London / Royal Opera House: ROMEO UND JULIA – Film 22.03.2012
Dank der Übertragung in zahlreiche deutsche Kinos kann man an den besonderen Aufführungen des Royal Opera House teilnehmen, ohne den Wohnort zu verlassen. Das neue Rundkino in Dresden hat sich unter Musikfreunden mit den Live-Übertragungen herausragender Opern- und Ballettaufführungen bereits einen Namen gemacht. Jetzt stand Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“ auf dem Programm, ein Ballett, dass zum Klassiker geworden ist und sich großer Beliebtheit erfreut, nicht nur wegen Shakespeares bekannter und viel zitierter Liebesgeschichte, sondern vor allem auch wegen der eigenwillig-modernen und doch so eingängigen Musik. In der ungewöhnlich faszinierenden Choreografie von Kenneth Mac Millan präsentierte hier eines der renommiertesten Ballett-Ensembles der Welt, The Royal Ballet, sein großes Können.
Es war Mac Millans erste abendfüllende Ballettproduktion, die 1965 Premiere hatte und bis heute nichts an Reiz und Eindringlichkeit verloren hat. Sie gehört noch immer zu den weltweit bekanntesten Aufführungen des Royal Ballet. Die Einmaligkeit dieser Choreografie besteht vor allem darin, dass die Tänzerinnen und Tänzer quasi „zweigeteilt“ agieren. Die tänzerische Seite konzentriert sich vorrangig auf die intensive „Arbeit“ der Beine und Füße, mit viel Spitze bei den Damen und klassischen Elementen wie Pirouetten und Sprüngen bei den Herren, aber der klassische Tanz wird aufgebrochen. Die Hebefiguren erfahren durch starke Drehungen eine neuartige Wendung. In besonders zugespitzten Situationen der Handlung enden sie ungewöhnlich ausdrucksstark in „Kopfüber“-Figuren. Die Schlussszene, bei der sich Julia selbst tötet und sich dann schmerzvoll über den Altar der Familiengruft schleppt, um sich in einmaliger Pose über ihren toten Partner zu „beugen“, den sie nicht mehr erreicht, gehört bis heute zu den erschütterndsten choreografischen Szenen des Balletts.
Mit Oberkörper und Kopf agieren die Tanzenden als „Schauspieler“ und bringen große Dramatik und emotionale Tiefe zum Ausdruck, die der Zuschauer durch die Nahaufnahmen im Film besonders „hautnah“ erleben kann, wahrscheinlich noch besser als auf den meisten Plätzen des schönen Jugenstil-Opernhauses, wo – wie in jedem Opernhaus – nur die vorderen Parkettreihen in diesen Genuss kommen (oder die Besucher mit einem guten Opernglas). Hier wird das Handlungsballett zum Psychodrama voller Emotionalität und Hingabe an den Tanz.
Diese Ballettproduktion wurde im Royal Opera House schon über 400 Mal aufgeführt, aber sie ist immer wieder einzigartig, da bei jeder Aufführung ein großer Anteil an Improvisation – vor allem in der Darstellung – Teil der Choreografie ist. Die Tänzer erfinden ihre Rollen jedes Mal neu, so dass es keine streotypen, sondern vor allem leidenschaftliche Bewegungen gibt und die Handung an Unmittelbarkeit gewinnt. Umrahmt von großen Massenszenen mit einem Großaufgebot an Darstellern, voller Farbenpracht und Leben auf dem Marktplatz, wo sich die Machtkämpfe zwischen den beiden verfeindeten adligen Familien abspielen, baut sich in drei großartigen „Pas de deux“ in eindrucksvoller Weise eine große emotionale Spannung auf, die in der Begegnung im Ballsaal, der Balkonszene und dem legendären Morgen nach der heimlichen Hochzeit der Realitätsflucht der beiden Liebenden, die ausbrechen und in ihre eigene Welt flüchten möchten, Ausdruck verleiht.In diesem großartig angelegten Kontrast entwickelt sich langsam, aber unerbittlich die Tragödie. Aufregende, hochdramatische Fechtszenen zum Mitfiebern, erhöhen in minutiöser Übereinstimmung mit der Musik und erstaunlicher Balance zwischen Action und Tanz die Spannung. Und es gibt auch kleine humorvolle Szenen mit Situationskomik, die die Handlung auflockern.
