„Die Räuber“ von Friedrich Schiller im Forum am Schlosspark Ludwigsburg am 30.10.2015

Copyright: Jochen Klenk
Franz spinnt hier als hässlicher Zweitgeborener eine üble Intrige, weil er seinem Bruder die Vaterliebe, das Erbrecht und die Verlobte neidet. So glaubt Karl in seiner Verzweiflung, der Vater habe ihn verstoßen. Er entsagt jeder Moral und wird Hauptmann einer Räuberbande, die mordend und plündernd durch die Lande zieht. Eine neue Gesellschaftsordnung wird dabei geradezu eingefordert. Das bringt diese Inszenierung psychologisch geschickt auf die Bühne.
Damit endet das gesamte Stück. Zuvor hat sich Franz aus Angst vor seinem Bruder selbst getötet. Obwohl Karl Amalia alle Taten gesteht, will sie von ihm nicht ablassen. Das ist in dieser Inszenierung eine starke Szene, die das Publikum beeindruckt. Der von Jonathan Bruckmeier mit Intensität verkörperte Schweizer erinnert Karl jedoch an seinen Schwur den Räubern gegenüber, woraufhin Karl Amalia endgültig verlässt. Diese Passagen geraten zu einem Musterbeispiel schwer kontrollierter Emotionen, die vor allem die hervorragende Florentine Krafft ausgezeichnet meistert. Man sieht bei dieser Aufführung zuletzt nicht mehr, wie Karl sich der Justiz stellt. Er hat sich zuvor standhaft geweigert, Amalia zu töten. „Ich muss für sie des Todes sterben„, lautet statt dessen seine trostlose Devise. Das Stück wurde bisher noch nie so stark zugespitzt auf einen abwesenden Vater inszeniert. Die Regisseurin entschied sich für dieses Mittel, weil sie mit ihrer Familie zu Beginn der 90er Jahre aus dem Iran nach Deutschland ausgewandert ist. Der abwesende und hilflose Vater ist ihr sehr bewusst geworden. Diese Betroffenheit spiegelt sich in der Inszenierung wider. Deswegen rücken die beiden Brüder hier sehr viel stärker als sonst ins Zentrum der Handlung.
Mina Salehpour will mit den „Räubern“ deutlich machen, dass alles, was wir tun, sehr stark von unseren Vätern beeinflusst ist. Dadurch entsteht bei dieser Inszenierung auch eine geradezu elektrisierende Spannungskraft. Ein großes, verpixeltes Gesicht blickt das Publikum zu Beginn stumm an. Auf diesem Gesicht versammeln sich die jungen Räuber Spiegelberg (furios: Ralf Wegner), Schweizer, Schufterle (facettenreich: Michael Brandt) sowie Roller und Hermann (undurchsichtig: Johannes Schumacher). Obwohl der Vater in dieser Aufführung fehlt, ist er immer präsent. Franz erschafft sich in Mina Salehpours Inszenierung einen neuen, virtuellen Vater mit unheimlicher Ausstrahlung. Der Vaterchor gibt ihm so eine Angriffsfläche in dem leeren Raum. Er braucht das Zwiegespräch mit dem Vater, um sich eine eigene Existenz zu schaffen. So leugnet er schließlich Gott als Übervater, wodurch er in entsetzlicher Weise seelisch zerbricht: „Ich bin kein gemeiner Mörder gewesen, mein Herrgott…“ Das kann Maximilian Grünewald als außer sich geratener Franz zuletzt sehr gut verdeutlichen. Und der verbannte Bruder Karl sucht auf andere Weise nach einem Ersatzvater. Deswegen ist die Räuberbande in psychologischer Weise für ihn so wichtig.
Mina Salehpour nimmt Karl in ihrer Inszenierung die Möglichkeit, seinen ins Verlies gesteckten Vater wiederzufinden und sich mit ihm auszusöhnen. Der Vater ist in dieser Inszenierung also eine imaginäre Idee, eine Fata Morgana. Es gibt keine Pistolen, sondern nur die Möglichkeit, eine Waffe in der Hand zu halten. Karl scheitert jedoch daran, sich endgültig von seinem Vater zu lösen. Das bleibt in der Karlsruher Inszenierung Amalia vorbehalten, die den eigentlich für Karl geschriebenen Monolog bekommt. Karls Unfähigkeit, sich seine eigene Identität zu konstruieren, wird dadurch drastisch verdeutlicht. Die Guten werden auch hier durch die Bösen schattiert, ganz so, wie Schiller es wollte. Die „Philosophie der Verzweiflung“ des Franz Moor (der ja fast die Rolle Richards III. von Shakespeare übernimmt) kommt dabei in ergreifender Weise zum Vorschein. Der existentialistische Nihilismus des 20. Jahrhunderts tritt hier grell hervor: „Lass einen Wassertropfen in deinem Gehirne verirren, und dein Leben macht eine plötzliche Pause, die zunächst an das Nichtsein grenzt, und ihre Fortdauer ist der Tod…“ Die eigentlich eher schwach konzipierte Rolle der Amalia kann Florentine Krafft dank ihrer schauspielerischen Wandlungsfähigkeit mit ungeheurem Leben erfüllen. Mina Salehpour will der Bedrohung durch Interpretationen wie einst Hans Lietzau bewusst entgehen – und das ist sehr interessant zu beobachten. Sie hat eine ganz eigene Sichtweise des Stücks. Exaltierte Zuspitzung und latente Sinnlichkeit der Textpassagen werden so intensiv herausgearbeitet. Sprache, Gestus, Raum und Licht begleiten die Verzweiflungsausbrüche der Protagonisten hier in minuziöser Weise. Karl trauert vor allem um seine verlorene ideale Jugendzeit. Und das Publikum in Ludwigsburg trauerte mit.