LONDON – WIEN / Royal Opera House im Kino / Village Cinema Wien Landstraße:
ALICE’S ADVENTURES IN WONDERLAND
Ballett nach dem Roman von Lewis Carroll
von Joby Talbot (Musik) und Christopher Wheeldon (Choreografie)
15. Oktober 2024
Absurde, skurrile Wunderwelten
Einige der Cineplexx-Kinos haben ihr kulturelles Angebot erweitert. Neben den Übertragungen aus der Metropolitan Opera bieten sie in dieser Saison noch vier Ballettabend aus der Royal Opera Covent Garden. London ist gerade für seine spektakulären Handlungsballette berühmt. Einige Arbeiten ihrer „klassischen“ Choreographen Kenneth MacMillan oder Frederick Ashton haben wir auch in Wien gesehen. Als in hohem Maß publikumsfreundlich, darüber hinaus aber auch als Tanzstück schlechtweg brillant erwies sich nun der Auftakt der ROH-Ballett-Serie mit „Alice im Wunderland“.
Märchen sind immer absurd. Sie behaupten einfach, dass es Hexen gibt und sprechende Wölfe, sieben Zwerge und gute und böse Feen. Aber noch absurder ist „Alice im Wunderland“, der britische Kinderbuch-Klassiker aus der Feder von Lewis Carroll (1832 – 1898), 1865 erschienen und so modern und unzerstörbar wie eh und je, denn der absurde Charakter der Geschichte kann nicht altern.
Es ist verrückt, durch das Loch eines Kaninchenbaus zu rutschen und dort weißen Kaninchen, grinsenden Katzen, verrückten Hutmachern und todgefährlichen Herzköniginnen zu begegnen – und doch geschieht es und man nimmt es unhinterfragt hin, weil es einfach so überzeugend abstrus und skurril ist, bester englischer Nonsens…
„Alice“ ist zahllose Male bearbeitet worden, für Theater und Film, Oper und Musical, als Comic und Computerspiel. Covent Garden hat 2011 bei dem Komponisten Joby Talbot ein Ballett bestellt, das musikalisch nicht zuletzt deshalb so gelungen ist, weil er keine Sekunde lang der möglichen Versuchung nachgab, irgendwelchen Musical-Schmalz zu verbraten. Die Musik ist witzig, vielfältig, präzise, aber nie billig. Sie wirbelt mit Themen für die einzelnen Figuren und Stimmungen wild umher und langweilt keinen Augenblick.
Ähnlich gelungen ist die Choreografie von Christopher Wheeldon in einer wild-bunten, der Absurdität witzig Rechnung tragenden Ausstattung von Bob Crowley. Dass man Handlungsdetails des Werks auf der Bühne nicht folgen kann, wenn man das Werk nicht unmittelbar im Kopf hat, stört nicht – auch als Unterhaltung pur funktioniert der Abend, der mit drei Akten und zwei Pausen nur ein bißchen zu lang geraten ist. Und Kinder möglicherweise durch die generöse Fülle von Gags, die hier verstreut werden, überfordert. Schließlich scheinen Figuren und Handlung im Minutentakt zu wechseln…
Weil ein Ballett natürlich eine Liebesgeschichte braucht, ist Alice hier kein kleines Mädchen (wie in den berühmten Illustrationen des Buches), sondern ein Teenager-Mädchen, das sich in der Rahmenhandlung schon in den Gärtnerburschen verlieben kann, der ihr dann im „Wunderland“ als ihr Herzbube wieder begegnet. Die Geschichte beginnt in den 1860er Jahren (als das Buch erschien), bei einer Gartenparty der Familie von Alice. Zu Gast ist auch Lewis Carroll, der sie und ihre Schwestern fotografiert. Tatsächlich war Carroll auch als Fotograf bekannt, und in Zeiten von #metoo wurde er auch verdächtigt, zu gerne kleine Mädchen abgelichtet zu haben… Aber dieser hässliche Aspekt (so er denn wahr ist) kommt glücklicherweise nicht vor.
Vielmehr verwandelt sich Carroll in das weiße Kaninchen, das Alice durch die Wunderwelt führt, sobald sie – mit Hilfe digitaler Künste – durch das Loch des Hasenbaus gefallen ist. Und los geht es mit den wilden Turbulenzen. Sehr hübsch die Idee des Epilogs – da sind Alice und ihr Gärtnerfreund nämlich dann junge Leute von heute, die Carroll bitten, sie mit ihrem Handy zu fotografieren. Und als sie davon laufen und das Buch zurück lassen, über dessen Lektüre Alice offenbar eingeschlafen ist, nimmt es Lewis Carroll so interessiert zur Hand – als hätte er es nicht selbst geschrieben… Eine würdige absurde Wendung am Ende.
In Francesca Hayward hatte der Abend eine zauberhafte Alice, aber man muss zugeben, dass Lauren Cuthbertson (2011 die Alice der Premiere) in der Rolle der durch und durch zickigen Herzkönigin im dritten Akt die Show stahl und ironisch und tänzerisch brillant die Höhepunkte des Abends lieferte. Köstlich Steven Mcrae als der Hutmacher, der immer wieder herrliche Stepptanz-Einlagen lieferte, ein tadelloser „Prinz“ war William Bracewell, liebenswert Luca Acri als Lewis Carroll und vor allem als weißes Kaninchen. Aus der berühmten „Grinsekatze“ hat man keine Rolle, sondern einen Gag gemacht – sie erscheint als Riesenvieh, das in die vielen Tänzer „zerfällt“, die in ihrem Körper stecken. Sie wirkt übrigens (wie auch die Herzkönigin) durchaus bedrohlich: Das gehört bei Märchen ja dazu…
Demnächst stehen aus London noch bekanntere Klassiker im Kino bevor: „Cinderella“ (10. Dezember 2024), „Der Nußknacker“ (17. Dezember 2024) und „Schwanensee“ (25. März 2025). Angesichts der Qualität der Londoner Produktionen sollte sich dafür eine Menge Wiener Publikum finden, das dem klassischen Tanz zugeneigt ist.
Renate Wagner