Mit den beiden Hauptprotagnisten Federico Bonelli, einem der derzeit herausragenden klassischen Tänzer, der seit 2003 Solist des Royal Ballett ist, und der vielfach ausgezeichneten Solotänzerin dieser Ballettcompanie Lauren Cuthbertson verkörperten zwei großartige Künstler das klassische Liebespaar, wie sie besser und geeigneter für diese Rollen kaum gefunden werden können.
In einem darstellerisch und tänzerisch großartigen wie berührenden Wandel vom unschuldigen, fröhlichen und noch ahnungslosen jungen Mädchen, das mit der immer freundlichen, liebevollen Amme (Tara-Brigitte Bhavnani) scherzt, zur jungen Frau, die die große Leidenschaft der ersten großen Liebe erfährt und tragisch endet, zog die wunderbare Lauren Cuthbertson nicht nur die Blicke auf sich, sondern unwillkürlich auch entsprechendes Mitgefühl – nicht nur eine meisterhafte, tänzerische Glanzleistung, sondern vor allem auch eine darstellerische, die aus dem tänzerischen Element erwächst.
Federico Bonelli als Romeo war ein großartiger Partner und Sympathieträger, der die Wandlung vom jugendlich ungekümmerten, lebenslustigen „Frauenhelden“ zum aufrichtig und wahrhaft Liebenden durchlebt und schließlich durchleidet.
Als gesetzter Gegenspieler zu diesem leidenschaftlich liebenden Paar vermochte Valeri Hristov als Graf Paris mit, der Rolle verpflichteter, aristokratischer Haltung und beherrschtem Gesicht sehr viel auszudrücken.
Die das Geschehen ergänzenden Tänzer-Darsteller waren typgerecht ausgewählt: Alexander Campbell als Mecutio, Bennet Gartside als Tybalt, Dawid Trzensimiech als Benvolio, Christina Arestis und Christopher Saunders als Gräfin und Graf Capulet, Sian Murphy als Gräfin Montague und Christopher Newton nicht nur als Graf Montague, sondern auch als Pater Lorenzo, Gary Avis als Herzog von Verona und nicht zuletzt die mit der Leichtigkeit einer Gazelle tanzende Itziae Mendizibal, neben Laura Mcculloch und Samantha Raine, eine der drei Huren und (vorübergehende) Freundin Romeos.
Bühnenbild und Kostüme scheinen Renaissance-Gemälden entlehnt zu sein. Sie sind da angesiedelt, wo die Handlung im Shakespeareschen Original spielt. Die Kulissen treten (zumindest auf der Filmleinwand) optisch in den Hintergrund, da für die beiden Liebenden die Welt um sie herum versinkt. Dass die Balkonszene auf der Treppe spielt, gestattet die künstlerische Freiheit. Schließlich bietet diese Version mehr Möglichkeiten für die optische und tänzerische Umsetzung.
Ein sehr gutes und klangschönes Fundament bildete das Orchester des Roal Opera House unter der Leitung von Barry Wordsworth, einem der profiliertesten Dirigenten der Ballettwelt. Mit genau richtigem Tempo und selbst im Fortissimo nie hart oder grell werdend, vermochte es auch große Temperamentsausbrüche und hochdramatische Situationen einringlich zum Ausdruck zu bringen.
Es war ein großer Ballett- und Theaterabend, der nicht nur durch Schönheit, Farbigkeit und Detailtreue der stilechten Kostüme bestach, sondern vor allem durch die tänzerischen und schauspielerischen Leistungen der Tanzenden – eine Aufführung, die berührte und erschütterte.
Dass bei dieser Übertragung kein Pausenprogramm (wie bei der Met) übertragen wurde, führte zu unfreiwilliger Komik. Eine Besucherin, die zufällig lange vor der in den Zuschauerraum gerichteten Kamera stand, verfiel mehrmals in herzhaftes, ungeniertes Gähnen, ganz im Widerspruch zu der äußerst spannend gestalteten Balletthandlung.
Ingrid Gerk