelt rüttelte und der Regen auf das Zeltdach so heftig prasselte, dass die gesprochenen Dialoge nicht mehr zu hören waren. Ein Kompliment den Musikern!
Gianni Santucci sorgte in seiner Inszenierung für ein flottes Tempo des Bühnengeschehens und für eine kreative Choreographie, die mit viel Humor gewürzt war, ohne in Klamauk abzugleiten. Dazu bemerkenswert der Hinweis im Programmheft: d’après Anémone. Die berühmte französische Filmschauspielerin feierte anno dazumal mit diesem Stück ihr Operndebüt an der Opéra de Lausanne. Jean Haas gestaltete die Bühne mit einfachen, aber stilvollen Mitteln, während die hübschen Kostümentwürfe von Dominique Borg die Zeit des 18. Jahrhunderts in Frankreich trefflich widerspiegelten. Für die Lichteffekte zeichnete Patrick Méeüs verantwortlich.
Die Sopranistin Clémence Tilquin gab eine reizende Clairette und spielte die Titelfigur mit Charme und Humor. Prächtig gesungen das Duett „Jours Fortunes“ mit der Mezzosopranistin Alexise Yerna, die als Mademoiselle Lange die vielfach begehrte Lebedame mit Elégance und Raffinement darstellte. Als Ange Pitou brillierte der Tenor Mathieu Abelli stimmlich mit seiner Arie „Certainement, j’aimas Clairette“ wie auch darstellerisch mit seiner eleganten Bühnenpräsenz. Es verwunderte nicht, dass er von den Frauen geliebt wurde. Mit viel Witz spielten der Tenor Stéphane Malbec-Garcia den Perückenmacher Pomponnet, der schließlich doch seine ihm bestimmte Clairette heiraten kann, und der Bariton Philippe Ermelier den Bankier Larivaudière. Mit köstlicher Komik stattete die Sopranistin Magali Mayenne die Rolle der Amaranthe aus, einer niedlichen Marktfrau, die mit ihrer Arie „Marchande de marée“ zu punkten vermochte. Zu gefallen wusste auch der Tenor Tristan Faes als Husarenoffizier Trenitz. Eine besondere komödiantische Delikatesse bot der Chor der Verschwörer (Einstudierung: Marcel Seminara) mit seinem köstlich gesungenen „Wenn man verschwört“. Verdienter starker Szenenapplaus!
Am Schluss der Vorstellung intonierte das Orchester minutenlang Melodien der Operette zur „Verbeugungstour“ des Ensembles, des Chors und der Tänzer – eine nette Idee, die vom begeisterten Publikum mit lang anhaltendem Applaus goutiert wurde.
Udo Pacolt, Wien – München